14.05.2015
68. Filmfestspiele Cannes 2015

Unter dem Palais liegt der Strand

Mad Max
Mad Max weckt den Cowboy im Manne und Retro-Gefühle auf Heavy Metal
(Foto: Warner Bros.)

Rüdiger Suchslands komplette Tagebücher des diesjährigen Festivales in Cannes

Von Rüdiger Suchsland

1. Folge – 12/05/2015 Im rasenden Still­stand – Das Festival eröffnet mit La Tete Haute, aber der wahre Eröff­nungs­film heißt Mad Max
2. Folge 14.05.2015
Die Liebe zu Catherine Deneuve ist die Liebe zur Republik – Weichet nur, betrübte Schatten: Der umstrit­tene Eröff­nungs­film
3. Folge 14.05.2015
»Never negotiate! Never vote! Take arms, when necessary!« Wo es eine neue Tyrannei gibt, da wird es auch neuen Anar­chismus geben
4. Folge 15.05.2015
Das bessere Kino? Wie der Fluch gebrochen wurde: Fußball­kunst und Krit­ker­hand­werk
5. Folge 16.05.2015
Grotesken und Burlesken gegen die Kraft der Bilder – Im Zauber­berg von Cannes: Drei italie­ni­sche Beiträge an der Croisette
6. Folge 17.05.2015
Doch die Pracht hat hässliche Flecken... – Regeln und Regel­bruch: Freiheit als Thema bei Todd Haynes und Yorgos Lanthimos
7. Folge 18.05.2015
Kino der Unge­wiss­heit: Inten­sität, Neugier, Miss­trauen, Gerede und Vermu­tungen
8. Folge 19.05.2015
Der Irrsinn im Herz des Kapi­ta­lismus – High Heels, Stroh­frauen und die Zins­knecht­schaft
9. Folge 21.05.2015
Der lange Weg nach Westen – Scharfes Schwert und schwaches Herz: Der Richard-Gere-Buddhismus des Westens und das neue Nirwana-Kino
10. Folge 23.05.2015
»Film ist wie Wein, man weiß nie, was heraus­kommt« – Trocken­eis­kino, Schmuddel-Shake­speare und erste Bilanz­ge­danken
11. Folge 24.05.2015
Sinnliche Erfahrung, Sozi­al­kitsch und Mord-Alltags – Goldene Palme für fran­zö­si­sches Einwan­de­rer­me­lo­drama und der Ungar Laszló Nemes gewinnt den »Grand Prix« in Cannes, ein Streifzug zum Abschluß des dies­jäh­rigen Festivals

1. Folge – 12/05/2015
Im rasenden Still­stand – Das Festival eröffnet mit La Tete Haute, aber der wahre Eröff­nungs­film heißt Mad Max

Heute Abend eröffnet das Film­fes­tival von Cannes seine 68. Ausgabe. Im Wett­be­werb laufen siebzehn Filme. Viele große Namen finden sich auch in den drei Nebensek­tionen oder unter den Filmen außerhalb des Wett­be­werbs.
Eröffnet wurde mit La tête haute der Französin Emma­nu­elle Bercaut. In der Haupt­rolle: Catherine Deneuve – die spielt eine Jugend­rich­terin, die sich besonders um einen sehr schwie­rigen Jungen kümmert, über einen Zeitraum von zehn Jahren. Ein Film, der auch eine Menge über das gegen­wär­tige Frank­reich erzählt.
Ein unge­wöhn­li­cher Eröff­nungs­film – ernsthaft, engagiert, kaum glamourös.

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Der wahre Eröff­nungs­film ist aber Mad Max – Fury Road. Der nun vierte Teil des legen­dären austra­li­schen Kult­spek­ta­kels erlebt 35 Jahre nach dem aller­ersten Mad Max seine Euro­pa­pre­miere morgen Abend. Wir konnten ihn schon sehen.

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Es kracht. Es wummert. Es prügelt auf die Ohren. Der Kinosaal erzittert unter Heavy-Metal-Bässen – ohren­be­täu­bend laut dröhnen auch die Motoren von wild ausse­henden, phan­ta­sie­voll zusam­men­gehäm­merten Metall­ka­rossen, in deren Innen­leben offenbar nimmer­müde Perfek­ti­ons­ma­schinen den Kompres­soren-Takt schlagen. Manche sehen aus wie Riesen­igel auf Rädern, andere wie feuer­spei­ende Drachen, oder wie mittel­al­ter­liche Kampf­ma­schinen. Und eine wirkt gar wie ein eiserner Tyran­no­saurus Rex, dessen Maul ein Bagger ist, der bei voller Fahrt bomben­trich­ter­große Löcher in die Fahrzeuge der Feinde reißt. Diese Höllen­geräte rasen in exzes­siven Verfol­gungs­jagden zwei Stunden lang um die Wette – durch die Wüste einer post­apo­ka­lyp­tisch kaputten Erde, in der das Wasser offenbar knapper ist als das Benzin.
In diesen Fahr­zeugen sitzen Leute, deren Outfit mit seinen Leder­nie­ten­ja­cken und Tatoos, gepiercter und gebran­deter Haut, mal mit Glatze, mal mit Zottel­haar an Skinhead-Banden und Rocker-Gangs erinnert – Hell’s Angels sind sie sowieso alle. Es ist eine analoge Welt, ohne Medien, dafür ölver­schmiert, eine neue Eisenzeit mit lauter damp­fenden, rostenden Maschinen.

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Mad Max ist also zurück – 30 Jahre nach dem letzten Teil der Saga erlebt der neue Film seine Euro­pa­pre­miere auf dem Film­fes­tival von Cannes.
Was wir da auf der Leinwand sehen, das erfüllt alle Erwar­tungen, die man an einen Film wie diesen hegen kann: Visueller und emotio­naler Exzeß, Exploita­tion-Unter­leibs­kino, nahe an anderen Ausnah­me­zu­ständen unserer verwal­teten Welt, wie wir sie aus Karneval, Aben­teu­er­ur­laub und Dschun­gel­camp-Fernsehen kennen.

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Alle Mad Max-Filme sind eine Art Zukunfts­wes­tern, in dem statt der Reit­pferde hoch­ge­trimmte Auto­ka­rossen als Fort­be­we­gungs­mittel dienen. Aber es gelten die gleichen Gesetze: Männer­posen, Über­le­bens­in­stinkt und das Faust­recht der Freiheit – recht bekommt, wer schneller zieht und besser zielt.

Der Film beginnt damit, dass der Titelheld – gespielt vom blendend ausse­henden, auch sonst über­zeu­genden Briten Tom Hardy – von einer Horde weiß­ge­schminkter, glatz­köp­figer Krieger gefangen und versklavt wird. Diese Endzeit­zi­vi­li­sa­tion hat irgend­wann nach dem Welt­un­ter­gang ein archaisch-strenges Regiment errichtet – eine barba­ri­sche Despotie mit Autos, Stahl­ketten und Feuer­waffen.

Man haust in einer Zitadelle, Seuchen und Wasser­knapp­heit plagen das Volk. Der Herrscher hat eine Toten­schä­del­maske und gleich fünf Frauen, mit denen er einen Sohn und Erben zeugen will. Diese Fünf wirken mit ihren perfekten Figuren wie von einem anderen Stern gefallen. Eines Tages fliehen sie, angeführt von einer von Amazonen-Kriegerin, und entwi­ckeln gemeinsam mit Mad Max bald erstaun­liche Über­le­bens­fähig­keiten..

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Von nun an ist dieser Film nichts als eine rasende, wilde Jagd – einmal hin und dann wieder zurück durch die Wüste. Mad Max – Fury Road ist purer Karneval: Voller Freude am Über­schuss findet man hier allerlei Elemente einer sehr direkten, vergnüg­li­chen Volks­kultur, die sich in diesem Film zur Gegen­kultur weiter­ent­wi­ckelt: Zu einer anar­chis­ti­schen, aber nie todernsten Heraus­for­de­rung des »guten Geschmacks«. So sehen wir grotesk verän­derte Körper, die mit Tatoos übersät sind, wir sehen fette nackte Weiber, die wie Milchkühe gemolken werden, wir sehen Zwerge als Statt­halter des Herr­schers, kindliche Knaben als Wächter und glatz­köp­fige Albinos als Krieger. Das Volk haust verlot­tert im Schmutz, es giert nach Wasser und Unter­hal­tung.

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Mad Max – Fury Road ist also pures eska­pis­ti­sches Enter­tain­ment, und als solches sehr geglückt. Es ist aber auch, was man nicht wahrhaben will: Subtile Zeit-Diagnose unserer eigenen Post-Histoire. Dieser Film hält uns den Spiegel vor: Er zeigt unsere eigenen verdrängten Gelüste und eine Schmud­del­va­ri­ante unserer Welt des neoli­be­ralen, rasenden Still­stands. Unter unseren weichen Compu­ter­be­dien­ober­flächen liegt die harte eiserne Zukunft.

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Und auch Cannes, dieser groß­ar­tige Märchenort an der Cote d’Azur, erzählt Ähnliches: Unter dem Festi­val­pa­lais von Cannes, da liegt der Strand.

2. Folge 14.05.2015
Die Liebe zu Catherine Deneuve ist die Liebe zur Republik – Weichet nur, betrübte Schatten: Der umstrit­tene Eröff­nungs­film

Catherine Deneuve an sich ist ja schon Grund genug, dass einem ein Film sympa­thisch ist. Wenn die Deneuve aber auch noch quasi die ganze fran­zö­si­sche Republik verkör­pert, den Glauben an Vernunft und Gerech­tig­keit und die Herr­schaft von Freiheit, Gleich­heit, Brüder­lich­keit – was könnte es da noch zu meckern geben?

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»Ich bin nicht die Polizei und sie sind nicht vor Gericht.« – das sind so in etwa die ersten Worte, die in diesem Film fallen. Die Kamera ist nahe dran an den Figuren, sie zeigt eine Mutter, sie zeigt das kleine Kind, die Spre­cherin aus dem Off. Ein heftiger Streit vor dem Kind endet damit, dass die Mutter den Raum verlässt. Das Kind guckt mit großen Augen zu. Eine tolle Szene. Wir werden die Mutter noch oft so erleben: Hyste­risch, über­for­dert, immer das Falsche tuend. Sara Forestier spielt diese Mutter, die man in anderen Zusam­men­hängen einfach eine dumme Nuss nennen würde. Die Jugend­rich­terin, die sich besonders um diesen sehr schwie­rigen Jungen kümmert, spielt Catherine Deneuve. Das ist auf den ersten Blick etwas über­ra­schend, funk­tio­niert dann aber gut.
Die Haupt­figur aber ist Malony, der Junge der am Anfang gerade sechs ist, und dessen Karriere durch die Insti­tu­tionen von Kinder­für­sorge und Justiz der Film verfolgt. »La Tete Haute«, der dies­jäh­rige Eröff­nungs­film von der Französin Emma­nu­elle Bercaut (erst der zweite Eröff­nungs­film von einer Frau in der Festi­val­ge­schichte) ist eine Achter­bahn­fahrt, oft mise­ra­bi­lis­tisch, mit viele Rück­schlägen, nur gele­gent­lich von kleinen Erfolgen gekrönt. Im Zentrum steht das letzte Jahr in dem Malony noch unters Jugend­straf­recht fällt, zwischen 15 und 16. Hier muss er die Kurve kriegen, irgendwie ein solides Leben führen können, sonst droht unwei­ger­lich das Gefängnis.

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Statt­dessen kommt Malony in ein Heim irgendwo in der Natur fern der Großstadt. Dort kann er Fußball­spielen und schreiben üben, und bei gemein­samer Arbeit erste Schritte in die Norma­lität tun. Das geht mal wieder schief, doch zugleich lernen wir Malony näher kennen. Wir sehen, wie er nicht in der Lage ist, auch nur einen Satz auf ein Papier zu schreiben, wie er Stunden braucht, um unle­ser­li­ches Gekrakel zu produ­zieren. Wir sehen, wieviel Mühe sich die Lehrerin trotzdem gibt. Wir sehen, wie Malony seine Aggres­sionen nicht kontrol­lieren kann, wir sehen, wie er in der Dorfdisko nicht einmal in der Lage ist, ein Mädchen zu küssen, ohne sie dann »Schlampe« zu nennen. Wir sehen, kurz gesagt, wie kaputt dieser Junge ist, und begreifen, auch gegen unseren Willen, wie in solchen Fällen ein paar Probleme liegen könnten.

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Zumindest bei mir gab es Wider­s­tände. Ich dachte während des Films mehr als einmal: Wieso muss ich stun­den­lang einem großmäu­ligen, nägel­kau­enden Versager dabei zuschauen, wie er dauernd Scheiße baut, Autos knackt, sinnlos sich selbst und andere gefährdet, und sich dabei scheinbar noch toll vorkommt?
Das stimmt auch leider alles. Zugleich aber über­windet man derartige Vorur­teile beim Zuschauen aber schon.

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Man kann diesem Film so einiges vorwerfen: Mitunter ist er fast eine Komödie über Unter­schichten, eine sozial-realis­ti­sche Häss­lich­keits­feier, die sich mokiert, die – unfrei­wil­lige? – Lacher provo­ziert. Etwa wenn ein Acht­jäh­riger noch einen Schnuller im Mund trägt. Oder wenn die Mami wieder mal mit einem neuen Freund aufkreuzt. Oder wenn mit Malony schon alles schief­ge­gangen ist und seine Freundin ihm dann auch noch eröffnet: »Ich bin schwanger.«
Der Blick kommt zu oft von oben herab, dies ist ein bour­goises Filme­ma­chen, das vom Prole­ta­riat, von dem er handelt, vor allem Erwart­bares zeigt.
Und doch: Er zeigt etwas. Er ist engagiert. Und er bricht auch mit Erwar­tungen.

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Irgend­wann hörte ich den Einwand, dies sei ein Propa­gan­da­film pro Francois Hollande. Davon mal abgesehen, dass es glaube ich, Schlim­meres gibt, als drei Monate nach Charlie Hebdo und zwischen der ganzen Menschen­ver­ach­tung und den Zynismen der schwarzen Hälfte des gegen­wär­tigen Autoren­kinos auch mal etwas Huma­nis­ti­sches zu zeigen, und einen Film, der Hollande nicht der Lächer­lich­keit preisgibt, sich nicht in billiger Anti­po­litik suhlt, davon also abgesehen, ist La Tete Haute eine zum Teil bittere, unbequeme Selbst­re­fle­xion Frank­reichs und der erodie­renden Sozi­al­sys­teme im Westen. Es wird klar: Die Sozi­al­ar­beiter sollen den miss­ra­tenen Kids Jobs geben, aber es gibt keine Jobs.
Zudem ist Malony so sympa­thisch nicht. Man muss schon etwas engstirnig sein, wenn man als Zuschauer hier nicht mal auf die Frage kommt, ob es das eigent­lich wirklich wert ist, zuerst 230 Euro am Tag, später als Belohnung für weiteres Versagen gar 800 Euro am Tag (die Zahlen fallen so in dem Film, ich habe sie aber nicht überprüft) auszu­geben? Viel­leicht sollte man Malony einfach in ein Loch werfen, und das Geld sinn­voller ausgeben?
Auch solche Debatten erstickt der Film nicht, er ermutigt sie.

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Der Film bietet keine einfachen Antworten auf all dies. Er sugge­riert keine Patent­re­zepte, keine Katharsis. Die Haupt­figur bleibt flirrend, unbe­re­chenbar, agiert nicht logisch und gerade darum psycho­lo­gisch triftig.

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Ich habe auch den Einwand gehört, Frank­reich habe doch ganz andere Probleme. Der Film sei verlogen, weil er sich »der Einwan­de­rer­pro­ble­matik« nicht stelle. Das ist falsch, er stellt sich dem nämlich schon, nur anders als es manche gern hätten.
La Tete Haute ist politisch, weil er zeigt, dass es auch krimi­nelle weiße Jugend­liche gibt, weil er argu­men­tiert, dass Frank­reich (und Europa) ein Klas­sen­pro­blem haben, kein Rassen­pro­blem. Und schon gar kein Reli­gi­ons­pro­blem. Religion kommt in diesem Film einfach mal gar nicht vor – eine große Erleich­te­rung.

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Der Musik­ein­satz ist tenden­ziell etwas zu »groß« – gleich dreimal kommt das Piano-Trio Op. 100 von Schubert. Das ist von Kino schon ander­weitig »besetzt« und wirkt schon deshalb hier deplat­ziert.
Was aber super ist, ist das musi­ka­li­sche Pathos der Schlußszene: Als am Ende dann Malony mit seinem Kind auf dem Arm das Zimmer der Richterin zum letzten Mal verläßt, wir ihm von hinten folgen, wenn er langsam Treppe um Treppe hinunter zum Ausgang geht (und ein wenig bangen, ob der Tauge­nichts auch nicht stolpert, und das Baby fallen lässt), und sich dann, als er durch die Tür ins sonnige Freie tritt, und wir über der Pforte »Palais de la Justice« lesen und am linken Rand die Tricolore weht, dann erklingt der Bach­choral »Weichet nur betrübte Schatten«.

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Man kann auch hier wieder schnell schreien: Kitsch! Teilweise stimmt das, ein wenig ist das Urteil aber auch über­trieben und zu harsch. Denn wenn man Ken Loach seit vier Jahr­zehnten sein Revo­lu­ti­ons­getue, seinen ange­schminkten Trotz­kismus und das Mora­li­sieren verzeiht, und Mike Leigh seinen Sozi­al­kitsch, und beiden das ganze Pathos, warum darf dann ein Film nicht auch mal pro-repu­bli­ka­ni­schen Kitsch machen?
Emma­nu­elle Bercauts Film ist einmal ein überaus unge­wöhn­li­cher Eröff­nungs­film: So ernsthaft, engagiert, und wenig glamourös sind Festi­valeröff­nungen selten.

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Gibt es wirklich nur die Alter­na­tive: Cheesy-Huma­nismus oder grin­sender-Nihi­lismus? Ich hoffe doch nicht. Aber wir müssen etwas verändern, das beweist der Film, müssen uns und unsere Politik neu erfinden: Nur eine neue liberale Linke, kann uns retten, eine medi­ter­rane Linke, die Enga­ge­ment und Ironie, Hedo­nismus und Verstand versöhnt, die anti-puri­ta­nisch und libertär ist, indi­vi­dua­lis­tisch und exzessiv.
Auf der Poli­zei­sta­tion auf der Ecke sind die Wände besprayt. Ein Poli­zei­auto hat eine fette Delle, die offen­sicht­lich von Fußtritten stammt. Malony war auch in Cannes schon da.

3. Folge 14.05.2015
»Never negotiate! Never vote! Take arms, when necessary!« Wo es eine neue Tyrannei gibt, da wird es auch neuen Anar­chismus geben

»I didn’t come for glory, I have come for danger.«
Victor Hugo

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Vor zwei Jahren gewann Adèle Exar­cho­poulos eine Goldene Palme. Sie persön­lich, als Darstel­lerin der Adèle in Blau ist eine warme Farbe, gemeinsam mit ihrer Lein­wand­part­nerin Lea Sedoux. Jetzt ist sie zurück an der Croisette, aber nicht im Wett­be­werb sondern im Eröff­nungs­film der »Semaine de la Critique«, und diesmal an der Seite von Tahar Rahim, der vor wenigen Jahren ebenfalls im Wett­be­werb knapp an der Goldenen Palme vorbei­schrammte, als Haupt­dar­steller von Jacques Audiards Ein Prophet.
Wenn beide jetzt in einer auch räumlich abge­le­genen Nebensek­tion laufen, dann erzählt uns das nicht allein etwas darüber, wie schnell der Palmen-Ruhm verblassen kann, allemal für Schau­spieler, die eben doch eher Material sind, sondern auch darüber, wie reich­haltig das Kino Frank­reichs ist, und wie breit die Qualität dieses Festivals.

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Eröffnet wird natürlich nicht nur der Festival-Wett­be­werb. Jede Nebensek­tion hat ihre eigene kleine Eröffnung, zumeist einen Tag später. »Un Certain Regard« eröffnete mit An, dem neuen Film der Japanerin Naomi Kawase, auf den wir noch kommen werden, und die »Quinzaine« mit Phillippe Garrels Film L’Ombre des Femmes, den ich leider verpassen musste. Dafür habe ich mir nach langer Zeit mal wieder eine Eröffnung der »Semaine de la Critique« angeguckt, mit Adèle Exar­cho­poulos in der Haupt­rolle und einem viel­ver­spre­chenden Titel: Les Anar­chistes. Den habe ich gern gesehen. Es ist kein perfekter Film, aber ein ange­nehmer, ener­gie­ge­la­dener, der ist, was er ist, dazu steht und sich nicht wichtiger nimmt, als nötig.

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Dabei wäre ich beinahe nicht rein­ge­kommen: Denn es gab riesige Schlangen, das eher kleine Kino im »Miramar« hätte dreimal gefüllt werden können. Als ich am Eingang die Mitar­beiter der Semaine anspreche, ob sie mir einen Gefallen tun könnten – einmal weil ich nett frage, und dann weil ich schließ­lich 12 Jahre als Deutsch­land-Korre­spon­dent der Sektion gear­beitet habe, ist man freund­lich, muss aber ablehnen, und verweist mich an den Pres­se­agenten des Films.
Und der ist nicht nur mit meiner Frage sondern auch den Nach­fragen anderer Kollegen und der ganzen Situation von Anfang an über­for­dert. Die ganze Zeit geht es in seinem abweh­renden Gerede nur um ihn selber: »Schauen Sie MICH nicht so an.« – »What do you want from ME?« – »Why do you ask ME, when you alreaedy know the answer?« – »Why do you give ME that look? As you were the most miserable person on earth?« – »I am here for you guys.« Und so weiter.
Ich reiße mich zusammen, sage ihm, ich wolle ja nur freund­lich fragen, aber das werde er ja noch verstehen, meint er »I am doing this job for 15 years«. Ich denke »15 Jahre zu lang.« Und als der Pres­se­agent dann auch noch von Quinzaine redet, erlaube ich mir, ihn darauf hinzu­weisen, dass wir in der Semaine sind. Er daraufhin: »Are you still beeing friendly.«
So geht’s fast eine Stunde lang. Dabei muss man es mal ausspre­chen: Wer schreibt schon über die Semaine? Wie soll man auch, bei solchen Pres­se­agenten? Da muss sich die Semaine etwas mehr Mühe geben, sonst macht man den weiten Weg an das andere Ende Stadt irgend­wann gar nicht mehr.

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Natürlich kann man sagen: wer schon in einen Film gehen will, der von Anar­chisten erzählt, sollte sich viel­leicht mit solchen Heinis gar nicht angeben, sondern einfach den Saal stürmen. Gemeinsam hätte das auch hinge­hauen. Aber die Jugend von heute ist anders und lässt sich lieber nach Hause schicken. So wird das nichts mehr mit der Verbes­se­rung der Verhält­nisse.

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Immerhin bin ich dann doch noch rein­ge­kommen, nach meinem Eindruck als Aller­letzter. Ich saß in der ersten Reihe, und konnte gut sehen.
Zuerst einmal wurde die Sektion eröffnet. Lange Reden. Über 2900 Filme habe man gesehen, und dann ein Sermon: »pertin­ance and depen­dance ... contem­po­rary world ... questions enleve des choses.«

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Alles spielt 1899 und beruht zwar im ganz Allge­meinen auf Histo­ri­schem, ist aber im Konkreten voll­kommen fiktiv. Zugleich spielt er mit der Wahr­heits­frage: Denn der sehr coole, poppige Titel­vor­spann zeigt die Darstel­ler­namen und dann immer dazu scheinbar histo­ri­sche Bilder.
Der Film des Franzosen Eli Wajmann ist auch eine Verräter-Geschichte. Im Zentrum Jean, ein Polizist, dessen Vater 1871 ein Kommu­narde war. Sein Vorge­setzter setzt ihn darauf an, eine anar­chis­ti­sche Gruppe zu infil­trieren. Warum? fragt er. »weil Du Vertrauen erzeugst.« Für Jean ist das eine einmalige Aufstiegs­chance, die er mit beiden Händen ergreift. Er verlässt seine Freundin, eine Dienst­magd, mit der Begrün­dung, er wolle nicht mehr »leben wie Les mise­ra­bles«. Das Zitat ist plausibel, weil erwähnt wird, dass er von Victor Hugo erzogen worden sei.
»Ich bekam ein Angebot, dass ich nicht ablehnen kann. Tut mir leid.« – »Nein, dir tut nichts leid – Du wirst schlecht enden.«

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Formal ist Alles ein konven­tio­neller Kostüm­film, mit hervor­ra­gender Kamera und exzel­lenten Darstel­lern. Der ziemlich aufwendig insze­nierte Film zeigt das Paris um 1900 plausibel, zeigt Arbeits­be­din­gungen, Fabriken und den Lärm, der dort herrschte. Warum macht man so etwas nicht bei uns? Dann aber auch die Bildung der Arbeiter, und die aus heutiger Sicht sehr braven anar­chis­ti­schen Salons. Wajmann zeigt Pathos und Idea­lismus. Damals ging Politik auf Leben und Tod – das wird sie wieder und das war besser, auch das zeigt der Film.

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Auch auf heutige Verhält­nisse anwendbar sind einige der Film vorkom­menden prak­ti­schen Grund­sätze: »vivre, pas survivre«, »Do not let the pessi­mists crash us.« und »1. Never negotiate! 2. Never vote! 3. Take arms, when necessary« Das ist natürlich alles gerade sehr aus der Mode. Aber jede Mode kommt wieder, alles eine Frage der Zeit.
Auch nett die Behaup­tung, es gibt drei Wege zu leben: Working, begging, stealing.

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Eine Liebes­ge­schichte gibt es natürlich auch. Auf den Satz der von Exar­cho­poulos gespielte Figur der Judith, sie sei nicht frei, antwortet Jean: »That sounds not like what an anarchist would say.« – »What does an anarchist say?« – »Kiss me strong right now! And nothing like that.«
Auf die Frage, warum sie Anar­chistin geworden sei, antwortet die von: »Die Leute glauben, es sei aus Hass gewesen. Aber es war aus Liebe.«

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So lässt der Film das Pathos des Anar­chismus wieder­auf­er­stehen, berührt en passent den Zeitgeist um 1900, Photo­gra­phie und Psycho­the­rapie und die zeitlose Frage, die auch in Woody Allens »Irra­tional Man« eine zentrale Rolle spielt: Wann darf man Gewalt anwenden? Wann töten?

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Hinzu machen auch der Aufstieg von wider­s­tän­digen, demo­kra­tie­s­kep­ti­schen Bewe­gungen und die wachsende Verach­tung für die sich selbst lähmende, in juris­ti­schen Glas­per­len­spiel­chen verfan­gene parla­men­ta­ri­sche Demo­kratie das Thema Anar­chismus attraktiv und aktuell. Der Philosoph Slavoj Zizek behauptet, der Bestand der Demo­kratie sei keines­wegs sicher, in Zukunft drohe eine sanfte, um so nach­hal­ti­gere Diktatur.
Aber wo es eine neue Diktatur und Tyrannei gibt, da wird es auch neuen Anar­chismus geben.

4. Folge 15.05.2015
Das bessere Kino? Wie der Fluch gebrochen wurde: Fußball­kunst und Krit­ker­hand­werk

»Sooner or later, someone pushes back.«
Ein Sklave in »Mad Max – Fury Road«

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Einen verläss­li­chen, in der Orien­tie­rung an Qualität klar über­durch­schnitt­lich guten Quer­schnitt des Festivals, darauf wollen wir die Leser gleich zu Anfang hinweisen, geben zwei inzwi­schen bereits ebenso bewährte, wie unnach­ahm­liche Kriti­ker­spiegel, bei denen ausge­wählte Kollegen mit Punkten oder Kreuzchen Schnell­wer­tungen abgeben. In beiden mache ich auch selber mit. Das ist natürlich eher ein Spiel, freilich ein ernstes, ersetzt auf keinen Fall die echte Film­kritik. Die Beur­tei­lung der Filme mag sich auch im Rückblick nochmal ändern. Aber es gibt allen, die nicht hier sein können, doch eine erste Orien­tie­rung.
Bei critic.de sind es in erster Linie deutsch­spra­chige Kollegen, bei »todas­la­scri­ticas« vom Argen­ti­nier Diego Lerer sind es mehr, die Teil­nehmer sind inter­na­tio­naler verteilt, auch wenn die aller­meisten aus Spanien und Latein­ame­rika kommen, also spanische Mutter­sprachler sind. Und einzelne sind hier auch gar keine Film­kri­tiker.

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Wie diese beiden Kriti­ker­spiegel, so hat sich in den letzten Jahren noch ein zweites Ritual einge­bür­gert: Die Wette auf die Goldene Palme, 5 Euro in den Topf, the winner takes it all. Getippt wird vor Beginn des Wett­be­werbs, ohne dass irgendwer bereits einen Film gesehen hätte, nur nach Papier­form – und ob da dann der einen Vorteil hat, der im Gegensatz zu mir alle Kata­log­texte gelesen hat und alle Trailer angeguckt, das wage ich sehr zu bezwei­feln. Ich mache so etwas – vor dem Film­be­such Kata­log­texte und Pres­se­hefte lesen, oder Trailer angucken – schon deshalb nie, weil ich mir das Erlebnis des ersten Anguckens nicht verderben lassen will.
Hinzu kommt, dass die Kata­log­texte in Cannes dermaßen wenig aussa­ge­kräftig sind, dass man aus ihnen keinerlei Rück­schlüsse auf den Film ziehen kann. Übrigens wird man aus ihnen auch nicht schlau, falls man den Film oder seine zweite Hälfte verpasst hat, und schreiben muss. Wir hatten uns bereits am Dienstag vor dem Festival im »Le Crillon« getroffen, das in den letzten Jahren mein persön­li­ches Stamm­lokal geworden ist – zu meiner großen Freude habe ich aus Dominik Grafs schönem Film Was heißt hier Ende? (der Mitte Juni ins Kino kommt) erfahren, dass es das auch für Michael Althen war. Während ich mir Venedig ohne Michael immer noch nicht richtig vorstellen kann, ist er für mich mit Cannes weit weniger verbunden. Er war in meiner Erin­ne­rung nur zweimal in der Zeit da, seit der ich auch komme. Ich glaub' das alles daher gern mit dem »Crillon«, erinnere mich aber in Bezug auf Cannes trotzdem mehr an unsere gemein­samen Besuche im »Les Petites Artisans«, einem Lokal, das leider inzwi­schen auch verschwunden ist. Es war vor acht Jahren am Abend des DFB-Pokal­fi­nales zwischen Stuttgart und Nürnberg. Nürnberg gewann damals in der Verlän­ge­rung, erfahren haben wir das nur durch regel­mäßig sms-Meldungen von Michael Kollegen Peter Körte.

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Unsere Wette hat diesmal keine klaren Favoriten. Vor einem Jahr lag da Nuri Bilge Ceylan, der dann bekannt­lich gewann, auch wirklich vorn. Direkt gefolgt von Naomi Kawase, dann lange nichts. Diesmal sind die Tips viel breiter gestreut. Fast alle Kollegen haben auf einen anderen Regisseur getippt. Über­ra­schen­der­weise aber keiner auf den Griechen Yorgos Lanthimos – obwohl der doch der neueste Darling des Autoren­kinos ist und auch noch aus dem gerade ange­sag­testen Kunst-Land kommt.
Nur eines scheint nach den Wetten klar: Ein Italiener wird gewinnen! Denn tatsäch­lich entfallen auf Paolo Sorren­tino drei Stimmen. Matteo Garrone und Nanni Moretti werden jeweils noch zweimal getippt. Ich selber tippe eher spontan auf Denis Ville­neuve. Warum kann ich nicht sagen, eher das Bauch­ge­fühl, dass ein Film mit Genre­ele­menten gewinnen wird, wenn die Coen-Brüder in der Jury sitzen.

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Denn an die Jury muss man bei solchen Über­le­gungen natürlich denken. Was werden die wohl entscheiden? Jeden­falls nie das Offen­sicht­liche wäre meine Faust­regel. So wie im letzten Jahr Jane Campion eben nicht »für eine Frau« entschied.
Die Zusam­men­set­zung in diesem Jahr ist inter­es­santer als 2014: Aber wieder keine deutliche Regis­seurs­jury, das war schon öfters schwierig. Neben den Coens sitzt Guillermo del Toro in der Jury, auch ein Genre­lieb­haber. Und Xavier Dolan – der wird sicher nicht für seinen fran­co­ka­na­di­schen Konkur­renten Ville­neuve sein, und ich habe ihn sowieso im Verdacht, ein undis­zi­pli­niertes Jury­mit­glied zu sein. Auch nur so ein Bauch­ge­fühl. Sophie Marceau, Jake Gyllenhal, Sienna Miller, das sind schwie­rige Kandi­daten. Bei aller nost­al­gi­schen Liebe oder zumindest Schwär­merei für die Marceau, die noch immer eine meiner großen Kinotraum­frauen ist. Hoffent­lich gehorchen sie alle den Coens.

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Was beim Blick aufs Wett­be­werbs­pro­gramm schon mal auffällt, ist, dass unter den 17 Filmen drei Italiener laufen. Ist das italie­ni­sche Kino wirklich so gut? Kaum. Und bestimmt nicht besser, als die Japaner. Von denen gibt es auch viele Filme in Cannes, aber nur einen im Wett­be­werb: Hirokazu Kore-eda gehört zu jenen »üblichen Verdäch­tigen« von Cannes, wie auch alle drei italie­ni­schen Filme­ma­cher – Garrone, Moretti, Sorren­tino – haben hier schon große Preise gewonnen.
Warum aber hat es Kiyoshi Kurosawa, den regel­mäßigen Gast in der Sektion »Un Certain Regard« noch nie in den Wett­be­werb geschafft? Und warum läuft dort diesmal auch nicht Naomi Kawase, die doch erst im letzten Jahr einen der stärksten Filme präsen­tierte?
Viele große Namen finden sich diesmal in den drei Nebensek­tionen: Phillippe Garrel, Arnaud Desplechin, Miguel Gomes, Brillante Mendoza, Gaspard Noe, Barbet Schroeder und last not least Apichat­pong Weer­a­see­takul.

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Es ist mein 13. Mal in Cannes und an einem 13. geht es los – hoffent­lich kein böses Omen. Einen Fluch haben wir jeden­falls in diesem Jahr schon mal gründlich gebrochen. Der Dienstag begann nämlich schon gleich mit einem Ereignis, das – soviel ist sicher – viele Filme in seinen Schatten stellt. Denn Fußball ist oft genug das bessere Kino. Gemeinsam mit dem Argen­ti­nier Diego Lerer und der Katalanin Violeta Kovacsics hatte ich mich nämlich zum Fußball­gu­cken verab­redet, für das Cham­pi­ons­le­ague-Halb­fi­nal­rück­spiel des FC Barcelona beim FC Bayern. Muss ich an dieser Stelle noch erwähnen, dass ich für Barcelona war? Genau gesagt: Erstens für Barcelona und zweitens gegen den FC Bayern. Es ist ja schon schwer erträg­lich, wenn sich ein Verein nicht einmal über eine Meis­ter­schaft freuen kann, wenn eine ernst­hafte Trai­ner­dis­kus­sion beginnt, weil die Mann­schaft im Pokal-Halb­fi­nale im Elfme­ter­schießen gegen den Vize­meister ausscheidet. Aber geradezu sektie­re­risch wird es, wenn man nicht begreifen kann, dass der FC Barcelona diesmal die bessere Mann­schaft war, und dass der Spott über »Tiki Taka« halt schlecht kommt, wenn man sich genau durch diese Eleganz und Seelen­ruhe am Ende drei Tore einfängt – weil die Bayern müde wurden.

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Wir schauten das Rückspiel im »Irish Pub« mit seinen groß­ar­tigen großen Fern­se­hern. Wir gucken dort seit Jahren Fußball – freilich mit sehr gemischten Ergeb­nissen, erst recht aus Sicht der Anhänger des FC Barcelona. Immer wieder gewannen an diesem Ort die Falschen, nicht zuletzt die Bayern. »This place is cursed« sagte Jose Luis schon letztes Jahr, als hier Athletico Madrid gegen Barca Meister wurde, und Real die Cham­pi­ons­le­ague gewann. Trotzdem haben wir es noch einmal versucht, und so erlebten wir, wie Barca mit Stil und Größe das frühe 0-1 drehte und am Ende völlig unge­fährdet weiterkam. Nur die FC Bayern-Fans glauben wirklich, dass Bayern die bessere Mann­schaft war, und nur Pech hatte, und der Schieds­richter... und... und... und... – genau: Die vielen Verletzten.

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Das Wetter ist an den ersten Tagen auch großartig, der Hinflug am Dienstag ging fast durch­gängig über klaren Himmel. Jetzt liegen die Tempe­ra­turen zwischen 21 und 29 Grad – alles super, so möchte man immer arbeiten.

5. Folge 16.05.2015
Grotesken und Burlesken gegen die Kraft der Bilder – Im Zauber­berg von Cannes: Drei italie­ni­sche Beiträge an der Croisette

»It gave me a life-lesson: never have a middle seat again! I lost two hours of my life-time. I would have walked out, I knew after 10 minutes, there is nothing to expect.«
Nil Kural, Kriti­kerin von »Milliyet« aus Istanbul, nach dem Film von Matteo Garrone

»Never contra­dict the director!«
Aus: »Mia Madre«

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Was die Italiener sich hier zusam­men­filmen, ist eine Schande, jeden­falls wenn man bedenkt, wofür dieses Land einmal im Kino stand. Was da gegen­wärtig aus einer Film­na­tion kommt, die einst mit Namen wie Rosselini, Visconti, Antonioni und noch Berto­lucci das Kino der Nach­kriegs­zeit bis in die 1970er Jahre prägte, das treibt einem mitunter die Tränen in die Augen.

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Am Anfang dachte ich noch, weil die Kulissen mächtig wackeln, weil alles extrem künstlich und arm ausge­stattet wirkt, der Beginn sei viel­leicht »Film im Film«, hier gehe es mögli­cher­weise darum, die eigene Künst­lich­keit bewusst auszu­stellen. Zumal man am Anfang den miss­lun­genen Auftritt einiger Hofnarren vor einem Fürs­ten­paar erlebt – das Kino als Narren­spiel, oder die Welt als Narren­schiff, so in etwa.
Nichts davon. Alles ernst gemeint, 1:1 und viel natu­ra­lis­ti­scher, als es den Anschein hat. Dafür sieht es aber schon mal nicht gut genug aus, und die Tatsache, dass die Darsteller englisch sprechen, mitunter wie im Fall von Salma Hayek oder Vincent Cassell mit mächtigem Akzent, macht die Sache nicht besser, sondern nur den mit Holly­wood­stars aufge­peppten Euro­pud­ding sicht­barer.

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Ich kann’s natürlich auch höflicher sagen: Wie Mad Max arbeitet sich dieser Film daran ab, alle öden Natu­ra­lismen komplett zu über­schreiten und für unser Zeitalter eine neue Mytho­logie zu etablieren. Im Unter­schied zu Mad Max gelingt ihm das nicht einmal ansatz­weise.
Garrone, der für Gomorrha hoch­ge­lobt wurde, und schon mit  Poetry Ratlo­sig­keit hinter­ließ, aber immerhin heraus­for­derte, scheint als Filme­ma­cher völlig von der Spur abge­kommen. Sein Film, an dem die realen Kulissen verschie­dener Schlösser und Burgen Apuliens mit Abstand das schönste sind, spielt wohl im 17. Jahr­hun­dert (die Kleidung der Leute freilich stammt eher aus dem 16., die Gebäude zum Teil aus dem 13.). Er ist überaus schwer zu defi­nieren. Objektiv handelt es sich um die Verschmel­zung verschie­dener Motive aus den Fabeln und Märchen des Giam­bat­tista Basile, des »Pent­ame­rone«: In der ersten will eine Königin nicht schwanger werden, bis ihr ein Magier verrät, ihr Gatte solle ein Seeunge­heuer töten, dessen Herz raus­reißen damit sie es essen könne. Die Methode klappt, auch wenn der unglück­liche Gatte stirbt, der Sohn, der geboren wird ist ein Albino. Weil eine Dienst­magd aber heimlich ebenfalls vom Herz des Unge­heuers aß, wird ihr ein Zwilling des Prinzen geboren. Die beiden Halb­brüder können nicht nur unter Wasser atmen, sie lieben sich inniglich und treiben allerlei Scha­ber­nack, sehr zum Verdruß der Königin.
In der zweiten verliebt sich ein geiler Fürst in eine Jungfrau, die er nur von fern sieht. Tatsäch­lich handelt es sich um eine Alte, die ihm Gesicht und Körper nicht zeigen will, und ihn sich mit kompli­zierten Tricks wort­wört­lich vom leibe hält.
In der dritten zieht ein König, der nebenbei versucht, seine Tochter zu verhei­raten, heimlich einen Floh auf, und nähert ihn mit Fleisch und anderem bis zur Größe eines Nilpferds.

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Garrones Ästhetik ist die der Groteske. Zugleich ist sie direkt, gradlinig, unge­bro­chen. Bezüge zu »Games of Thrones« bleiben daher rein äußerlich. Alles hier ist explizit, ein recht unspie­le­ri­sches Spiel mit dem Ekel,. eine kalku­lierte Unschuld.
Die Wiede­r­erwe­ckung alter Poesie, die Renais­sance des Naiven scheitert. Ein Unsinn, der sich als magischer Realismus verkauft, als märchen­haftes Erzählen. Unfassbar, wie so etwas in den Wett­be­werb kommen kann, der schlimmste Wett­be­werbs­film seit Jahren. In der Pres­se­vor­füh­rung gab es am Ende nur Stille. selbst Buhs war »Il Racconto dei Racconti« nicht wert.

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»Arbeit für alle!« brüllen die Menschen und ballen die Fäuste. Die Demons­tranten sind Arbeiter. Sie wollen hinein in ihre Fabrik, aber deren Tore sind ihnen verschlossen. Sie sollen »frei­ge­stellt«, also entlassen werden. Polizei bewacht das Werkstor, und als die Protes­tie­renden drohen, über den Zaun zu klettern, da schwingen sie ihre Knüppel, und beginnen die Arbeiter zusam­men­zu­schlagen... »Cut!« ruft in diesem Moment eine Stimme laut. Und wir verstehen: Die ersten Bilder von Mia Madre vom Italiener Nanni Moretti zeigten gar keine Wirk­lich­keit, sondern die Szene eines Films, der gerade erst gedreht wird. Die Stimme gehörte Margerita, der Haupt­figur. Sie ist Film­re­gis­seurin, und vermut­lich das Alter Ego Morettis. Wir sehen sie bei der Arbeit und zuhause, erleben, wie sie mit sich hadert.

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Kinokunst ist harte Arbeit, das zeigt uns Moretti in diesem Film ganz nebenbei, so wie auch diese erste Szene einen doppelten Boden hat: Die Arbeiter, die in die Fabrik wollen, spiegeln nämlich natürlich auch die aller­ersten Bilder des aller­ersten Films der Film­ge­schichte: Die Arbeiter verlassen die Fabrik hieß der Film der Brüder Lumière, mit dem das Kino geboren wurde.
Dieses Bekenntnis zu den Gebrüdern Lumiere, ist auch eines für Realismus, für ein Kino, das Wirk­lich­keit abbilden, nicht phan­tas­ti­sche Alter­na­tiv­welten bauen will.

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Bei den Film­fest­spielen von Cannes sind beide Arten des Kinos zu sehen, Lumiére wie Méliès. Und beide sind legitim. Nanni Moretti inter­es­siert sich aber vor allem für die eine Seite, die Wirk­lich­keit, auch wenn es hier immer wieder Träume gibt, und Erin­ne­rungen. Und er zeigt eine Haupt­figur, die in ihren Filmen die Realität verstehen und inter­pre­tieren will. Sie will rele­vantes Kino machen. Aber sie merkt, dass sie im Grunde von der Welt immer weniger begreift. »Ich verstehe gar nichts mehr.«
So wie in seinem Papst-Film zeigt er auch hier wieder eine Handvoll Menschen, die sich in der Welt nicht zurecht­finden.

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Im Mittel­punkt von Morettis Cannes-Wett­be­werbs­bei­trag Mia Madre, (»Meine Mutter«) stehen zwei Frauen. Die jüngere, die Haupt­figur Margerita (Margerita Buy) dreht gerade einen Film, als ihre alte Mutter ins Kran­ken­haus einge­lie­fert wird und vermut­lich bald sterben muss.
Der Film ist ein Portrait dieser beiden Frauen. In Rück­bli­cken, Tag- und Alpträumen ist dies auch eine Selbst­re­fle­xion der Haupt­figur, die in der Mitte zwischen Jugend und alter steht. Die Männer hingegen sind nur Rand­fi­guren und oft genug unsen­sible Idioten – wie der Haupt­dar­steller des Films, den Holly­wood­star John Turturro als eine Karikatur zwischen Schau­spie­ler­größen­wahn und -eitelkeit und den Klischees des italie­ni­schen Natio­nal­cha­rak­ters spielt.
»Kevin Spacey tried to kill me« sagt Turturros Figur einmal, als er aus einem Traum aufwacht. Ein paar Witze über Kubrick sind bemüht, sollen sie aber auch sein. Ein Running-Gag ist der Satz, den die Regis­seurin ihren Darstel­lern als Regie­an­wei­sung sagt, und den wohl noch nicht mal sie selbst versteht: »I want to see the actor, next to the character.«

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Eine lustige Szene ist auch die, als Marg­he­rita zum Dreh kommt, und die Statisten der Arbeiter sind alle sehr fett geschminkt. »Hab ihr keine echten Gesichter?« fragt sie ihren Produk­ti­ons­leiter. Der: »This is reality!«

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Mia Madre ist also eine selbst­re­fle­xive Film-im-Film-Komödie über das Kino mit manchem Tiefgang – sie überzeugt aber weit mehr als gescheiter Essay über die Frage, was eigent­lich Wirk­lich­keit bedeutet, denn als Film. Da schwankt alles zu sehr zwischen dichten und witzigen Momenten und spröder Lange­weile.

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»Es wird kein trauriger Film« sagt Marg­he­rita ihrer Mutter über ihre Arbeit. Und das gilt auch für »Mia Madre« selbst. Es gibt Momente, wie die Erin­ne­rung Marg­he­ritas daran, wie sie in einer langen Schlange für den Film »Der Himmel über Berlin« anstand. Da ist der Film in jeder Hinsicht schön: Geistreich, witzig, toll gemacht, wehmütig.
Aber davon hat der Film viel zu wenige. Es ist ein Film, der in Wellen­be­we­gungen vor sich geht. Mal extrem lahm, lang­weilig, ohne Pepp, und etwas banal, auch in der natu­ra­lis­ti­schen Erzähl­form. Dann wieder plötzlich fünf Minuten lang gut, dann wieder stink­lang­weilig. Man glaubt in Morettis Grund­hal­tung auch eine gewisse Menschen­ver­ach­tung bemerken zu können, einen Menschen zu erkennen, für den die Welt nur aus Idioten besteht.
Ist es am Ende Moretti, der in Gestalt von Marg­he­rita hier von einem Exlover kriti­siert wird, als sie zur Entschul­di­gung erklärt »I am shooting a film«: »You never like anything. ... You do not care for people around you. ... People take you in small doses.«

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Manchmal frage ich mich, ob ich für diesen Beruf viel­leicht unge­eignet werde. Es inter­es­siert mich einfach nicht, was Moretti, da macht, was da auf der Leinwand passiert, was die Figuren tun; es langweilt mich von den ersten Minuten an. Ich verstehe nicht, warum die Kollegen lachen, wenn sie bestimmte Szenen sehen, bestimmte Dialoge hören. Aber viel­leicht sind diese Zeilen bereits die Wider­le­gung solcher Gedanken. Denn beim Schreiben merke ich, dass in dem Film doch ein bisschen mehr steckt, als ich unmit­telbar im Kino und danach glaubte. Filmisch macht ihn das leider nicht besser.

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Die Mutter der Regis­seurin ist übrigens Profes­sorin, und es gibt einen Erzähl­strang, der kreist um die Latein-Nach­hil­fe­stunden, die sie ihrer Enkelin regel­mäßig gibt. Darin erklärt sie auch uns im Publikum die Bedeutung von Latein, und das Wesen der europäi­schen Kultur. Die Wohnung der alten Dame ist voll­ge­stopft mit Büchern. Viele von ihnen sind kaum jünger, als ihre Besit­zerin. »Was wird nur aus den Büchern werden, wenn Mutter tot ist?« fragt die Tochter verzwei­felt. Gute Frage, denn Bücher sind für die Lebenden. In einer der letzten Szenen sieht man – noch ist es ein Tagtraum – die leeren Regale. Die Bücher der Mutter und damit ihre Seele, sind in Kisten verpackt. Ein tref­fen­deres Bild für Anschied, für den Tod habe ich lange nicht gesehen. Der Trost ist, dass ein Teil von ihr wieder­auf­er­stehen wird, wenn diese Bücher zusam­men­bleiben und wieder in einer anderen Wohnung aufge­stellt werden.

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Viel­leicht muss man es so sehen: Cannes ist ein Sana­to­rium. Ein geschützter Raum, eine Pfle­ge­an­stalt. Die Festi­val­or­ga­ni­sa­toren sind dann die Ärzte und Pfleger. Immerhin vier Filme allein im Wett­be­werb schildern derartige Pfle­ge­si­tua­tionen. Drei von ihnen spielen in einem Sana­to­rium. Der letzte ist der von Paolo Sorren­tino: Giovi­nezza.

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»Für Francesco Rosi« – die Widmung am Ende von Paolo Sorren­tinos Giovi­nezza war schon eine Unver­schämt­heit. Was bitte hat dieser Film mit Rosi zu tun. Hätte er den Film Fellini gewidmet, wäre das auch präten­tiös und dreist gewesen, aber immerhin hätte man sagen können: Er will uns sagen, dass Fellini sein Vorbild ist, er stellt sich in eine bestimmte Tradition, und das irgendwie zu recht. Aber Rosi??? Der hätte Giovi­nezza gehasst. Denn dieser Film ist alles das, was Rosi nicht war, auch nicht in seinen späteren, mitunter opern­haften Filmen: Gekün­s­telt, maniriert, narziss­tisch in seine eigene Form verliebt, zugleich unfähig, diese Form zu beherr­schen.

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Trotz dieses Urteils ist Giovi­nezza Sorren­tinos bester Film seit Jahren. Das liegt aller­dings weniger an einer Leistung des italie­ni­schen Regis­seurs, als daran, dass Cheyenne – This Must Be the Place und La grande bellezza wirklich quali­tativ unter aller Kanone waren. Das war schwer zu unter­bieten. Und es liegt an Sorren­tinos Haupt­dar­stel­lern.
Ein Sana­to­rium in den Schweizer Bergen, das Berghotel Schatzalp nahe Davos, eine wunder­bare Film­ku­lisse, ein Zauber­berg, auf den wohl auch offen ange­spielt werden soll. Hier erholen sich allerlei illustre Berühmt­heiten und Reiche, ein Film­schau­spieler, eine Miss Universe, Michael Caine spielt – mit langen Haaren, mit denen er aussieht, wie Toni Servillo – einen Kompo­nisten, der alt geworden ist, und sich erholen will, gemeinsam mit seiner frisch geschie­denen Tochter, gespielt von Rachel Weisz und seinem besten Freund, einem Dreh­buch­autor, den Harvey Keitel spielt. Der arbeitet im Hotel mit einer Handvoll Hipster-Filme­ma­chern an einem Stoff. Das Gesamt­bild zeigt eine melan­cho­li­sche Welt, und Künstler, die mit ihrem Altern sehr unter­schied­lich zurecht kommen. Und da Giovi­netta immerhin bereits der dritte dies­jäh­rige Wett­be­werbs­film ist, der in einem Sana­to­rium spielt, kommt beim Betrachter unwei­ger­lich die Frage auf, ob das nur ein Zufall ist.
Oder fühlt sich das Autoren­kino am Ende alt werden, verliert seinen Mut zum Risiko und begibt sich in ein Sana­to­rium zur Frisch­zel­lenkur? Das Festival von Cannes taugt dafür kaum, dafür weht hier der Wind zu hart. Spätes­tens bei der Palmen­ver­lei­hung wird man das spüren.

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Filmisch ist Giovi­nezza simpel, wenn nicht simpli­zis­tisch, vor allem überaus faul. Es gibt eine Menge offen­kun­diger Anschluss­fehler, hand­werk­liche Schwächen, die auch Anfängern selten unter­laufen – und daher glaube ich, dass sie Sorren­tino absicht­lich einbaut und sich dabei witzig vorkommt.
Davon unge­achtet solcher Schlam­perei besteht Giovi­nezza aus zwei sehr unter­schied­li­chen Typen filmi­schen Erzählens. Es gibt sehr viele Dialog­szenen, die höchst banal insze­niert sind, mit Halb­to­talen und Close-Ups, die per Schnitt-Gegen­schnitt zusam­men­ge­leimt werden, und in denen keinerlei Wille zur Stili­sie­rung erkennbar ist. uf der anderen Seite sehr stili­sierte Szenen in denen größere Menschen­gruppen choreo­gra­phiert werden, und die extrem stili­siert sind, die mitunter an Musicals erinnern, in ihren Massen-Orna­menten, ihren anspruchs­vollen Kame­ra­per­spek­tiven, mit Kameras auf Schienen, an Kränen, Menschen auf Lauf­bän­dern, in Fahr­s­tühlen – zu diesen Szenen läuft dann Musik. Die Menschen haben mal exaltiert-grimas­sie­rende, mal ausdruckslos schlaf­wand­le­ri­sche Gesichts­aus­drücke. Zwei Bild-Typen, die nicht recht zusam­men­passen.
Die Drama­turgie des Films entspricht der einer Nummern­revue, in der sich eine Pointe an die nächste reiht: Zwei Rolla­toren, die zusam­men­stoßen, Jane Fonda hat ebenso einen Kurz­auf­tritt wie Argen­ti­niens Fußbal­li­kone Diego Maradona wie eine namenlose Nackte mit Atombusen. Sorren­tino begibt sich einmal mehr vage auf den Spuren Federico Fellinis, und Giovi­nezza könnte man sich auch als seine persön­liche Version von  vorstellen.

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Es wird viel geredet – »Did you take a piss today?« –, aber wenig passiert, die Kulissen sind schön, die Bild­fein­fälle unin­spi­riert, aber mit solchen Schau­spie­lern ist das alles trotzdem eini­ger­maßen kurz­weilig anzusehen. Bei dem ermü­denden Gerede geht es vor allem darum, wie es ist, wenn man alt ist, wie man mit der Vergan­gen­heit umgeht. Man hört kleine nette unbe­deu­tende lebens­phi­lo­so­phi­sche Phrasen auf Paolo-Coehlo-Niveau. »Legerete an irre­sistable tempt­a­tion.«; »In my age, getting in shape is a waste of time.«; »You say, emotions are overrated. But thats bullshit.« (das sagt aller­dings einer wenige Sekunden, bevor er in den Tod springt).
Es kommt auch ein Zen-Mönch in Medi­ta­tion vor, zu dem Caine im Vorbei­gehen sagt »You don’t fool me, i know that you cant levitate.« Doch in einem der letzten Bilder sehen wir ihn schweben.
Dieser so blöde seichte verlogene Richard-Gere-Buddhismus des Westens, das neue Einver­s­tändnis der post­mo­dernen Gesell­schaft mit dem Esote­ri­schen, geht mir prin­zi­piell auf die Nerven und man findet dies im dies­jäh­rigen Cannes-Jahrgang in besonders vielen Filmen. Darüber gibt es im nächsten Blog noch mehr zu lesen. Hier nur der Hinweis: Auch Du, Sorren­tino!

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Der Titel Giovi­nezza spielt auf die Hymne des Mussolini-Faschismus mit seinem Kult von Jugend und perfekter Körper­lich­keit an. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, werde bei meinen italie­ni­schen Freunden aber noch Erkun­di­gungen einziehen, und das Ergebnis nach­rei­chen. Das würde aber, dies wollen wir nicht verschweigen, zum Buddhismus passen, denn die engen Bezie­hungen und die Sympa­thien zwischen Buddhismus, vor allem dem der Tibetaner und Faschisten sind längst bekannt und wissen­schaft­lich erforscht. Da spricht dagegen, dass Sorren­tino hier einfach ein anti-jugend­li­ches Modell vorlegen will.
Dies ist senti­men­tales Alther­ren­kino, melan­cho­lisch und depressiv und irgendwie wahn­sinnig irrele­vant.

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»Do you hate this film as much as I do« fragt eine Italie­nerin. Meine Antwort: »Yes, I hope«. Aber genau­ge­nommen ist Hass das falsche Wort. Nein, ich hasse ihn nicht. Der Film ist schrill und dumm, aber er ist nicht so abstoßend, wie der »Holocaust«-Porno »Cheyenne« und das knallige Bunga-Bunga-Kino von »La Grande Bellezza«, er ist auch kurz­weilig, und hatte ein paar hübsche Momente, und eine gewisse Schönheit.

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Die schönste Szene des Films zeigt Diego Armando Maradona – oder sein Double. Er steht mit nacktem Ober­körper (und einem großen Karl-Marx-Tatoo auf dem Rücken) auf der roten Asche eines Tennis­platzes. Dort spielt er mit einem Tennis­ball. Immer wieder kickt er ihn ihn die Höhe, nimmt ihn auf, tritt ihn wieder hoch. Einmal benutzt er dazu statt seines Fußes seinen Bauch. Nie verliert er auch nur andeu­tungs­weise die Kontrolle. Diese wenigen Momente sind besser als der ganze übrige Film. Die Szene hat eine so ungemeine Poesie, dass sie zu den besten des ganzen Festivals gehört.

6. Folge 17.05.2015
Doch die Pracht hat hässliche Flecken... – Regeln und Regel­bruch: Freiheit als Thema bei Todd Haynes und Yorgos Lanthimos

»We developed a code so that we could commu­ni­cate with each other, even in front of the others, without one knowing, what we are saying.«
Dialog aus »The Lobster«

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The Lobster ist der bisher erstaun­lichste, über­ra­schendste Film im Wett­be­werb. In ihm vermi­schen sich Autoren­kino und Science-Fiction-Fantasy.
Der Grieche Yorgos Lanthimos zeigt in allen seinen Filmen – Dogtooth und Alpes liefen auch in Deutsch­land – Gruppen, die durch enge, absurde, seltsame Regeln gesteuert werden, die keiner versteht, die aber den Prot­ago­nisten als höchst selbst­ver­s­tänd­lich erscheinen. Diesmal reist er in eine Phan­ta­sie­welt, die sich mögli­cher­weise in einer nicht allzu fernen Zukunft befindet.

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Im ersten Bild, das nichts mit dem Rest zu tun hat, sehen wir erstmal, wie eine nicht mehr ganz junge Frau im Auto durch die Berge fährt, plötzlich vor einer Wiese mit Maul­tieren anhält, aussteigt, eines der Maultiere erschießt, und wieder einsteigt.
Dann ein Mann namens David, die einzige Filmfigur, die einen Namen hat. Eine Erzäh­lerin aus dem Off – die sich später als eine von Rachel Weisz gespielte Figur entpuppt – erzählt, sein Fall habe »dann doch Maßnahmen erfordert« und er wird ein ein Hotel einge­lie­fert, das sich als Mischung aus Kran­ken­haus und Gefängnis entpuppt. Man muss alles abgeben, und ist dem »liebe­vollen« Zwangs­re­gime der Leiter hilflos ausge­setzt – so lange bis man nach gewissen Regeln eine Paar­be­zie­hung einge­gangen ist, was spätes­tens nach 45 Tagen geschehen sein muss. The Lobster heißt der Film, weil jeder Insasse für sich ein Tier wählen muss, und David wählt einen Hummer, weil er »100 Jahre alt werden will und das Meer liebt.«
Das Zwangs­re­gime bezieht sich vor allem auf Paar­be­zie­hungen und Sex. Die Neigung einer Neben­figur zur Mastur­ba­tion wird etwa damit bestraft, dass dessen Hand in einen aktiven Toaster gesteckt wird.

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In der ersten Hälfte habe ich The Lobster gar nicht gemocht. Der Film schien mir zu reprä­sen­tativ für das Autoren­kino unserer Tage in seiner allzu typischen Machart: Unnötig verkün­s­telt und verkopft, absurd und doof. Ein Film, der von Entfrem­dung erzählen möchte, aber dabei sich selber die Diagnose stellt, weil er bis zum Exzess selbst entfremdet ist. Auch ein weiterer jener Filme, die uns am Ende doch sehr wenig über uns selbst erzählen, oder nur dort, wo unsere Reak­tionen verrä­te­risch werden. Zudem liebt Lanthimos seine Mitmen­schen ganz grund­sätz­lich etwa so sehr, wie Ulrich Seidl, also gar nicht. Der Film ist eiskalt, zynisch. Auch über den Humor kann man streiten: Gerade zu Beginn ist jeder zweite Satz ein Gag, jede zweite Szene ein gespielter Witz. Und irgend­wann habe ich gedacht: Wie Didi Haller­vor­dens »Nonstop Nonsense« für Intel­lek­tu­elle.

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Aber er ist eben auch klug. Er ist sehr gut gemacht, schlau in der Form. Ein philo­so­phi­scher Essay über Verhal­tens­lehren der Kälte. Auch ist dies wieder ein Film über Freiheit, ihre Facetten und Abgründe. Zugleich auch ein Film über Selbst­fes­se­lung, eine makabere Satire über unsere Obsession mit Paar­be­zie­hungen einer­seits und über unsere Obsession fürs Allein­sein ande­rer­seits. Die Insze­nie­rung ist so elegant wie exzen­trisch, immer sehr kontrol­liert, aber mit nur wenigen Kompro­missen ans Hollywood-Kino.

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The Lobster stellt zwei imaginäre Gemein­schaften vor: Die Welt der Stadt, ein puri­ta­ni­scher Wohl­fahrts­staat, in dem Tugend­terror herrscht und nur Paar­be­zie­hungen erlaubt sind, und eine neoli­be­rale Gemein­schaft, deren Mitglieder im Wald leben und einen radikalen Indi­vi­dua­lismus prak­ti­zieren. Beide Gruppen ähneln sich mehr als ihnen lieb ist, in ihrem Tota­li­ta­rismus mit mensch­li­chem Antlitz und vor allem durch die radikalen Gruppen-Regeln, die mit einem brutalen Straf­re­gi­ment durch­ge­setzt werden.
Die Indi­vi­dua­listen brechen aller­dings ab und an auch in die Wohnungen der anderen Seite ein, um dort prak­ti­sche Aufklärungs­ar­beit zu leisten und Lügen und Selbst­be­trug aufzu­de­cken – eine Art Wahr­heits­ter­ro­rismus, der enthüllt, dass die Wahrheit eben auch eine terro­ris­ti­sche Seite hat.

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In einem erstaun­li­chen, uner­war­teten Auftritt spielt Colin Farell die Haupt­figur David, die zunächst in ein Wohl­fühl­ge­fängnis kommt, um dort für das Leben in der Stadt gleich­ge­schaltet zu werden. Irgend­wann flieht er und lebt dann im Wald bei den Indi­vi­dua­listen. Doch an beiden Orten wird er nicht recht glücklich. Natürlich sind daran auch die Frauen schuld – kein Wunder, wenn diese von Rachel Weisz und Lea Sedoux gespielt werden. Vor allem Sedoux ist großartig als charis­masti­sche Revo­lu­ti­onärin, die einen zu allerlei Unsinn verführen könnte – eine Ulrike Meinhof der Zukunft.
Dies sind aber nur die zwei wich­tigsten von einem ganz Dutzend exzel­lenter, origi­neller, sehr unter­schied­li­cher selbst­be­wusster Frau­en­fi­guren, die diesen Film domi­nieren. So ist The Lobster in jeder Hinsicht ein atem­be­rau­bender, so fesselnder wie verwun­dernder Film – der erste echte große Favorit auf die Goldene Palme.

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Einige Filme der ersten Tage kreisen um verschie­dene Vorstel­lungen von Wirk­lich­keit und stellen die Frage, wie Kino Realität erfassen könnte, und welche Realität gemeint ist? Gerade bei The Lobster in dem sich Autoren­kino, Zukunfts-Fantasy und kalku­liertes Tyran­ni­sieren des Publikums verbinden, war dies eine sehr berech­tigte Frage. Zum erwei­terten Favo­ri­ten­kreis gehört nach den ersten Tagen auch der Ameri­kaner Todd Haynes.
Manchmal entfalten Filme erst auf den zweiten Blick ihre Wirkung – wie Haynes Carol, der richtig in mir gear­beitet hat.

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Bei den meisten Kriti­ker­kol­legen kommt der Film gut an. Es gibt aber auch andere Stimmen. Kurz nach der Premiere des Films am Sonn­tag­abend bekomme ich von... ich weiß nicht ob ich das sagen darf, eine sms: »Carol: große Enttäu­schung!!!! Spießig, schlechte Regie, schlechtes Drehbuch, falsche Besetzung, schlecht gespielt... was eine Vergeu­dung...« Hm, hartes Urteil. Das mir spontan zusagt, aber irgend­etwas stimmt nicht mit dem Film, irgendwas habe ich noch nicht begriffen. Wenn Carol aller­dings die Goldene Palme bekommen würde, wäre ich auch ziemlich enttäuscht. Aber warum eigent­lich?

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Es gibt nämlich auf den ersten Blick gegen diesen Film ganz und gar nichts zu sagen. Seid Haynes Filme macht, wird sein Werk vom Vorwurf des Ästhe­ti­zismus, dem Schwelgen in Schönheit um jeden Preis, begleitet. Zu recht – nur dass dies eben kein Vorwurf ist. Haynes ist auch nicht der einzige Regisseur, der selbst als Erwach­sener am liebsten mit Puppen spielt, und ihnen immer neue hübsche Kleidchen anzieht, und noch hübschere Puppen­stu­ben­häuser baut. Tatsäch­lich finde ich es eigent­lich etwas schade, dass es in den letzten Jahren fast immer nur schwule Regis­seure sind, die sich mit der Ausstat­tung soviel Mühe geben, wie ihr gebührt, und wie es sonst nur Frauen tun.
Haynes gibt sich aller­dings auch sonst viel Mühe. Die Musik, obschon oft nost­al­gi­sche Musik aus der Zeit, stammt von Carter Burell, die groß­ar­tigen Bilder von Ed Lachman, dem es auf zauber­hafte Weise gelingt, zwar immer nur eine Seite des Raums zu zeigen, uns die anderen drei aber mit spüren zu lassen, und so ohne Sog-Effekt in den Film hinein­zu­ziehen.

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Solche Bemer­kungen – »zu schön!«, »Ästhe­ti­zismus!« – kann man jeden­falls auch über Carol machen. Denn wie schon in Far from Heaven taucht Haynes ein in die Welt wohl­si­tu­ierter bürger­li­cher Frauen aus den 1950er Jahren des Ameri­ka­ni­schen Jahr­hun­derts. Alles ist darin schöner, zumindest nost­al­gisch erfül­lender, als heute: Die Auto, die Musik, die Mode. In nahezu jeder Szene tragen die Haupt­dar­stel­le­rinnen Cate Blanchet und Rooney Mara eine neue Seiden­bluse...
Doch die Pracht hat hässliche Flecken. Denn die beiden Frauen beginnen eine lesbische Liebes­be­zie­hung, wie jedem Zuschauer, der seine Augen auf hat, nach wenigen Minuten klar sein muss. Und so etwas wurde im mora­lis­ti­schen Amerika der Eisenhower-Jahre – der Film spielt genau­ge­nommen noch ganz zu deren Beginn, an der Jahres­wende 1952/53 – noch weniger geduldet, als heute.

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Nur: Warum muss man eigent­lich heute einen Film über den Tugend­terror der 50er Jahre machen? Um zu sagen, dass Amerika immer schon viel unfreier war, als es die großen schönen Lügen vom Ameri­ka­ni­schen Traum sugge­rieren?
Haben wir heute nicht zumindest diese Probleme über­wunden? Gibt es nicht heute wirklich Wich­ti­geres, als Gleich­be­rech­ti­gung für Lesben, wo diese doch längst – außer in den Köpfen von ein paar Voll­idioten – gleich­be­rech­tigt sind?
Man kann bei Carol weniger einwenden, als nach­fragen, warum Haynes sich für seine Geschichten immer wieder die 50er Jahre aussucht, also ausge­rechnet die repres­sivste Ära Amerikas? Ist das nicht etwas billig, ein Popanz, der leicht immer aufs Neue zu besiegen ist? Die Fifties haben eine tolle Ästhetik. Aber sie waren gerade in sexuellen Dingen viel unfreier als die Jahr­zehnte davor und danach. Warum also? Weil die Vorlage in dieser Zeit spielt? Diese Antwort ist zu banal.

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Vorlage des Films ist der Roman »The Piece of Salt« von Patricia Highsmith, in dem die Autorin auch ihr eigenes Erleben verar­beitet. Verändert wurde vor allem der Beruf der Haupt­figur Theresa, aus deren Perspek­tive der Film erzählt ist. Statt Bühnen­bild­nerin ist sie hier Photo­gra­phin, wie die Highsmith selber, die sich viel­leicht mit der Verän­de­rung nur tarnen wollte.

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Carol ist ein sensibler Liebes­film, der völlig um seine beiden Darstel­le­rinnen gebaut ist. Dies ist dabei ganz und gar Rooney Maras Film. Mit ihrer Leben­dig­keit in aller Zurück­hal­tung stellt sie die doch hier arg statuesk und masken­haft wirkende Cate Blanchett in den Schatten. Das ist auch eine Regie­leis­tung, denn wir sollen uns mit Theresa iden­ti­fi­zieren, nicht mit Carol. Dies ist auch aus anderen Gründen nicht Blan­chetts Film. Sie sieht nicht nur immer marmorner aus, und hat außerdem, so scheint es, etwas zu kräftig abge­nommen. Sie ist hier vor allem zu sehr Diva, zu sehr Hollywood-Heldin, zu sehr eine Tussi, die immer recht hat, immer alles richtig macht, immer klug und weise und bescheid­wis­se­risch ist, selbst wenn sie darunter leidet – aller­dings auch das noch zu ihrem und aller Besten. Die Bemerkung meiner Freundin Martina war ganz richtig, der Film wäre vermut­lich viel besser geworden, wenn Kate Winslet die Figur gespielt hätte. Ande­rer­seits auch nicht, denn dann wäre nicht nur der Fokus von Mara abgezogen worden, es wäre ein völlig anderer Film.

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Denn um Theresa geht es eben. Sie ist in diesem Film nämlich viel mehr, als nur ein junges Mädchen, das ihr lesbi­sches Coming-Out haben soll. Sie ist vielmehr eine junge Frau, die sich in jeder Hinsicht zu befreien sucht, eine Künst­lerin und Intel­lek­tu­elle, die sich diese Identität noch nicht einge­steht. Eine Reprä­sen­tantin der jungen Gene­ra­tion, die zehn Jahre später Kennedy wählen und gegen Vietnam und Rassismus rebel­lieren wird. Sie ähnelt Simone de Beauvoir und Silvia Plath nicht weniger als äußerlich Audrey Hepburn. Und wenn Theresa mit ihrem Haarreif Audrey Hepburn ähnlich sieht und wohl auch sehen soll – so einen Haarreif, liebe Freunde der Mode, trugen aller­dings auch Simone de Beauvoir und Francoise Sagan –, dann nicht der jungen Film-Hepburn der 50er mit ihren Prin­zes­sin­nen­träumen, und auch nur am Rand – aber schon eher – der konsu­mis­ti­schen Popfigur und Gele­gen­heits­pro­sti­tu­ierten Holy in Frühstück bei Tiffany. Sondern sie ist am ehesten der selbst­be­wussten Erzie­herin in William Wylers  The Children’s Hour nach­emp­funden. Einer Frau, die sich ihrer lesbi­schen Ausrich­tung noch keines­wegs sicher ist – sehr wohl aber ihrer Souver­ä­nität und Freiheit, die sie sich vom Tugend­terror der Puritaner nicht abkaufen lassen möchte.

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Um Souver­ä­nität und Freiheit geht es viel mehr als um Iden­ti­täten, seien sie nun sexuell oder anders. Genau aus diesem Grund ist »Carol«, der auf den ersten Blick ein Produkt reinen Ästhe­ti­zismus ist – schön anzusehen, aber nix dahinter –, auf den zweiten Blick tatsäch­lich ein schmerz­haftes Melodram in der Tradition derje­nigen von Douglas Sirk, die Haynes so sehr bewundert und so unum­wunden zitiert.

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In der letzten Vier­tel­stunde des Films geschieht Folgendes: Carol, die zunächst mit Theresa über Sylvester geradezu durch­ge­brannt ist, und sie schließ­lich verführt hat, hat Theresa kurz darauf verlassen. Grund sind die Recher­chen eines Privat­de­tek­tivs, der »eindeu­tige Beweise« für Carols Frauen-Affairen gesammelt hat. Dies soll als Munition in Carols angän­gigem Schei­dungs­ver­fahren dienen, in dem vor allem Carols Sorge- und Besuchs­recht für die gemein­same Tochter auf dem Spiel steht. Carol reist daher nach einem entspre­chenden Telegramm ihres Mannes (oder Anwalts) Hals über Kopf ab, und spielt in den nächsten Wochen die reumütige Ehefrau, die sich auf psycho­the­ra­peu­ti­sche Behand­lungen einlässt, um ihre »Verwir­rungen« zu kurieren. Den Kontakt mit Theresa bricht sie komplett ab. Diese wird mangels Führer­schein von einer Freundin abgeholt, und nach Hause kutschiert, und erhält ein paar Tage nach der ersten Erschüt­te­rung einen Brief Carols. In dem wird ihr ziemlich von oben herab erklärt, was gut für sie sei, und dass Carol unbedingt die richtigen Entschei­dungen getroffen habe, auch gerade in Theresas Sinne, und das diese das schon noch eines Tages selbst einsehen werde, einst­weilen sei sie dazu wohl noch ein bisschen jung. »I release you!« Als ob sie eine Gefangene sei.
Theresa fängt sich dann irgend­wann wieder und beginnt eine Karriere als Photo­gra­phin, als eine Frau in einer Männer­welt. Irgend­wann erhält sie eine Nachricht Carols, die sie zum Tee bittet. Zögerlich nimmt sie an, ist bei diesem Treffen auch reser­viert, und lehnt die Einladung zum späteren Abend­essen erst einmal ab. Alles bleibt kühl und verhalten, und als Theresa eine Party von Gleich­alt­rigen besucht, soll man schon glauben, dass sich beide nie wieder­sehen werden. Doch dann verlässt Theresa die Party, und geht zu dem Essen in einem Nobel­re­stau­rant. Sie sieht Carol am Tisch, blickt erleich­tert und glücklich, und nun entdeckt auch Caroll sie und schaut – weniger erschüt­tert, als huldvoll lächelnd, wie eine Siegerin...

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Was soll das nun sein? Ein Happy End? Ich vermute, so verstehen es 80 Prozent der Zuschauer. Auch ich dachte erst, dass es so gemeint sei. Doch manchmal ist es gut, über einen Film länger nach­zu­denken – im Ergebnis ist dies für mich nämlich kein Happy End, sondern das Unhappy End des Melodrams. Ein Unter­wer­fungsakt.
Theresa opfert ihre Freiheit für die Passion – oder sollen wir es Liebe nennen? –, der sie nicht wider­stehen kann.
Denn was ist mit Carol? Sie wirkt, das habe ich beschrieben, den ganzen Film über wie eine Königin, eine Groß­bür­gers­frau, sie verhält sich Theresa gegenüber nicht von Gleich zu Gleich auf Augenhöhe, sondern von oben herab, wie zu einer Dienst­botin. Sie nimmt sie sich. Sie spielt mit ihr. Sie macht ihr Vorschriften, achtet sie nicht. Sie verachtet ihre Freiheit. Das höchste Gut.
Carol ist eine Vampirin, eine Kanni­balin, die Theresa und ihres­glei­chen verspeist. Die sie als Eigentum ansieht. Carol ist auch einer Kapi­ta­listin der Liebe, die ihre Aktien abstößt, wenn sie in andere Werte inves­tiert. Sie ist herrisch, herrschsüchtig, launisch, sie hat alle Allüren eines weib­li­chen Machos und steht damit ihrem Gatten, dem kurz­ge­scho­renen All-American-Man und Reprä­sen­tanten des Main­stream der 50er-Jahre-Werte­ord­nung und ihres Geschmacks weitaus näher als der jungen Rebellin Theresa.

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Todd Haynes, so scheint mir, weiß um all das. Er weiß, dass dies nicht nur eine Liebes­ge­schichte ist, sondern auch ein Klas­sen­kon­flikt, und ein Gene­ra­tio­nen­kon­flikt, und dass diese beiden nicht zu lösen sind durch Luft und Liebe. Zumal hier in der »Liebe« auch ein Liebes­verrat sich verbirgt. Haynes hat einen Film über Repres­sion gemacht, über den Sieg der Repres­sion und es hätte keine dezen­teren Weg gegeben, um diese traurige Einsicht in den Film hinein­zu­schmug­geln. Wie ein Virus wird sie in den Hirnen des Publikums weiter­wirken.
Freiheit vollendet sich nicht in Liebe, sondern wird von ihr getötet, jeden­falls hier, in ihrer kanni­ba­li­schen Form. Aus all diesen Gründen gibt es viel­leicht gar keinen Grund, enttäuscht zu sein, wenn dieser Film am Ende die Goldene Palme bekommt.

7. Folge 18.05.2015
Kino der Unge­wiss­heit: Inten­sität, Neugier, Miss­trauen, Gerede und Vermu­tungen

»Oh, wieder soooo viele Franzosen im Wett­be­werb, immer das Gleiche.« – mehr als einer spricht mich auch hier wieder in diesem Sinne an. Wenn man in Cannes einem Menschen begegnet mit dem man nichts zu reden hat, dann ist es immer eine gute Idee, mal so den Wort­fetzen »Die Franzosen im Wett­be­werb...« in die Luft zu werfen, um einen anti­fran­zö­si­schen Rede­schwall auszu­lösen, bei dem auch die zahl­rei­chen fran­zö­si­schen Kopro­duk­tionen nie unerwähnt bleiben, und ebenso nicht die offenbar tota­li­täre Rolle der fran­zö­si­schen Welt­ver­triebe.
Das ist ein inter­es­santes Phänonem, weil Vergleich­bares nie passiert, wenn in Venedig vier Italiener laufen, oder wenn in Berlin vier Deutsche und zehn deutsche Kopro­duk­tionen im Berlinale Wett­be­werb gezeigt werden, und jeder zweite Film von Match Factory oder Bavaria, oder Beta vertrieben wird. Da sagt man dann: Gut, dass Dieter Kosslick was für den deutschen Film tut.
Mit dem kleinen entschei­denden Unter­schied, dass das fran­zö­si­sche Kino oft besser und fast immer viel rele­vanter ist, als das deutsche.

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Bei diesem Gespräch kommt man dann auch immer auf Die üblichen Verdäch­tigen zu sprechen, auf jene Regis­seure, meistens Herren fort­ge­schrit­tenen Alters, die scheinbar ein Abon­ne­ment auf die Wett­be­werbs­teil­nahme in Cannes haben. Solche Regis­seure gibt es tatsäch­lich, und jedem von uns fallen vermut­lich sofort ein paar Namen ein, auf die das zutrifft. Mir zum Beispiel: Wong Kar-wai, Emir Kusturica, die Dardennes, Michael Haneke, Aki Kauris­mäki. Das sind nur alles keine Franzosen.
Wenn aber dann zum Beispiel einmal einer dieser Filme woanders läuft, dann heißt es sofort: »Der wurde offenbar in Cannes abgelehnt.« Oder: »Der muss wohl sehr schlecht sein.« Letzteres heißt es auch, wenn der Film »nur« in »Un Certain Regard« läuft. So wie in diesem Jahr die Filme von Apichat­pong Weer­a­se­takul, von Naomi Kawase, von Brillante Mendoza. Dabei gibt es viel­leicht einfach nur gerade besonders viele asia­ti­sche Filme und da bereits einige im Wett­be­werb laufen, wollte man nicht die Hälfte aller Wett­be­werbs­plätze mit Asiaten bestücken

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Hätte man im Wett­be­werb diesmal wieder die neuen Filme von Arnaud Desplechin und von Philippe Garrel gezeigt, hätten auch wieder alle von »Den üblichen Verdäch­tigen« geredet. Nun laufen deren Filme aber in der »Quinzaine« und sind viel viel besser, als die zwei fran­zö­si­schen Beiträge von Emma­nu­elle Bercot und von Maiwenn, und keiner schreibt: Toll, dass mal »Die üblichen Verdäch­tigen« nicht im Wett­be­werb laufen. So etwas wird so gut wie nie gesagt.

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Ernesto Garratt aus Chile, über den ich im letzten Jahr einen ganzen eigenen Blog­bei­trag geschrieben hatte, kann diesmal leider nur bis Mittwoch bleiben. Sehr schade, aber der Grund ist schön, denn er hat eine kleine Tochter, die er nicht so lange allein lassen will.
Ernesto ist ein »Weißer«, also einer der wenigen Träger des so überaus begehrten weißen Akkre­di­tie­rungs­badges, der obersten Klasse der Film­kri­tiker in der strengen, für Außen­ste­hende undurch­schau­baren Rang­ord­nung der Cannes-Besucher. Das verschaffte ihm am Samstag auch eine illustre Abend­essens­ein­la­dung vom Festival, von der er mir später erzählte. Da war er zusammen mit Berühmt­heiten der inter­na­tio­nalen Film­kritik wie Michel Ciment (von Positif) und Peter Bradshaw (»Guardian«), und unter­hielt sich mit ihnen über die guten alten vergan­genen Tage der Film­kritik, als es noch kein Internet gab und man noch viel viel mehr Zeit hatte, um seine Texte zu schreiben.
Darüber reden wir jetzt auch. Denn der Faktor Zeit macht uns nicht nur zu schaffen, weil er die Bequem­lich­keit stört. Wie im letzten Blog erwähnt: Nach­denken hilft dem Urteil. Zeit schärft die Gedanken. Ich glaube sehr an den Nutzen der Spon­ta­n­eität, an die allmäh­liche Verfer­ti­gung der Gedanken beim Reden und Schreiben, daran, gleich und hier und jetzt zu schreiben, wenn der Eindruck noch frisch ist. Aber wenn man gleich etwas sagen muss und unter Zeitdruck steht, kommt nicht immer das Beste als erstes raus.

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Seit knapp zehn Jahren gehört Rumänien zu den inter­es­san­testen Nationen auf der Landkarte des Weltkinos. Gleich ein knappes Dutzend Filme­ma­cher aus diesem kleinen, nach wie vor armen Land Europas brachten einen ganz eigenen Ton auf die Leinwand und feierten weitaus mehr inter­na­tio­nale Erfolge, als andere ehemalige Ostblock­länder mit einer viel längeren Kino­tra­di­tion, etwa Polen oder Ungarn.
Seinen endgül­tigen Durch­bruch schaffte das rumä­ni­sche bei den Film­fest­spielen in Cannes, wo Cristi Mungiu 2007 völlig über­ra­schend die Goldene Palme gewann – für das Abtrei­bungs­drama 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage
In Cannes sind bei den Film­fest­spiele zwei starke rumä­ni­sche Filme gut in der promi­nen­testen Neben-Sektion »Un Certain Regard« vertreten.

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Nachbarn sind etwas Beson­deres. Man grüßt sich mitunter nur auf der Treppe, und doch kennt man sie besser, als viele Mitmen­schen.
Und Patrascu, die Haupt­figur in dem rumä­ni­schen Film »Eine Etage tiefer« von Radu Muntean, ein braver Fami­li­en­vater, der sein Geld damit verdient, dass er für andere lästige, weil lang­wie­rige Behör­den­gänge erledigt, und der in seiner Freizeit einen Hund für einen Wett­be­werb trainiert, dieser Patrascu lauscht auch gern mal an der Nach­barstür: Er hört wie die hübsche junge Nachbarin von der Wohnung im Stockwerk drunter Sex hat, und er hört, wie sie sich mit einem Mann streitet. Aber mit wem?

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Eines Tages wird die Nachbarin tot aufge­funden. Ein Unfall wahr­schein­lich, aber Mord wird nicht ausge­schlossen, die Polizei ermittelt. Aus dieser Konstel­la­tion entwi­ckelt der Regisseur nun keine Krimi­nal­ge­schichte, die darum kreist, ob es ein Mord war, und wer der Täter sein könnte, sondern ein univer­sales exis­ten­ti­elles Drama, einen Dosto­jewski-Stoff für unsere Zeit, der ins Herz der Gegenwart zielt. Denn ein anderer Nachbar hat durch sein merk­wür­diges den Verdacht Patrascus erregt. Hat er etwas verbro­chen, und was genau? Oder hat er nur seinen Ehebruch zu verbergen?
Patrascu behält seine Gedanken für sich, und darum fressen sie ihn auf. Der Nachbar wiederum spürt den Verdacht, und nähert sich Patrascus Familie an. Eine Etage tiefer ist ein Psycho­thriller über die Seele eine post­kom­mu­nis­ti­schen Gesell­schaft, die nicht mit sich im Reinen ist. Eine doppelte Eindring­lings­ge­schichte – wie der Nachbar in Patrascus Leben, so sickern Schuld­ge­fühle in sein Gewissen.
So dicht das Szenario, so zwingend und zugleich von leichter Hand geht die Insze­nie­rung vonstatten. Eine Hand­ka­mera schafft Inten­sität, und setzt den Betrachter analog zu den Figuren unter Stress.

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Das rumä­ni­sche Kino ist ein Kino der Unge­wiss­heit. Und ein Kino der Inten­sität und der Neugier, es misstraut der Wirk­lich­keit und taucht zugleich tief in sie ein.

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Ein Weg, Unsi­cher­heit zu bewäl­tigen, ist Humor. Ihn geht der zweite rumä­ni­sche Cannes-Beitrag, Comoara von Corneliu Porumboiu. Auch hier beginnt wieder alles mit zwei Nachbarn. Der eine klingelt an der Tür des anderen. Er ist in einer verzwei­felten Lage, möchte sich Geld leihen, sonst droht sein Haus auf dem Land verpfändet zu werden. Eine Geschichte über Zins­knecht­schaft: »Ich muss etwas Geld leihen« – »Ich hab’s nicht« – »Ich zahle 13% Zinsen« – »Ich zahle nur 8%« – »Ich war ein Idiot. ›Ich hatte einen Verlag, der hat pleite gemacht.‹ – ›Das war keine gute Idee. Nach einer Umfrage lesen nur 2 Prozent der Rumänen mehr als ein Buch pro Jahr.‹«

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Der Nachbar, der mit seinem kleinen Sohn gerade die Geschichte über Robin Hood liest, kann zwar nicht mit Geld helfen, aber als die Rede auf den Urgroß­vater des Bitt­stel­lers kommt, und einen kleinen Schatz, den dieser angeblich auf dem Grund­stück vergraben hat, um ihn vor den Kommu­nisten in Sicher­heit zu bringen, da schließen sich die beiden zusammen.

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Mit einer Mischung aus feiner Ironie, Satire und gröberer Groteske schildert der Film nun die Schatz­suche der beiden. Mit einem fort­wäh­rend piependen Detektor gegen sie auf die Suche, buddeln das Grund­stück um und finden tatsäch­lich etwas, wenn auch nicht, was sie suchten, und die Geschichte bekommt einen neuen, cleveren Twist.

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Im Hinter­grund wird viel über Rumänien erzählt: In Islez wurde die Prokla­ma­tion der Revo­lu­tion von 1848 verkündet,
das Recht zu arbeiten, ist in der aktuellen Verfas­sung verankert... Es zeigt sich das Bild eines Landes, in dem die Diktatur der Kommu­nisten durch das Diktat des Marktes und der Gier ersetzt wurde, in dem eine Büro­kratie dominiert, die zugleich über­for­dert ist und korrupt, in der absurde Vorschriften, absurdes Verhalten erzeugen, in der auch alle anderen Menschen sich gegen­seitig belügen und betrügen, manchmal nur, weil die Wahrheit keiner glauben will. Betrug und Verrat, Neid und Gier sind überall. Das ist so lustig wie bitter. Es ist uns zugleich ganz nahe, denn es spiegelt unsere eigene Gesell­schaft.

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So ergänzen sich die beiden rumä­ni­schen Beiträge perfekt: Indem beide von nach­bar­schaft­li­chen Bezie­hungen erzählen, entfalten sie jeweils eine wech­sel­sei­tige, dialek­ti­sche Spannung von Soli­da­rität und Miss­trauen.
Muntean erzählt von Schuld­be­wusst­sein, Porumboiu von einem Land, in dem die Menschen allen sieben Todsünden verfallen sind.
Es ist also nicht so sehr eine spezi­fi­sche post­kom­mu­nis­ti­sche Situation, die hier geschil­dert wird, sondern vielmehr etwas universal Mensch­li­ches, das man ebenso in den Filmen eines Woody Allen oder eines Michael Haneke und bei vielen anderen großen Filme­ma­chern finden kann.
Am Ende von Porum­boius abgün­diger Komödie erklingt das Lied »Opus Dei« der slove­ni­schen Rock­gruppe Laibach. So ist das Leben – kann man als gelas­senes Fazit ziehen. Man kann auch sagen: Dem Kino Rumäniens ist nichts Mensch­li­ches fremd.

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Das Festival von Cannes, ich habe es schon öfters geschrieben, ist in mancher Hinsicht wie ein Raum­schiff. Für knapp zwei Wochen hebt man ab und befindet sich auf der ganz eigenen Umlauf­bahn des Weltkinos.
Cannes erinnert aber auch an eine Schule. Die Festi­val­or­ga­ni­sa­toren sind die Klas­sen­lehrer, und wir, die Kritiker und profes­sio­nellen (andere gibt’s ja gar nicht) Besucher. Und so kam es, dass ich als wir gestern von Agnesh, die an der DFFB studiert und hier bei der Cine­fon­da­tion mit einem Film vertreten ist, gefragt wurden, ob wir Kritiker uns eigent­lich überhaupt gegen­seitig kennen würden, antwor­tete: Wenn wir die etwa 1000 Leute nehmen, die im »Salle Debussy« morgens sitzen, dann kenne ich von denen 400 bis 600 vom Sehen. Und auch die kennen mich vom Sehen. Und mit bestimmt 200, eher 300 von ihnen, habe ich schon irgend­wann mal gespro­chen. 50 sind Freunde oder Freunde von Freunden oder Kollegen, mit denen geht man gele­gent­lich mal weg, in immer neuen Kombi­na­tionen. Und mit viel­leicht 25 verab­redet man sich aktiv.
Wie auf der Schule gibt es die eigenen Klas­sen­ka­me­raden, darunter Freunde, wie Leute, die man nicht so mag, die aber dazu­gehören. Es gibt Paral­lel­klassen. Und es gibt die Leute in den Klassen über einen, und die in den Klassen darunter. Es gibt die Älteren und die Jüngeren.
Violeta Kovacsics, die dabei saß, und seit neun Jahren hier­her­kommt, also vier Jahre weniger als ich, sah es ähnlich, und nickte zustim­mend.
13 Jahre Cannes – so lang wie die Schulzeit. Das bedeutet also, dass ich in diesem Jahr mein Abi mache.

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Endlich war ich mal auf einer Party, und gleich auf der richtigen: Am letzten Montag lud Chile ein. Parallel fand zwar auch die Party von »Match Factory« für Miguel Gomes' drei Arabian Nights-Teile statt. Zu der wäre ich auch gern gegangen, aber die Arabian Nights hatte ich leider nicht sehen können. Sie liefen in der Quinzaine und dauern zusammen über sechs Stunden, das ist für mich, wie für viele andere, auf diesem Festival nicht drin. Ich werde bestimmt Gele­gen­heit haben, sie nach­zu­holen.
So habe ich dann auch den Moment versäumt, in dem Miguel Gomes seiner Freundin auf der Party einen Heirats­an­trag gemacht hat. Mir wurde das dann nur erzählt, von Menschen, die die Gele­gen­heit subop­timal fanden, und mir erzählten, die Freundin habe vor allem geschockt gewirkt. Gomes selbst meinte dann wohl ins Micro: »She said yes«. Was hätte sie auch sagen sollen, vor allen Leuten, auf seiner Premiere. Es ging an dem Abend nur um ihn.

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Beim chile­ni­schen Abend ging es dann um... Chile. Es gab keine großen Reden, auch keinen das Gleich­ge­wicht störenden chile­ni­schen Wett­be­werbs­film, aber dafür viele nette Menschen in einer ange­nehmen Mischung aus Markt­teil­neh­mern und Kritikern. Eine von ihnen, Pamela Pienz­obras, die aus Chile kommt, aber in Paris lebt, hatte Geburtstag. Am Abend zuvor hatten wir mit ein paar Drinks hinein­ge­feiert, im »Irish Pub«, wo wir zuvor zugesehen hatten, wie der FC Barcelona durch ein 1-0 beim noch amtie­renden Champion Athletico Madrid endgültig spani­scher Meister geworden war. Der Raum war voller Katalanen und Argen­ti­nier, die wegen Messi und trotz Athle­ticos tollem argen­ti­ni­schem Coach Simeone Barca adoptiert haben. Im Augen­blick des Schlußp­fiffs begannen einige die Barca-Hymne zu singen, und Sekunden später sang der ganze Raum. Schön! Da können wir in Deutsch­land noch ein paar Dinge lernen.

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Traurig hingegen, ist der Zustand jener Straßenecke, die früher mal »das deutsche Eck« genannt wurde – was natürlich immer schon bedroh­lich klang, wo ich aber in meinen ersten Cannes-Jahren viele Abende verbracht habe: Des »Petit Majestic«. Ich erinnere mich noch, dass ich dort vor wenigen Jahren Atom Egoyan getroffen hatte, und natürlich sehr stolz war, dass er mich wieder­erkannte, und zuerst gesehen hatte, und auf mich zuging. Diesmal wie schon 2014 und 2013 war ich nur ein einziges Mal da. Und das kurz, denn die Erfahrung war überaus traurig. Viel­leicht war ich zu spät, und sollte da mal in der ersten Festi­val­hälfte hin. Aber alles war jeden­falls derart herun­ter­ge­kommen, und man nicht einen einzigen inter­es­santen Menschen, dass ich wirklich das Gefühl hatte, sich dort länger als eine halbe Stunde aufzu­halten, ist rufschä­di­gend. Es gibt Orte, die haben ihre Zeit, und die Zeit des »Petit Majestic« ist unbedingt vorbei.
Die der Deutschen in Cannes, die ist mal wieder noch nicht gekommen.

8. Folge 19.05.2015
Der Irrsinn im Herz des Kapi­ta­lismus – High Heels, Stroh­frauen und die Zins­knecht­schaft

»Just dont keep me in the dark.« – »Afraid of the dark?«
Dialog zwischen Emily Blunt und Benicio del Toro, aus: Sicario

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Es war einmal, da war das Kino leicht zu verstehen. Da gab es nur zwei Arten von Kino. Sie sind gekoppelt an die Namen aus der Grün­der­zeit des Mediums: Lumieres und Melies. Der erste steht für das Doku­men­ta­ri­sche, die Aufnahme einer vorge­fun­denen Realität auf möglichst authen­ti­sche Weise. Der zweite steht für das Phan­tas­ti­sche, die Erzeugung einer neuen, nicht-vorhan­denen Wirk­lich­keit, Spektakel und Welt­schöp­fung. Ob man das Kino auch heute noch mit diesen Kate­go­rien begreifen kann?

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Herbst 1985 – ich las gerade »Der Idiot« von Dosto­jewski, hatte seit einem Monat eine japa­ni­sche Freundin, die passen­der­weise in Frank­reich wohnte, die dortigen Hitpa­raden führte Stephanie von Monaco an, und die 80er Jahre waren so dermaßen 80er-Jahre-haft wie nie zuvor und nie danach. In der Zeitungen war Aids das Thema, Dieter Schatz­schneider war der Torjä­ger­könig von Hannover 96 und irgend­wann kam zum ersten Mal Tina Turner im Radio: »We dont need another hero.«
Es waren schon immer eher primitive Reize, die das Interesse – Faszi­na­tion wäre zu hoch gegriffen – an Mad Max begrün­deten. Aber es war auch die Frage nach dem Neuen Helden, oder überhaupt dem Heroi­schen in einer zeit, die einer­seits keine Helden mehr wollte, die sich auch mit den Softies und Sensi­bi­listen und den spät­exis­ten­tia­lis­ti­schen Zerknirschten des Autoren­kinos immer schwerer tat, wohl auch weil man spürte, dass selbst ihre eigenen Regis­seure nicht an sich glaubten.
Man wollte spätes­tens seit Ende der 70er wieder Spektakel, wollte neue Mytho­logie und zwar nicht immer nur die von Star Wars. Mad Max und Mel Gibson waren eine taugliche Alter­na­tive.

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»Auf Wunsch der Filme­ma­cher«, so die nette Pres­se­dame Gudrun Horst­meier bei der Vorab­vor­füh­rung am Montag
in München, werde Mad Max – Fury Road nur in 2-D gezeigt. Mir soll es recht sein, weil ich 3-D sowieso über­flüssig bis doof finde, aber was sind denn das für Filme­ma­cher? Finden die ihre eigenen 3-D Effekte jetzt schon so scheiße, dass sie sich dafür schämen?
Sie hätten jeden­falls keinen Grund. Mad Max – Fury Road, der nun vierte Teil des legen­dären austra­li­schen Kult­spek­ta­kels, erlebt 35 Jahre nach dem aller­ersten Mad Max seine Welt­pre­miere und ist der wahre Eröff­nungs­film von Cannes.
Nicht zuletzt, weil dies ein Film der starken Frauen war.

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Vorstel­lungen fangen zu spät an. Filme, sogar Wett­be­werbs­bei­träge beginnen im falschen Format, haben zwischen­durch grobe Projek­ti­ons­fehler. Während Vorstel­lungen bereits laufen, lässt man noch Zuschauer in den Saal, was die, die bereits sitzen und den Film sehen möchten, natürlich extrem stört – all so etwas konnte man in Cannes noch nie beob­achten, in diesem Jahr kommt es alles zusammen.
Auch häufen sich in diesem Jahr die Absper­rungen. Nach den Abend­vor­stel­lungen werden die Roll­treppen des Festi­val­pa­lais ohne erkenn­baren Grund zuge­stellt. Der Platz vor dem Palais ist weitaus begrenzter, als bisher, mit dem Ergebnis, dass das Gedrängel zunimmt.
Das Festival scheint seltsam desor­ga­ni­siert. In diesem Jahr gibt es soviel Chaos, wie noch nie zuvor in den dreizehn Jahren, die ich hierher komme. Und das fügt sich zu einem Wett­be­werb, der zwar nicht schlecht ist, aber auch etwas merk­würdig Unfer­tiges, Unge­fügtes hat, der nicht so gut »kompo­niert« scheint, wie in früheren Jahren, und der auch nicht gut program­miert ist – die Aufein­an­der­folge der Filme stimmt diesmal viel weniger, als in früheren Jahren.
Ob das viel­leicht mit dem Weggang von Gilles Jacob zu tun hat?

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Als das »Year of la femme«, das »Festival der Frauen« wird das dies­jäh­rige Cannes hier von vielen angesehen. Das liegt an vielen Haupt­rollen für Darstel­le­rinnen und an der – relativ – hohen Zahl von Regis­seu­rinnen in allen Festi­val­sek­tionen.
Dazu passt – oder viel­leicht doch gerade nicht – dass es in diesem Jahr einen veri­ta­blem Schuh­streit gegeben hat. Dazu muss man wissen, dass Cannes seinem Ruf, in formalen Fragen im Gegensatz zum Film­ge­schmack altmo­disch und konser­vativ zu sein, und den Glanz des bürger­li­chen Zeital­ters nach dessen Ende stur weiter zu pflegen, dadurch gerecht wird, dass es hier bei jeder der abend­li­chen Gala­vor­stel­lungen der offi­zi­ellen Sektion (»Wett­be­werb«, »Außer Konkur­renz«, und »Seance speciale«) eine Klei­der­ord­nung gibt, die fran­zö­sisch, also rigide, durch­ge­setzt wird. Während diese bei den Männern relativ klar ist – Smoking, Frack oder Anzug, Krac´vatte oder Fliege, festes Schuhwerk – ist sie bei Frauen relativ inter­pre­ta­ti­ons­fähig. Keines­wegs ist immer ein langes Abend­kleid gefordert, der kurze Minirock tuts auch, viele Frauen kommen in Leder­ja­cken und zeigen sehr viel nackte Haut, aber auch Folk­lo­ris­ti­sches, wie histo­ri­sche Trachten sind erlaubt, solange diese nur exotisch genug sind. Dirndl ginge wohl kaum, Sari aber schon, genau wie der Bambus­rock bei einer Südsee­schön­heit. Nur eines schien bisher klar: Absatz muss sein, je höher, desto besser.
Oder auch nicht. Denn man hatte in der Vergan­gen­heit sogar schon offi­zi­elle Mitar­beiter und Jury­mit­glieder in Flip-Flops über den roten Teppich laufen sehen. Und auf Nachfrage des Magazins »Hollywood Reportter« stellte sich jetzt heraus, dass »beyond formal dress, there was no specific mention about wearing heels.«

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Dies alles ist zunächst einmal deswegen der Erwähnung wert, weil offenbar ausge­rechnet bei der Premiere von Todd Haynes Carol, nun wirklich einem Frau­en­film, vielen Frauen von den Saal­die­nern der Eintritt mit der Begrün­dung verwehrt wurde, ihr Schuhwerk sei unan­ge­messen. Sandalen, aber auch zu flache Ansätze seien nicht gestattet.
Aus diesem Grund kam es vor der Premiere von »Sicario« am Dienstag zu Protesten der Filme­ma­cher, und der Haupt­dar­stel­lerin Emily Blunt, die bei der Pres­se­kon­fe­renz meinte, sie sei über derartige Vorschriften »sehr enttäuscht«. Jeder solle am Abend flache Schuhe tragen.

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Man darf sich aller­dings auch fragen, ob High Heels wirklich ein weiteres Mittel der Unter­drü­ckung der offenbar doch recht schwachen weib­li­chen Geschlechts durch die alles domi­nie­renden, so starken wie bösen unter­drü­ckungs­lüs­ternen Männer sind.
Wird es bald so sein, dass man High Heels so verbieten muss, wie das Tragen eines Kopftuchs durch Beam­tinnen?

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Kommen wir zu Wich­ti­gerem, den Filmen: Sicario stammt vom Franco-Kanadier Denis Ville­neuve. Sein Film ist auf den ersten Blick vor allem ein konven­tio­neller Thriller über ameri­ka­ni­sche Poli­zisten, die es mit der mexi­ka­ni­schen Drogen­mafia zu tun haben. Der Vorspann erklärt, dass Sicario ursprüng­lich jene Krieger der Zeloten meinte, die die römische Besat­zungs­macht bekämpften. Und dass das Wort sich heute auf die Auftrags­killer der mexi­ka­ni­schen Drogen­mafia bezieht.
Aber wer eigent­lich hier in diesem Film genau der im Titel gemeinte »Sicario« ist, das bleibt vorläufig offen.

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Dies ist ein haupt­säch­lich in Amerika spie­lender Poli­zei­thriller, der stark davon geprägt ist, dass hier ein Kanadier auf Amerika und die ameri­ka­ni­schen Verhält­nisse blickt. Alles spielt in jenem Terrain zwischen Südka­li­for­nien, Texas, El Paso, Tijuana und Ciudad Juarez, jener blutigen Zwischen­zone am mexi­ka­nisch-ameri­ka­ni­schen Grenz­streifen, der von Menschen­handel und Drogen­ge­schäften geprägt ist, und im Hollywood-Kino bereits ein eigenes Genre begründet hat: Das der »Border«-Filme. Ville­neuve zitiert diese kennt­nis­reich, ange­fangen mit Touch of Evil von Orson Welles, dessen hundertster Geburtstag bei diesem Festival auch gefeiert wird, über The Wild Bunch, bis hin zu Lone Star, Traffic oder Perdita Durango. Ville­neuve fehlen die Schuld­ge­fühle gegenüber Mexiko, die im ameri­ka­ni­schen Kino oft spürbar sind.
Es ist ein oft düsterer Film, der von oben heraub auf die Wüste blickt, als handle es sich um eine Mond­land­schaft, der Horror-Musik darunter legt. Ein Film, der sich auch Zeit nimmt, um seine Story zu erzählen, der insgesamt cool gemacht ist und sich aufs Visuelle konzen­triert.
Schnell wird sichtbar, dass Ville­neuve anders insze­niert, als in Hollywood üblich: Statt mit Schnitt­or­gien Unüber­sicht­lich­keit zu schaffen, zieht seine ruhige, beob­ach­tende Kamera (Roger Deakins) die Zuschauer ins Geschehen hinein, und schafft ein Gefühl für die Lage seiner Figuren. Als eine Sitzung hoher Beamter gezeigt wird, gibt es keine Close-Ups, keine Schnitte.
Die beste Szene ist dann eine Fahrt mit fünf Polizei-Autos nach Mexiko, wo ein gefan­gener Gangster den Ameri­ka­nern übergeben und außer Landes geschafft wird. Mal aus dem Flugzeug gefilmt, dann aus den Autos heraus, vorbei an gehängten Leichen, eskor­tiert von mexi­ka­ni­scher Polizei. Zurück am Gren­zü­ber­gang werden sie abge­fangen – das ist glänzend vorbe­reitet, ein Spiel der Blicke und Beob­ach­tungen mit ständig wach­sender Spannung.

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Es beginnt mit einem Poli­zei­ein­satz: Ein FBI-Kommando stürmt ein Haus, einen Unter­schlupf des Kartells. Das ganze Gebäude ist voller Leichen. In den Wänden finden sie über 35 Tote. Zugleich tappen sie in eine einge­baute Falle, und mehrere Beamte sterben oder werden schwer verletzt. Dies ist der Auftakt. Die von Emily Blunt gespielte Haupt­figur ist eine junge Poli­zistin. Sie wird von einer Spezi­al­ein­heit ange­heuert, die, das ist schnell klar, den schmut­zigen Krieg der Kartelle zurück nach Mexiko trägt, mit halb­le­galen, oft einfach krimi­nellen Methoden und einfach Mord. »We are making enough noise, that Ruiz is called back to Mexico by his boss. Then we know, where is boss is.« so erklärt das einmal ein Beamter. »In the meantime, first sponge ever­y­thing up. Learn, that’s why you are here!«
Zero Dark Thirty bildet ein fernes Referenz-Echo für diesen Film. Aber die Heldin hat schnell Zweifel, behart auf den Regeln. Doch leider ist die Haupt­figur hier zu oft einfach nur eine Empörte. Schade.
Besser wäre es gewesen, den Konflikt stärker als mora­li­schen heraus­zu­ar­beiten: Kann man Feuer nur mit Feuer bekämpfen?
ls sie einmal einwendet: »I am not a soldier. This is not what I do.« bekommt sie einfach zur Antwort: »This is the future.« Könnte ja etwas dran sein.

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Dies ist auch deshalb ein hervor­ra­gender Film, weil er zeigt, wie viele ameri­ka­ni­sche Behörden drauf sind... Und dass ihr Verhalten von ganz oben unter­s­tützt wird, von Poli­ti­kern, »von denen, die ins Amt gewählt werden, nicht ernannt«. Diese Kritik an der Demo­kratie und ihren Lebens­lügen, noch mehr ihrer Doppel­moral, ist nicht neu, aber notwendig.
Als Benicio Del Toro, der einen mexi­ka­ni­schen Poli­zisten spielt, der mit den USA zusam­men­ar­beitet, in einen Keller kommt, wo er einen Verdäch­tigen foltern wird, pfeift er kaum merklich »Hail to the chief«, jenes Lied, das immer gespielt wird, wenn der US-Präsident einen Ort betritt. Muss es noch deut­li­cher sein? »Now You'll learn what’s hell in Yankee-Land.«
Und so geht es auch um eine Demo­kratie die ihre selbst­ge­setzten Grenzen immer erweitert, und die Wählerr betrügt. Denn der einzige Grund, warum Kate ünerhaupt für diese Spezi­al­ein­heit verpflichtet wurde ist der, dass es sich um die CIA handelt. Die CIA darf im Inland nicht operieren, ohne dass das FBI beteiligt ist. Sie ist eine Strohfrau.

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Das Ende ist weder ein gutes, noch ein schlechtes. Kate wird zur Falsch­aus­sage gezwungen, mit als Selbst­mord getarntem Mord bedroht, wenn sie nicht die Verbre­chen ihrer Kollegen deckt. Aber es hat die Richtigen getroffen.
Und Benicio del Toro, der die komplette Familie des Drogen­bosses mit diesem erschossen hat, empfiehlt Kate: »You should leave to a small city where law is still .... You will not survive here. We are in the lands of the wolves.«

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Es ist schon öfters bemerkt worden, dass man den Wölfen vermut­lich Unrecht antut, wenn man sie mit Gewalt und Unso­li­da­rität, mit blutiger Beutegier asso­zi­iert. Aber das wird den Wölfen nichts nutzen.

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Dass Genrekino politisch engagiert sein kann, beweist auch der korea­ni­sche Film Office von Hong Won-Chan, der außer Konkur­renz läuft. In den ersten Minuten bringt ein Fami­li­en­vater Frau und Kinder um. Doch nicht die Mörder­jagd steht danach im Mittel­punkt, sondern die Dynamik am Arbeits­platz, wo die Arbeits­kol­legen des Täters sich über Gewis­sens­bissen und Schuld­zu­wei­sungen selbst zerflei­schen. Sehr gekonnt zeigt Office das Büro ebenfalls als Wolfs­ge­sell­schaft, »The office is filled with wolves, trying to rip each other into pieces.«. Office ein univer­saler Psycho-Horror-Thriller über den verbor­genen Irrsinn im Herz des Kapi­ta­lismus, und könnte genauso gut in ameri­ka­ni­schen Büro­etagen spielen.

9. Folge 21.05.2015
Der lange Weg nach Westen – Scharfes Schwert und schwaches Herz: Der Richard-Gere-Buddhismus des Westens und das neue Nirwana-Kino

»Der vorgeb­li­chen Echtheit, dem archai­schen Prinzip von Blut und Opfer, haftet schon etwas vom schlechten Gewissen und der Schlau­heit der Herr­schaft an, ... welche heute der Urzeit als Reklame sich bedient. Schon der originale Mythos enthält das Moment der Lüge, das im Schwin­del­haften des Faschismus trium­phiert...«
Aus: Dialektik der Aufklärung

»It is really not he, the killer, but the sword itsself, that does the killing. He, the killer, had no desire to do harm to anybody, but the enemy appears and makes himself the victim. It is as so the sword performs auto­ma­ti­cally its function of justice, which is the function of mercy!«
Deisetz Teitaro Suzuki, buddhis­ti­scher Philosoph

»Cases where happiness is gained by magic do not count. Happy states, born to delusion, are unde­served.«
Owen Flanagan, buddhis­ti­scher Theologe und Hirn­for­scher

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Heute bin ich zum ersten Mal im Kino einge­schlafen. An irgend­einer Party lag das aber nicht, sondern am Film, in dem ich saß: Es war  The Assassin vom Taiwan-Chinesen Hou Hsiao-hsien. Er war sicher nicht sehr glücklich program­miert, eine Woche früher wäre ich viel aufnah­me­be­reiter gewesen. Zugleich kann man fragen, ob die schläf­rige Stimmung – und im Salle Debussy dösten neben, vor und hinter mir sehr viele Kollegen vor sich hin – dem Film nicht am Ende nutzte. Denn dies ist ein Film von der Art, in der vor allem nichts passiert, und manchmal das Nichts passiert, und den man dann gern »meditativ« nennt. Ein Film zugleich mit wunder­schönen, pracht­vollen Bildern, insbe­son­dere Natur­auf­nahmen, Bildern, die viel­leicht die schönsten des Wett­be­werbs sind.
Man hatte als Zuschauer keine Abwehr­kräfte, keinen Verstan­des­wi­der­stand und so tröpfelte The Assassin ganz zärtlich in einen hinein.

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Warum dann nach dem Film viele – glück­li­cher­weise nicht alle – meiner Kollegen so begeis­tert waren, dass der Film zumindest unter den dem altmo­di­schen Autoren­kino verpflich­teten wie den jungen Akade­miker-Kritikern zu einem der Palmen-Favoriten mutierte, das will mir nicht in den Kopf.

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Alles spielt im 9. Jahr­hun­dert, zur Zeit des Verfalls der Tang-Dynastie. In den Provinzen erheben sich lokale Fürsten. Die Haupt­figur ist Nie Yinniang, gespielt von der mindes­tens zehn Jahre zu alten, wenn auch immer noch blendend ausse­henden Shu Qi. Sie wurde von ihren Eltern einst im Wald ausge­setzt, und wurde von der Prin­zessin Jiaxing, die auch eine Art Äbtissin ist, zu einer perfekten Kämpferin geschult. Von der wird Nie zu Beginn des Films zu einem Auftrag geschickt: »Cut him into pieces, like he were a bird in flight.« Als sie versagt, weil sie sich ein indi­vi­du­elles Urteil gestattet, statt einfach ihren Job zu tun, wird sie zur Strafe in ihre Heimat geschickt, die sie seit 13 Jahren nicht gesehen hat. Dort soll den Anführer des rebel­li­schen Weibo-Clans, töten, der auch der Mann ist, dem sie einst verspro­chen wurde. Und vor allem eine Lektion lernen: »You've mastered the technics of the sword, but your heart is weak.«

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Das Haupt-Motiv teilt der Film mit Denis Villeuves Sicario. Erinnern wir uns: Auch dort steht eine Frau im Zentrum, die sich Zweifel und ein eigenes Urteil gestattet, und dadurch daran gehindert wird, in der Männer­welt ganz einfach ihren Job zu tun. Mir scheint in diesen Erzäh­lungen von Männern über Frauen etwas Frau­en­feind­li­ches zu liegen. Jener Kitsch, der in Frauen das sensi­blere Geschlecht, das skru­pulöse Geschlecht sieht. Manche Frauen, sogar manchen Femi­nis­tinnen gefällt das auch. Aber auch wenn die Filme solcher Haltung recht zu geben scheinen, gibt es in ihnen irgend­wann einen Moment, in dem die Mädels das Zimmer verlassen und die Jungs dann doch allein die Arbeit machen.
Die Alter­na­tive kann jetzt nicht darin liegen, dass Frauen im Action­kino immer nur als Klone von Sarah Connor (»Termi­nator 2«) denkbar sind. Aber eine Alter­na­tive zu den skru­pulösen Grüb­le­rinnen, den hand­lungs­schwa­chen Heulsusen und den dauer­empörten Hyste­ri­ke­rinnen sollte es schon geben können. Viel­leicht fangen wir mal damit an, dass Frau­en­fi­guren im Kino einfach ihren Job machen. Wenn sie Auftrags­kil­le­rinnen sind, heißt der: Töten.

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Formal betrachtet ist das alles überaus statisch erzählt, langsam bis zur Lahm­ar­schig­keit, bis zum Still­stand, ein bleiern schwerer, oft schwer­fäl­liger Film. Man sieht zwar zwei, drei Schwert­kämpfe im Wald – stili­siert und hoch-ästhe­tisch choreo­gra­phiert. Das ist im Stil eher japanisch als chine­sisch insze­niert – Hou hat in Japan gedreht -: es macht pling plang und setzt zwei Hiebe, und schon ist alles vorbei. Kein Wort wird zwischen minu­ten­lang den Figuren gespro­chen.
Aktiv ist nur die Natur: Am Ende gibt es eine sehr schöne Szene auf dem Berg. Unsere Heldin hat sich ein weiteres Mal eigene Ansichten gestattet, und bekommt von ihrer Chefin gesagt: »The way of sword is pityless.›Dann dringen in wenigen Sekunden die Wolken auf den Berg vor, wie vor einem Jahr bei Olivier Assayas die Maloja-Schlange.
Die Helden ist bald wieder im Tal, geht zu ihrer Familie, und dann wandern sie weiter nach Westen.‹«

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The Assassin ist ein perfektes Beispiel für die ästhe­ti­sie­rende Seite des asia­ti­schen Kampf­kunst­kinos. Aber am Ende ist dies doch mehr ein typischer Hou Hsiao-hsien-Film ist, als ein Film in der Nachfolge von Crouching Tiger, Hidden Dragon, von Hero oder House of Flying Daggers. Seine Ästhetik ist seit jeher eine Ästhetik der Verwei­ge­rung. Hinter den tollen Bildern liegt bloß eine leere Hülle. Freilich bewusst. Denn Hou will das Nichts erzählen. Doch abgesehen davon, dass das viel­leicht für einen Martial-Arts der falsche Ansatz ist, fehlt hier auch der »Payoff« um mal das hässliche Wort der Ameri­kaner zu benutzen. »The Assassin« fehlt die glamouröse, über­schüs­sige Seite des Martial-arts ebenso, wie die heroische, pathe­ti­sche. Dies ist Kino, in dem der Exzeß allen­falls in der Perfek­tion der Verwei­ge­rung zu finden ist. Doch der offene Bruch mit den Erwar­tungen ist unpro­duktiv.

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Hou fehlt der Respekt vor dem Genre. Es ist völlig legitim, mit den Erwar­tungen, die an ein Genre gerichtet sind, zu brechen. Aller­dings läuft das Kunstkino leicht in Gefahr, den Erwar­tungs­bruch selbst zum Sterotyp zu erheben, und sich es in diesem gemütlich einzu­richten. Womöglich ist es ja schwerer, die Erwar­tungen an ein Genre zu erfüllen, ohne die ästhe­ti­schen Ansprüche, die man ans eigene Schaffen legt, aufzu­geben. Ang Lee und Zhang Yimou haben in ihren Wu Xia-Filmen gezeigt, wie das gehen könnte, sie haben spezielle Genre­filme geschaffen, die das Genre über­schritten haben. Hou Hsiao-hsien ist das nicht geglückt, er hat sich dem Genre einfach verwei­gert.

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So bleiben schöne, mitunter atem­be­rau­bende, magne­ti­sie­rende Bilder. Allein ihret­willen verdient dieser Film unsere Aufmerk­sam­keit. Nicht hingegen für seine Geschichte oder gar seine Botschaft. Sie ist derart vage, dass man zwar alles Mögliche hinein­legen kann. Weil der Film aus Taiwan kommt, auch mal wieder die übliche Politik: Tiefsinn über das Ende des chine­si­schen Imperiums, usf.
Aber es bleibt banal: Keine Gewalt, Skrupel, Zweifel... Pazi­fis­ti­sches Kampf­kunst­kino ist jedoch nicht nur ein Wider­spruch in sich, es ist auch der mit Anstand moralisch billigste Ausweg. Es ist das, was man im Westen in gewissen Kreisen offenbar gern sieht, es ist Martial-Arts für die Menschen, die gern lactose-freie Milch trinken, Kaffee ohne Koffein, Bier ohne Alkohol...

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Sein »schlech­tester Film« sagt Engin, das finde ich nicht. Schöner Film sagt Erika Gregor, das finde ich jetzt auch nicht. Aber ein Anti-Martial-Arts-Martial-Arts-Film, der enge Grenzen hat. Was über Nie gesagt wird, könnte man auch über Hou Hsiao-hsien sagen: »You've mastered the technics of the cinema, but your heart is weak.«

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»Go West!« – eine Gruppe von Chinesen tanzt ausge­lassen zu dem Song »Go West« von den Pet Shop Boys. »Mountains May Depart« beginnt mit einer groß­ar­tigen, doppel­deu­tigen, für sich stehenden, zugleich hundert Tore öffe­n­enden Szene. Wir sahen sie gleich zweimal, den die in diesem Jahr wie bereits erwähnt schlam­pigen Vorführer von Cannes hatten ein falsches Format einge­stellt. Für einen Moment dachte ich: Jetzt sehe ich die Goldene Palme. Nil aus Istanbul ging es, wie sie später erzählte, ganz genauso. Nach Ende des Films ist man sich nicht mehr ganz so sicher, aber der neue Film von Jia Zhang-ke, einem der wich­tigsten und inter­na­tional bekann­testen Filme­ma­cher der Volks­re­pu­blik China, der 2006 den Goldenen Löwen von Venedig für Still Life gewann, ist fraglos einen der besten und zugleich der wohl riskan­teste Film im Wett­be­werb von Cannes.
Denn Go West! ist nicht nur ein berühmter Popsong, sondern auch die kultu­relle und poli­ti­sche Ausrich­tung, die die Volks­re­pu­blik China in den letzten zwei bis drei Jahr­zehnten genommen hat. Eine Ausrich­tung, die weniger Bürger­frei­heit, als übelste Auswüchse des Wildwuchs-Kapi­ta­lismus zur Folge hatte, und die Jia in seinem Film kriti­siert.

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Auf den doppel­deu­tigen Beginn folgt eine epische Erzählung in drei Kapiteln über eine Spanne von 26 Jahren. Diese drei Teile sind durch eine unter­schied­liche Ratio – 4:3; dann 1:1.85; dann 1:2:35 – unter­schied­li­ches Film­ma­te­rial und unter­schied­liche Farb­ge­bung markiert.
Auch der Stil der hervor­ra­genden Kamera von Yu Lik Wai ist jeweils unter­schied­lich. Im Zentrum stehen drei Freunde: Beginnend 1999 im letzten Frühling des 20. Jahr­hun­derts, über das Jahr 2014 geht es im letzten Teil in die Zukunft des Jahres 2025. China will die Ameri­ka­ni­sie­rung abwerfen, und ringt mit der eigenen Identität.

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Der Film ist rau und uneben erzählt. Jia inter­es­siert sich nicht für die formale Glätte, die fast alle anderen Filme hier haben. Aber er findet tolle einpräg­same Bilder wie einen Tiger im Käfig, und bietet groß­ar­tige Szenen. Die drei Figuren sind weniger Indi­vi­duen, als Bedeut­jgs­träger und Psycho­logie inter­es­siert Jia gar nicht. Tao (Zhao Tao), die Frau (eine weitere spannende weibliche Haupt­figur) zwischen den zwei Männern, von denen der eine Berg­ar­beiter ist, der andere eine Tank­stelle besitzt, verkör­pert gewis­ser­maßen China, das sich zwischen Kapi­ta­lismus und Kommu­nismus entscheiden muss. Sie entscheidet sich für den Mate­ria­listen. Der andere, der Idealist, kehrt im zweiten Teil an Krebs erkrankt zurück. Da lebt sie schon getrennt von ihrem Mann, der hat das Sorge­recht für den gemein­samen Sohn, den er »Dollar« taufte.
Das Ganze ist demnach auch eine Sozi­al­sa­tire, erst recht, als »Dollar« mit Hermes-Schal zu Besuch kommt: »Papas name is Peter now.« So weit, so sche­ma­tisch. Der Film ist eine Allegorie, die leicht entschlüs­selbar ist. Man wird dieses Films und seiner Viel­schich­tig­keit nicht durch Nach­er­zäh­lung Herr. Sein Reiz liegt in einzelnen Momenten und in der Konfron­ta­tion der drei Zeiten Chinas: Zukunft, Vergan­gen­heit, Gegenwart.
Die Zukunft des Jahres 2025 zeigt Jia hell, gläsern, pastell. Vage erinnert mich das visuell an Code 46 von Winter­bottom. Die Pads sind gläsern, trans­pa­rent. Man erinnert sich an die »Opfer des malay­si­schen Flugzeugs vor elf Jahren«

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Eine Frage, die offen bleibt, wäre die nach der poli­ti­schen Agenda des Regis­seurs: Beklagt er den Weg in die Moderne als solchen, oder nur die einsei­tige Hinwen­dung zu Amerika? Und ist es nicht sehr konser­vativ und auch ein wenig schlicht, das Alte und Verlorene gegen das Neue, Ungewisse auszu­spielen? Und was ist das Alte? Der Kommu­nismus der Mao-Jahre? Oder das Alte China vor 1911?
Wir werden über diesen Film noch mehr nach­denken und schreiben müssen, um ihn zu entschlüs­seln – das ist schon einmal etwas Gutes.

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Mountains May Depart ist nur ein Beispiel für den inhalt­li­chen wie formalen Reichtum des ostasia­ti­schen Kinos. Diese Filme haben immer etwas zu sagen, sie erzählen uns etwas über das Leben in den Ländern des Konti­nents, über politisch-kultu­relle Verän­de­rungen, wie über neue soziale Heraus­for­de­rungen.

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Denen stellt sich auch Taklub vom Phil­ip­pinen Brillante Mendoza. Dieser überaus origi­nelle und gleich­falls sehr mutige Regisseur in der Tradition des Neorea­lismus erzählt in seinem neuen Film  Taklub von einer Gruppe von Menschen die nach dem verhee­renden Wirbel­sturms im vergan­genen Jahr obdachlos geworden sind. Im Zentrum steht Bebeth (gespielt vom phil­ip­pi­ni­schen Star Nora Aunor). In ihrer beschei­denen Unter­kunft hat sie vier Tassen mit den Bildern ihrer Kinder. Es dauert eine Weile, da versteht man, dass drei von ihnen tot sind, ums Leben gekommen durch den Taifun Haiyan. Mendoza hat in den Slums und während schwerer Stürme gefilmt – mit Stars, aber ohne Kompro­misse ans Melodram, sieht man einmal von der senti­men­talen Musik ab. Sein Werk fesselt gerade in seiner Rauheit, in seiner suchenden, offenen Haltung und ist ein geglücktes Beispiel für enga­giertes Kino, das realis­tisch und direkt sein will, aber nie pädago­gisch oder predigend ist.

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Hat es dies je gegeben? Dass der Gewinner einer Goldenen Palme mit seinem nächsten Film nicht im Wett­be­werb läuft? So geschehen mit Apichat­pong Weer­a­set­hakul, dem Thailänder, der 2010 für Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives die Goldene Palme gewann, und seinem neuen Film Cemetery of Splendour. Warum diese Degra­die­rung? Was ist das? Offen­kundig eine Strafe. Aber wofür? Dafür, dass er die »Goldene Palme« gewonnen hat! Denn man hatte Uncle Boonmee zwar seiner­zeit in den Wett­be­werb einge­laden, aber nie geglaubt, dass er einen Preis gewinnen könnte, geschweige denn, den Haupt­preis.
Es war vor dem Hinter­grund solcher Infor­ma­tionen, die man mir jetzt einfach glauben muss, natürlich besonders inter­es­sant, der Premiere von Cemetery of Splendour zuzusehen. Als Cannes' künst­le­ri­scher Direktor Thierry Fremaux da mit Apicht­pong Weer­a­set­hakul auf der Bühne stand, war für jeden, der Körper­sprache lesen und genau zuhören kann, alles klar. Fremaux gab wie gewohnt den Enter­tainer, Weer­a­set­hakul sagte, er freue sich »wieder zurück in der Sektion für das inno­va­tive Kino zu sein«, und bedankte sich bei allen möglichen Leuten und Insti­tu­tionen – aber Thierry Fremaux wurde mit keinem Wort erwähnt. Der wiederum, über­setzte, wie man es von diesem Direktor gewohnt ist, die Worte der Regis­seure auch in diesem Fall – und wie gewohnt eben nur jene, die er auch über­setzen wollte. Dann, als Weer­a­set­hakul fast schon wieder von der Bühne runter war, kam noch ein »ach ja, und ich bedanke mich natürlich auch bei Thierry Fremaux.« Dann umarmte Weer­a­set­hakul Fremaux etwas linkisch – und der drehte sich erkennbar zur Seite.

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Ein eleganter, cooler, alles sagender Auftritt des Regis­seurs, seinen Film macht das aber nicht besser. Es ist gewis­ser­maßen nur Gossip. Denn ich gebe es gern zu: In der Sache verstehe ich Fremaux, bin ganz bei ihm. Ich hätte Uncle Boonmee auch nicht in den Wett­be­werb einge­laden, denn ich finde den Film künst­le­risch schwächer und inhalt­lich viel unin­ter­es­santer, als Blissfully Yours,  Tropical Malady und Syndromes of a Century.

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Dunkel ist es, der Mond scheint auch nicht. Wir lernen ein Kran­ken­haus kennen, draußen machen sich die Bagger der Armee zu schaffen. Was sie da wollen, weiß keiner genau, um so deut­li­cher spinnen Verschwörungs­theo­rien. Im Kran­ken­haus schlafen alle Patienten, es sind Soldaten später begreifen wir, dass sie die Schlaf­krak­heit haben, und dass die nicht so schnell aufwachen werden, weil unter dem Kran­ken­haus die Toten einer Schlacht aus grauer Vorzeit liegen, deren »Geister« den Soldaten »die Energie entziehen«. Die Soldaten wachen auch mal zwischen­durch auf und dann schlafen sie ganz plötzlich wieder ein. Es gibt Medien, die mit den Tief­schla­fenden kommu­ni­zieren, es gibt Götter, die sich mate­ria­li­sieren und am Essens­tisch kichern. »we all dream« – ganz genau...
Die Therapie-Lampen wechseln ihre Farben. Sie leuchten vor allem hellblau, neon-hellblau. Irgend­wann liegt da ein toter Hund, sieht man Spuren des Terrors. Irgend­wann sieht man einen Mann im Dschungel seine Notdurft verrichten – was die Geister im Boden jetzt wohl dazu sagen, wird nicht über­lie­fert.

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Für den Betrachter ist das erst einmal vor allem stink­lang­weilig. Es passieren natürlich viele kleine unschein­bare Dinge, aber ganz grund­sätz­lich passiert gar nichts.
Natürlich kann man zu alldem nun sagen, der Film sei »traum­wand­le­risch frei in den Zusam­men­hängen und Möglich­keits­räumen. Kausa­li­täten gibt es keine, keine Sicher­heiten, lauter zuge­wach­sene Felder, durch die wir uns selbst einen Pfad schlagen können.« (critic.de) Das klingt zwar so, als seien Kausa­li­täten und Sicher­heiten Waffen des Terrors, aber meinet­wegen.
Man kann aller­dings auch sagen: Dies ist ein Film, der einfach ein paar banale Dinge weit­ge­hend zusam­men­hanglos abbildet, und dabei einen sehr weiten Raum öffnet auf dem Film­kri­tiker dann völlig unbeküm­mert drauflos asso­zi­ieren können.
Warum sollten wir daran ein Vergnügen haben Baggern zuzu­gu­cken, wenn diese aus Thailand stammen. Warum würde man nie in einem europäi­schen Film Baggern zugucken wollen?

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Warum sollte man sich besonders für Geister inter­es­sieren, wenn man sonst nicht an sie glaubt? Warum sollte man sich mehr für Medi­ta­tion inter­es­sieren, als für andere Dinge im Leben?
Ich gebe zu, dass mich das einfach subjektiv nicht inter­es­siert,und kalt lässt, aber darum geht es nicht. Denn viele Film­ge­schichten lassen mich kalt, oder inter­es­sieren mich nicht. Aber wenn dann ein Filme­ma­cher eine faszi­nie­rende Bild­sprache findet, ist das egal. Mit einer beson­deren Formen­sprache, mit Stil­willen und Sinn für das Besondere, mit Schön­heits­sinn kann jede Geschichte, kann das reine Nichts zu einem groß­ar­tigen Film werden. Aber was ist an Weer­a­set­ha­kuls Bild­sprache faszi­nie­rend? Ich weiß, dass ich mich da zumindest unter den von mir geschätzten Kollegen in einer deut­li­chen Minder­heits­po­si­tion befinde, aber ich verstehe einfach nicht, was an Weer­a­set­hakul das Besondere sein soll. Ich finde hier vieles nur banal.

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Aus meiner Sicht liegen die Gründe ganz woanders: Bei der Verkit­schung des Buddhismus im Westen. Sein Interesse für Spiri­tu­elles nehme ich dem Regisseur selber ja noch ab – wobei dies viel­leicht auch nur kolo­nia­lis­ti­sches Denken ist, nach dem Motto: so sind sie halt, die Thailänder. Nicht abnehmen kann ich es aber dem West­eu­ropäi­schen und ameri­ka­ni­schen Kritiker. Das ist Pseudo-Spiri­tua­lismus. Da wird es zu Kitsch, so ähnlich wie Manager die ein Wochen­ende im Buddhismus-Kloster machen, um dann mit neuer Kraft 1200 Leute »frei­zu­setzen«. Derart doppel­mo­ralig sind leider auch zu viele Kollegen drauf.
Cemetery of Splendour ist meiner Ansicht nach vor allem Buddhismus-Kitsch für die Kinder des Westens. Es ist ein Film, der sich offen gibt, aber extrem autoritär ist, in seiner Art den Betrachter dem Nichts auszu­setzen. Wir sind alle Fake-Buddhisten, wir glauben uns etwas Ursprüng­li­ches anzu­eignen, wenn wir uns »Fernöst­li­chem Denken« aussetzen, und landen doch nur bei einer weich­ge­spülten, an unsere Bedürf­nisse ange­passten Version, bei einem Richard-Gere-Buddhi­usmus.
Immer wieder sagt man über Weer­a­set­ha­kuls Filme und Bilder, sie seien »meditativ«. Wie oben erwähnt, halte ich dieses Wort für eine Floskel, mit der die eigene Ratlo­sig­keit ummäntelt wird. Man kan’s halt auch nicht gut begründen. Aber bezogen auf die Kulturen Asiens ist Medi­ta­tion einer der großen Mythen des Westens. Wir glauben dass der komplette ferne Osten meditiert, und wollen nicht wahrhaben, dass es dort von den Mönchen abgesehen kaum einer tut, viel weniger als im Westen.

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»At least he makes us talk about it.« sagte Nil. Das stimmt. At least. Mit aber fehlt nicht nur die Geduld, für so etwas, ich bin einfach spiri­tuell unmu­si­ka­lisch und glaube, dass solche Filme in 30, 40 Jahren, wenn der Zeitgeist ein anderer ist, niemanden mehr inter­es­sieren werden. Weer­a­seet­hakul ist jeden­falls nicht der Antonioni oder auch nur der Zhang Yimou unserer Tage. Und am Ende geht es nur um die.

10. Folge 23.05.2015
»Film ist wie Wein, man weiß nie, was heraus­kommt« – Trocken­eis­kino, Schmuddel-Shake­speare und erste Bilanz­ge­danken

Der letzte Wett­be­werbs­film ist Macbeth, die Verfil­mung des Shake­speare-Stücks durch einen Herren namens Justin Kurzel. Von dem hat man bisher noch nicht viel gehört, und wer Macbeth jetzt gesehen hat, weiß auch warum.
Kurzel ist Austra­lier, und war 2011 auf dem Fantasy Festival mit  The Snowtown Murders verteten, der bei der US-Kritik recht gut ankam. Als nächstes wird er den Game-Blog­buster Assassin’s Creed in ein Kino­ge­wand pressen. Macbeth dient ihm da offenbar zum Üben – kaum die richtige Voraus­set­zung um in Konkur­renz mit den »Macbeth«-Verfil­mungen von Orson Welles und Roman Polanski zu treten. Kurio­ser­weise sind für Assassin’s Creed mit Michael Fass­bender und Marion Cotillard die gleichen Haupt­dar­steller gelistet, wie bei Macbeth. Das wird ja was werden.

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Die Pres­se­vor­füh­rung von Macbeth begann uner­wartet lustig: Seit Jahren ist es ein längst müder Gag, dass vor mindes­tens jeder zweiten Wett­be­werbs­vor­füh­rung ins kurze Dunkel nach dem Cannes-Trailer irgend­einer laut »Raoooouuuul!!!« in den Saal brüllt. Wieso, und wer damit gemeint ist, weiß ich nicht, das begann schon vor meiner Zeit. Auch Film­kri­tiker sind kindisch.
Diesmal aber brüllte irgend­eine weibliche Stimme in dem Augen­blick, als das Logo der »The Weinstein Company« vor dem Film erschien, laut und sehn­suchts­voll »Haaar­veeeeyyyy!!!« Das war lustig.

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Das war aber auch der letzte Moment, an dem es für die nächsten 110 Minuten irgend­etwas zu Lachen gab. Der Himmel und das Bild sind meistens wolken­ver­hangen, düster und barba­risch. Kurzel setzt auf Anti-Glamour. Auf einen kaum verhoh­lenen Kult des Barba­ri­schen und Primi­tiven. Alles ist braun und schmutzig, der Dreck hängt zwischen den Bärten der Männer und sitzt unter ihren Fingernä­geln. So war’s halt im Schott­land des Mittel­al­ters, soll uns das wohl sagen. Denn tatsäch­lich ist »Macbeth« ja auch histo­risch grundiert und drama­ti­siert Ereig­nisse, die sich tatsäch­lich um 1050, kurz vor der norman­ni­schen Eroberung Englands, zuge­tragen haben.
Dreckig darf es darum natürlich schon sein, denken wir an Polanskis Verfil­mung, in der er das ganze Hippietum den Zeitgeist seiner Zeit, mit den schreck­li­chen persön­li­chen Erfah­rungen des Mordes an seiner Frau Sharon Tate und seines unge­bo­renen Kindes kurz­ge­schlossen hatte.

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Nur tut Kurzel das Selbe eben ohne eigene Idee, ohne Poesie, und erfüllt statt­dessen alle Klischees eines Videokids, das es in die Welt der Erwach­senen verschlagen hat. Stil ist alles, fetziges, aber auch sehr tech­niklas­tiges Bild­de­sign Man Zeitlupe, mal Hoch­ge­schwin­dig­keit, mal mit Horror­film­ele­menten, dann leicht japanisch ange­haucht – aber jetzt bloß nicht zuviel erwarten! –, und man hat den Eindruck, hier würde einer die Prophe­zei­hungen der drei Hexen am Anfang des Stücks ein bisschen zu wörtlich nehmen: »Hurly­burly, ... fair is foul and foul is fair/hover through fog and filthy air«. Aber es gibt einen Rhythmus, keine erkenn­bare Bild­dra­ma­turgie. Inhalt­lich soll es halt ein bisschen um Wahnsinn gehen und ein bisschen um Machtgier. Aber selbst das wird hier allen­falls ange­deutet, keines­wegs schlüssig heraus­ge­ar­beitet und indi­vi­duell inter­pre­tiert. Es bleibt ange­schminkte Bedeutung.
So ist das Ergebnis ein lang­wei­liger, nach elf Festi­val­tagen schwer aushalt­barer Schmarrn, öde und präten­tiös.

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Kein Festival in Cannes ohne Marion Cotillard. Was die Franzosen an dieser Frau, erst recht an dieser Schau­spie­lerin finden, will mir einfach nicht in den Kopf. Spätes­tens seit dem affek­tierten, bedeu­tungs­hei­schenden Spiel im letzt­jäh­rigen Dardennes-Film Deux jours, une nuit sollte man ihre Grenzen kennen und begriffen haben, dass diese Frau leider sich selbst mit ihren Rollen verwech­selt. Aber mal schauen, ob sie nicht hier am Ende einen Preis bekommt. Denn welch ein Zufall: Ihren nächsten Film, noch vor Assassin’s Creed dreht sie mit Jury­mit­glied Xavier Dolan!

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Ein anderer, später Wett­be­werbs­bei­trag kata­pul­tierte sich statt­dessen recht weit nach vorn in der Zuschau­er­gunst: Chronic vom Mexikaner Michel Franco. Der war 2012 mit Despues de Lucia in »Un Certain Regard« vertreten, ist also das in diesem Jahr seltene Beispiel eines Regisseur, der in die Topliga aufge­stiegen ist. Franco ist so jung, wie schlau, was nicht unbedingt als Kompli­ment gemeint ist. Denn man hat bei seinen Filmen, bei diesem noch mehr wie bei »Despues de Lucia«, hat man immer das unklare Gefühl, dass alles ein Produkt der Berech­nung ist, eher ein zynischer nächster Karrie­re­schritt, und als solcher überaus clever, als ein Herzens­an­liegen.

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Dieser Eindruck mag aber täuschen, denn Francos Filme sind einfach auch extrem kontrol­liert, sie wirken nicht nur kalt, sondern trocken. In diesem Fall beginnt alles mit einer offenen Referenz an Hanekes Caché: Aus einem Auto­fenster heraus beob­achtet man ein Einfa­mi­li­en­haus. Nichts passiert. Nach einer ganzen Weile erst tritt eine junge Frau heraus, steigt in ein Auto, fährt los. Der zweite Wagen folgt ihr. Darin sitzt, das zeigt uns nun an der nächsten Ampel ein Kame­ra­schwenk, ein Mann, gespielt von Tim Roth.
Und jetzt sieht man anhand der Verkehrs­schilder und der Auto­kenn­zei­chen, auch dass alles in den USA spielt. In Los Angeles offen­sicht­lich. Das ist schon einmal die erste Enttäu­schung. Dies ist also doch nicht der eine latein­ame­ri­ka­ni­sche Beitrag, auf den ich gehofft hatte.
In langen, stati­schen Einstel­lungen erzählt der Film von einem Mann (Roth). Man sieht ihn am Computer im Facebook-Profil jener jungen Frau herum­stö­bern, die er beob­achtet hat. Dann sieht man ihn, wie er in einer Wohnung eine höllisch abge­ma­gerte, offen­kundig todkranke Frau pflegt, wäscht, ihr Essen macht, sie betreut, als sie Verwand­ten­be­such hat. Bald darauf ist die Frau tot, und erst jetzt begreift man, dass der Eindruck, die beiden seien ein Paar oder verwandt, getäuscht hatte. Roth’s Figur heißt David, und ist Kran­ken­pfleger und Ster­be­be­gleiter, wohl zu unter­scheiden von Ster­be­helfer. Er tötet nicht aktiv, sondern betreut Schwerst­kranke über Wochen und Monate bis zum Ende. Im einen Fall handelt es sich aber auch nur um einen alten Mann, der gerade einen Schlag­an­fall hatte, dessen Tod keines­wegs unmit­telbar bevor­steht.
Das zeigt der Film en detail, in Bildern, die notge­drungen alles andere als angenehm sind. Man kann hier den Vorwurf machen, dass der Film einen bestimmten Anteil von Exploita­tion hat, dass er bloßstellt und Voyeu­rismen befrie­digt. Ich verstehe solche Gedanken, die ich selbst habe, finde sie aber zugleich falsch. Denn wie sollte man es sonst machen. Dezentes Weggucken, gar Verbergen kann nicht Sache des Kinos sein, jeden­falls nicht jenes Kinos, das ich mag und sehen will. Im Kino geht es ums Zeigen, gerade auch um das Zeigen des Unan­ge­nehmen. Wie hätte Franco es denn sonst machen können? Ich möchte nicht wissen, was man dem Film vorge­worfen hätte, wenn er irgendwie schön­fär­be­risch, mit formalen Effekten oder gar »schön« von solch' häss­li­chen Dingen erzählt hätte, anstatt in Francos kaltem, stati­schem Natu­ra­lismus.

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Dies ist unbe­quemer Film, der seine Zuschauer fordert. Man kann auch gut verstehen, dass man sich das im Grunde nicht angucken möchte.
Die Geschichte erzählt neben Davids Arbeit einer­seits nicht viel, ande­rer­seits alles: David iden­ti­fi­ziert sich nämlich über­trieben stark mit seinen Patienten, und nimmt in Alltags­be­geg­nungen, etwa einer Zufalls­be­geg­nung in einer Bar oder im Gespräch mit einer Buch­händ­lerin, deren Identität an. Das heißt auch: Er verleugnet sich selbst. Und etwa gegen Mitte des Films verstehen wir auch warum: Davids Sohn ist an einer unheil­baren Krankheit (ich glaube Leukämie) gestorben, und hat ihm seiner­zeit Ster­be­hilfe geleistet. Dann hat er sich von seiner Familie getrennt. Die junge Frau, die er beob­achtet, ist seine Tochter (gespielt wird diese übrigens von Sarah Suther­land, der Tochter Kiefer Suther­lands). Im letzten Drittel des Films, nähren sich beide einander an, und auch mit seiner Exfrau spricht er.
Irgend­wann hilft David einer todkranken Krebs­pa­ti­entin dann, zu sterben. Das Ende des Films nervt dann aller­dings und ist unnötig, und gibt denen Argumente, die, wie Violeta (»Ich hasse Michel Franco« meinte sie am Abend nach der Vorstel­lung), Franco als speku­la­tiven Wich­tig­tuer empfinden, dessen Filme eine Art Kunst­porno sind: David joggt auf dem Bürger­steig, man sieht ihm zwei Minuten lang ins Gesicht, und glaubt schon, dies sei das letzte Bild, da wird er – Zasch!!! – von einem Auto über­fahren. Er war über eine rote Ampel gejoggt.

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Dies ist alles in allem, aber ein guter Film. Kein Kandidat für den Haupt­preis, für alles andere aber sehr wohl. Eine Konti­nuität zu Francos letztem Film liegt übrigens darin, dass auch hier wieder eine Vater-Tochter-Geschichte den emotio­nalen Kern des Films bildet.

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Haupt­dar­steller Tim Roth war übrigens 2012 Chef der Jury in »Un Certain Regard«, die Franco seiner­zeit ausge­zeichnet hatte. »Diese Geschichte eines jungen Mädchens, das von ihrer Schul­klasse gemobbt wird, hat mich seiner­zeit enorm bewegt, ich konnte nicht aufhören, zu weinen.« sagte Roth jetzt in einem Interview. Als »Executive Producer« hat er diesen Film jetzt möglich gemacht. Gut so.. Aber schade, dass den Mexi­ka­nern mit Franco nun wieder ein guter Regisseur an »los yankees« verloren gegangen ist.

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»Es gibt viele gute Filme, aber nichts, das mitreißt.« – so lautet nicht nur das Urteil der Münchner Kolle­ginnen Antje Harries und Margret Köhler, auch Kritiker aus anderen Ländern sehen es ähnlich. Dies ist ein schwaches Cannes-Jahr.

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Wird Cannes main­streamig? Wird Cannes mehr Berlinale? Diese Fragen stellen sich, denn die Bilanz des dies­jäh­rigen Programms fällt jetzt, zu Beginn des letzten Festi­val­drit­tels, doch überaus gemischt aus. Es ist ein sehr ausge­gli­chener Wett­be­werb auf grund­sätz­lich hohem Niveau, höherem immer noch als in Venedig oder auf der Berlinale, dem aller­dings die ganz beson­deren, fesselnden, erschüt­ternden, oder irri­tie­renden Werke bislang fehlen. Oder der Exzeß, der auch essen­tiell zum Kino gehört.
Kein Film bislang hat das Potential die Landkarte des Weltkinos oder der filmi­schen Erzähl­formen neu zu defi­nieren.
Es fehlen bislang vor allem die echten Über­ra­schungen, dieje­nigen Filme die alle Vorab-Erwar­tungen sprengen, oder die sogar gänzlich uner­wartet sind. Die einen Filme­ma­cher, dessen Name bislang allen­falls Insidern bekannt war, in den Olymp des Weltkinos kata­pul­tieren.
Das passiert in Cannes gar nicht so selten. Aber auch in den Neben­reihen gab es nichts was die Beob­achter bislang völlig aus der Fassung brachte. Es fehlt das Vibrieren, das raunen des Festivals über bestimmte Filmtitel, die man »gesehen haben musste«.

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Zwar ist noch knapp vier Tage dazu Zeit, erst am Sonn­tag­abend wird am der Croisette der Sieger gekrönt. Noch sind nicht alle Favoriten gelaufen, denn sowohl der Franzose Jacques Audiard, wie der Mexikaner Michel Franco werden in den allge­meinen Erwar­tungen recht hoch gehandelt. Doch schon jetzt scheint klar: Als ein ganz großer Film­jahr­gang wird Cannes 2015 nicht in die Film­ge­schichte eingehen.
Dieses Jahr kann den Vergleich mit 2014 nicht aushalten: Es gibt keinen »Winter Sleep«, kein »Still the water«, kein »Leviathan«, kein Godard

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»Film ist wie Wein, man weiß nie, was heraus­kommt«, meint Chinlin Hsieh, eine aus Taiwan stammende Französin, die ich seit letztem Jahr kenne. Auch sie hatte, wie ich, ihren ersten eigenen Film gemacht, Flowers of Taipeh über die Geschichte des taiwa­ne­si­schen Kinos und der »New Taiwanese Wave«. Auch der lief, wie mein Von Caligari zu Hitler auf dem Festival in Venedig in den »Venice Classics«. Chinlin arbeitet als Programm­erin für das Film­fes­tival Rotterdam, und auch sie findet: »It is not a great year. There are good films, but nothing special.« Sie mag Weer­a­set­hakul lieber als ich, und findet dafür sowohl Kore-eda wie Kawase zu senti­mental. Wir sind uns dann wieder einig, dass die Semaine wieder einmal richtig schlecht ist in diesem Jahr.
Inter­es­sant sind ihre Infor­ma­tionen zu der merk­wür­digen Abwe­sen­heit von Phillippe Garrel und Arnaud Desplechin im Wett­be­werb. Beide laufen im Gegensatz zu anderen »üblichen Verdäch­tigen ja auch nicht in ›Un Certain Regard‹ sondern in der schwachen Gegen­sek­tion ›Quinzaine‹. Sie meint, beide hätten offenbar dem Festival für ›Un Certain Regard‹ abgesagt, im Gegensatz zu anderen. Der Grund, warum sie nicht im Wett­be­werb laufen, im Gegensatz zu schwächeren Regis­seu­rinnen: Desplechin werde zwar ›geliebt von den Franzosen, but he is not appre­ciated enough by the inter­na­tional audience.‹«

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»Film ist wie Wein, man weiß nie, was heraus­kommt« – so kann man es natürlich auch sehen, und dann muss man die Qualität hinnehmen, wie am Morgen das Wetter
Viel­leicht lohnt sich aber das Nach­denken über die Ursachen. Denn neben der Qualität des Angebots, des Kino­jahr­gangs, könnte es durchaus auch haus­ge­machte Gründe für den sanften Quali­täts­ver­fall geben.

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In den letzten zwei, drei Jahren hat sich das Programm jerden­falls spürbar verändert. Die Semaine ist unter ihrem neuen, nur bei den Franzosen beliebten Chef Charles Tesson quasi unsichtbar geworden, die Quinzaine, die bis etwa 2010 eine groß­ar­tige Alter­na­tive zur offi­zi­ellen Selektion war, in ganz wenigen Jahren fast völlig irrele­vant. Aber was ist im Wett­be­werb passiert? Einst liefen hier Filme wie Brown Bunny oder Michael. Egal, was man von ihnen im Einzelnen halten mag: Sie würden heute wohl eher in der Sektion »Un Certain Regard« zu sehen sein.
In diesem Jahr wie schon zuletzt gibt es ein paar Filme
Zugleich gibt es Filme, die in den letzten Jahren in den Nebensek­tionen liefen, die unbedingt in den Wett­be­werb gemusst hätten: Turist, Jaucha, Dogtooth, White God.
Und auch wenn Festivals bei Able­hungen immer Fehler machen, ist uner­klär­lich, warum man Roy Anders­sons Venedig-Sieger ablehnte.

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Auch Christian Petzolds Phoenix war im Vorjahr in Cannes abgelehnt worden. Offiziell gibt es für so etwas zwar keine Begrün­dung, aber aus dem Umkreis des Festi­val­chefs war sehr wohl zu erfahren, warum. Man mochte den Film, fand aber, dass  Phoenix nicht besser, viel­leicht sogar schlechter sei, als  Barbara. Ich glaube zwar, dass es seinen Grund hat, dass  Phoenix auch in Venedig nicht genommen wurde. Aber dieser Vergleich mit Barbara ist ein unzu­rei­chender Able­hungs­grund. Wenn hier jeder Film eines Regis­seurs besser sein muss, als jeder zuvor, dann dürfte hier mindes­tens die Hälfte des Wett­be­werbs nicht laufen.

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Eine Ursache für all das könnte sein: Gilles Jacob, der jetzt zurück­ge­tre­tene Festi­val­di­rektor war ein gutes Korrektiv zum künst­le­ri­schen Leiter Thierry Fremaux, der als popkul­tur­ori­en­tierter, ameri­ka­freund­lich und vor allem als main­streamig gilt. Das ist jetzt wegge­fallen.

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Engin Ertan aus Istanbul hat eine zusätz­liche Wett­be­werbs-Theorie, die ich zwar bizarr finde, aber nicht für völlig unvor­stellbar halte: Fremaux program­miere immer mindes­tens einen Film, der bei den Kritikern voll­kommen durch­falle, und gerade dadurch für Schlag­zeilen sorge. »Buhs in Cannes«. So zuletzt geschehen mit Gus Van Sant, zuvor mit Atom Egoyan und davor Nicholas Winding Refn

11. Folge 24.05.2015
Sinnliche Erfahrung, Sozi­al­kitsch und Mord-Alltags – Goldene Palme für fran­zö­si­sches Einwan­de­rer­me­lo­drama und der Ungar Laszló Nemes gewinnt den »Grand Prix« in Cannes, ein Streifzug zum Abschluß des dies­jäh­rigen Festivals

»Intellec­tuals have no taste.«
Igor Stavinsky

»Tele­vi­sion is the future.«
Jane Fonda, in »Giovi­nezza«

»It’s going to be something, and this something isn’t nothing.«
Gilles Jacob zu David Lynch, 1990, kurz vor dessen Gewinn der Goldenen Palme, berichtet von Isabella Rossel­lini

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Ungläu­biges Kopf­schüt­teln und Stöhnen bei vielen, laut vernehm­bare Buhrufe selbst bei den Franzosen im Salle Debussy – es war mehr als eine faust­dicke Über­ra­schung an der Croisette, als am Sonn­tag­abend der dies­jäh­rige Gewinner der Goldenen Palme verkündet wurde, es war ein Affront gegen alle, denen die Kunst des Kinos am Herzen liegt: Der Franzose Jacques Audiard (De battre mon coeur s'est arrêté, Un prophète) galt zwar seit Jahren als »der ameri­ka­nischste« unter Frank­reichs Autoren­fil­mern auch als ein poten­ti­eller Kandidat für die Goldene Palme, aber ausge­rechnet diesmal hatte ihn an der Croisette kaum einer auf der Rechnung gehabt. Jetzt hat ihn die Jury unter Vorsitz der Brüder Joel und Ethan Coen für sein Einwan­de­rer­me­lo­dram Dheepan in den Olymp des Autoren­kinos kata­pul­tiert.

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Eher schlechte Kritiken hatte es noch am Freitag für Audiards Film auch in Frank­reichs Zeitungen gehagelt – und zumindest auf künst­le­ri­scher Ebene scheint das auch berech­tigt: Denn Dheepan ist ein überaus senti­men­taler Film, der lieber Botschaften predigt, als zu beob­achten, der wenig sensibel wirkt, eher forciert. Zuviel Loach ist in diesem Film, zuviel Predigt. Und zu wenig Wirk­lich­keit, zu wenig Beob­ach­tung, viel zu wenig Neugier.
Damit wir uns da nicht miss­ver­stehen: Audiards Absichten, jeden­falls, die, die er behauptet, nämlich einen Realismus zu prak­ti­zieren, der das Leben möglichst direkt spiegelt, der durch die Leinwand hindurch blickt, sind völlig legitim. Das ist nicht mein Lieb­lings­kino, aber ich teile nicht den Affekt mancher Kollegen.

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Der Held des Films gibt dem Film den Titel. Aber schon das ist doppel­bödig, denn Dheepan (Antonythasan Jesuthasan) nennt sich nur so nach einem Toten, dessen Pass er an sich nimmt, seine wahre Identität erfahren wir nie. Wir wissen nur: Dheepan kommt aus Sri Lanka, war Mitglied der terro­ris­ti­schen »Tamil Tigers«. Und er flüchtet vor dem dortigen Bürger­krieg, begleitet von einer fremden Frau und einem Kind, das auch nicht seines ist, das eigens in einem Waisen­haus gesucht wurde, weil man als »Familie« bessere Chancen auf Asyl in Europa hat. In Frank­reich ange­kommen geben sich die drei dann als so eine Familie aus und erhalten eine Wohnung in einer Banlieue, in der ein Banden­krieg zwischen arabisch-afri­ka­ni­schen Drogen­gangs tobt. Dheepan wird Haus­meister, kann die bösen Kinder aber auch nicht zivi­li­sieren und greift deshalb notge­drungen zu anderen Mitteln.
So ist Dheepan ein ungleich­ge­wich­tiger, mit Hand­lungs­wen­dungen voll­ge­pf­opfter Film, der Fremdheit und Migration zum Thema macht, dabei aber in den Klischees des Sozi­al­dramas hängen­bleibt, der sich einer­seits politisch engagiert gbt, ander­seits auch recht speku­lativ.
Denn auch, wenn Auduard mit seiner Haupt­figur sympa­thi­siert, sind die Migranten in dem Film meist genau so, wie sie auch die rechts­extre­mis­ti­sche Front National gern beschreibt: Sie täuschen und belügen die Behörden, erschlei­chen sich mit falschen Iden­ti­täten zu Europa und seinen Sozi­al­leis­tungen, sie bleiben am liebsten unter sich, sie sind faul, und entweder dumm, oder kriminell und latent gewalt­be­reit. Sie tragen den Krieg aus ihren Ländern in unsere Städte, und zwischen den Zuständen in den Banlieus und denen im tami­li­schen Dschungel, oder in denen im Gaza-Streifen. Der Staat hingegen macht auf der Leinwand, wenn er denn auftaucht, immer alles richtig.
»Dheepan« ist anzu­rechnen, dass er die vielen auf den Nägeln bren­nenden Sujets Migration und Inte­gra­tion in den Blick nimmt – wie er das tut, ist aber mindes­tens unaus­ge­goren. Der Film verkündet in jeder Szene eine »starke Botschaft« – nur für was jetzt nochmal genau?

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Die mit vielen Schau­spie­lern – Sienna Miller, Sophie Marceau, Jake Gyllen­haal – besetzte Jury mag geglaubt haben, dass eine Goldene Palme für diesen Film im Jahr 1 nach »Charlie Hebdo« das politisch ange­mes­sene Statement sei. Damit hat sie sich aber zugleich gegen eine deutliche Part­ei­nahme zugunsten der Filmkunst entschieden, zugunsten der Erwei­te­rung oder Heraus­for­de­rung unserer Sinne und ästhe­ti­schen Haltungen entschieden
Mit Audiard hat zudem nun schon zum dritten Mal in nur acht Jahren ein fran­zö­si­scher Regisseur die wich­tigste Auszeich­nung der Filmkunst erhalten. In 50 Cannes-Jahren zuvor hatte es dagegen nur einen einzigen fran­zö­si­schen Sieger gegeben.
Auch sonst zeigte sich die Wett­be­werbs-Jury recht fran­co­phil und gab Schau­spiel­preise an Vincent Lindon und Emma­nu­elle Bercot (die sich den Preis aller­dings mit der US-Ameri­ka­nerin Rooney Mara teilen musste). Eine hohe Auszeich­nung für den Taiwan-Chinesen Hou Hsiao-hsien (The Assassin) war dagegen erwartet worden, ebenso den Ungarn Laszlo Nemes. Dessen KZ-Drama Son of Saul ist eine Heraus­for­de­rung, weil sie nicht nur ästhe­tisch aufregend weit­ge­hend aus der Perspek­tive eines Menschen, eines Sonder­kom­mando-Mitglieds in Auschwitz erzählt ist, sondern auch die moralisch-poli­ti­sche Frage aufwirft, was man aus dieser Menschen-Hölle eigent­lich zeigen soll, und was besser nicht?

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Er wurde bereits am zweiten Festi­valtag vorge­führt, und war danach bis zum Ende einer der meist-debat­tierten Filme in Cannes – und so war der »Grand Prix«, die neben der Goldenen Palme bedeu­tendste Auszeich­nung für Laszló Nemes' unga­ri­schen Beitrag Son of Saul bei der Preis­ver­lei­hung am Sonn­tag­abend keine große Über­ra­schung. Dem 38-jährigen Nemes, der als Assistent von Bela Tarr bekannt wurde, gelang es damit gleich in seinem ersten eigenen Film in den Olymp des Weltkinos aufzu­steigen – man wird noch viel von ihm hören.

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Filmäs­the­tisch ist diese Auszeich­nung auf alle Fälle verdient. Mit einer fesselnden, magne­ti­sie­renden Kamera (Mátyás Erdély) folgt der Film gute 100 Minuten einem einzigen Menschen auf dem Fuß: Saul Ausländer, Häftling im Vernich­tungs­lager Auschwitz und Mitglied jener Sonder­kom­mandos, die aus Häft­lingen zusam­men­ge­setzt gezwun­ge­ner­maßen der deutschen Mord­ma­schine der Shoah assis­tierten. Man erlebt einen langen Tag im Oktober 1944, dem Tag vor dem Aufstand der Sonder­kom­mandos, der schei­terte und mit der Ermordung von über 100 Häft­lingen endete. Um Histo­ri­sches oder um die mora­li­sche Einschät­zung der Sonder­kom­mandos und die Grenze zwischen Über­le­bens­trieb und Kolla­bo­ra­tion geht es im Film aber nur am Rand. Es geht um die subjek­tive Perspek­tive, und um eine Art Einfüh­lung in die sinnliche Erfahrung des Alltags dieser Menschen. In dem wir Saul (von Géza Röhrig atem­be­rau­bend gespielt) bei jedem Schritt folgen, erleben wir nicht nur die schreck­li­chen Momente, in denen die Menschen in die Gaskam­mern getrieben werden, und die noch schreck­li­cheren, in denen die Sonder­kom­mandos diese Kammern öffnen und für den nächsten Massen­mord präpa­rieren mussten. Die Zuschauer erleben vor allem den perma­nenten Stress, unter den die Menschen dort gesetzt waren, die Hektik mit der alles vonstatten ging. Noch wichtuger als jedes Bild ist hier die Tonspur: Hölli­scher Lärm herrschte in der Mord­ma­schine – dies, nicht der genau Blick bis an den Rand der Gaskammer, ist der Bruch, den Nemes-Film im Verhältnis zu nahezu allen bishe­rigen Darstel­lungen der Shoah bedeutet, in denen eine geradezu heilige, andachts­volle Stille domi­nierte.

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So weit, so glänzend. Proble­ma­ti­scher ist die Darstel­lung des ethischen Konflikt der Haupt­figur. Denn indem dieser verzwei­felt versucht, einem einzelnen toten Jungen ein jüdisches Begräbnis zu ermög­li­chen, gefährdet Saul viele Mithäft­linge und den geplanten Auftand. Hier wird der Film fast zu Kolpor­tage, in jedem Fall ist die Entschei­dung, ein Toter sei im Lager wichtiger als viele Lebende, und jede Über­le­bens­hoff­nung sei an diesem Ort sowieso zum Scheitern verur­teilt histo­risch wie moralisch frag­würdig. Wenn der Film bei uns startet, wird man darüber noch disku­tieren müssen.

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The Assassin war eines der schönsten, form­voll­endetsten Werke in diesem Jahr. Aller­dings sind die atem­be­rau­benden, magne­ti­sie­renden Bilder inhalt­lich weit­ge­hend leer. Als Martial-Arts angekün­digt, gibt es kaum Kämpfe, keine feder­leuchten Ballette a la Tiger & Dragon – dieser Verzicht ist allzu-glatte Pädagogik und auch respektlos gegen das Genre und bedient vor allem Reflexe mancher Kreise im Westen: Pazi­fis­ti­sches Kampf­kunst­kino bleibt ein Wider­spruch in sich, wie lactose-freie Milch, Kaffee ohne Koffein, Bier ohne Alkohol...
Der Preis für Hou unter­streicht aller­dings die starke Präsenz und Qualität asia­ti­scher Filme in allen Sektionen. Und er versöhnt mit einem Festival, das diesmal unter den Erwar­tungen blieb.
Denn in Cannes geht es immer um den Markt, und das ist auch gut so, denn der Duft des großen Geldes gehört zum Reiz dieses Festivals. Aber in diesem Jahr hatte man den Eindruck, es gehe nur noch darum. Zu viele Filme nahmen am Wett­be­werb nur aus dem einen offen­sicht­li­chen Grund teil, dass damit Indus­trie­in­ter­essen befrie­digt wurden: Drei schwache Italiener wurden gezeigt, aber neben den auffal­lend starken Asiaten, wurden auch tolle Werke aus Kroatien und Rumänien in die Neben­reihen abge­schoben. Und aus Frank­reich zeigte man nicht die besten Filme, sondern die mit den meisten Stars.

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Immerhin spannend war das Regie­debüt von Nathalie Portman. Die kennt man als Hollywood-Star, und nicht jeder hatte ihr vor dem Festival eine Cannes-Masstäben genügende Regie­ar­beit zugetraut. Doch A tale of love and darkness gehörte zu den postiven Über­ra­schungen, bei einem Festival, das in diesem Jahr nicht restlos über­zeugen konnte. Die Verfil­mung eines Romans von Amos Oz handelt von einer Mutter deren Liebe zur Poesie einen entschei­denden Einfluß auf das Leben ihres Sohnes hat.Dieser Sohn ist Oz selbst, der im Buch seine Kindheit in Israel und das langsame, zu frühe Sterben seiner Mutter beschreibt. Gedreht in hebräi­scher Sprache beginnt der Film mit dem bereits erwach­senen Sohn, der in Rück­bli­cken zunächst in das Palästina des Jahres 1945 reist. Amos ist da zehn Jahre alt, Portman selbst spielt die Mutter, die von den Erin­ne­rungen an ihre eigene Jugend gequält ist, als sie in Polen Zeugin anti­se­mit­scher Pogrome wurde. »A Tale...« mischt Glücks­mo­mente und den Idea­lismus der Grün­dungs­jahre Israels und seiner Grün­der­ge­ne­ra­tion mit dem Schmerz solcher Erin­ne­rungen. Zunehmend verdun­kelt sich die Seele der Mutter und der Film legt nahe, dass es diese Erfahrung war, die den Sohn zum Künstler machte. Dies ist eine der warm­her­zigsten, zugleich bewe­gendsten Auftritte als Darstel­lerin. Und ein fumi­nantes Debüt für die Schau­spie­lerin, die sich mit diesem auch auf eine Suche nach ihrer eigenen Identität begab, und sich ins Land und zur Sprache ihrer Kindheit zurück­be­wegte.

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Auch zwei biogra­phi­sche Doku­men­tar­filme waren besonders sehens­wert und finden wahr­schein­lich auch den Weg ins deutsche Kino: By Sidney Lumet heißt Nancy Buirskis liebe­volle Hommage an den großen New Yorker Regisseur, ein Portrait, das nicht den üblichen Weg viele Filme­ma­cher geht, unzählige Bekannte und »Zeit­zeugen« aufzu­bieten, und Ereig­nisse chro­no­lo­gisch anein­an­der­zu­reihen. Statt­dessen kommt der 2011 verstor­bene Lumet selbst als einziger zu Wort. In einem langen Interview läßt er drei Jahre vor seinem Tod seine Filme Revue passieren, erinnert sich an seine Kollegen, erzählt von seiner Familie, Einwan­de­rern aus dem Habs­bur­ger­reich, und seinen Anfängen als Schau­spieler in einer jüdischen Thea­ter­gruppe.
Ganz anders ist Asif Kapadias Amy schon durch sein Objekt: Der mit nur 27 Jahren verstor­bene Londoner Pop-Weltstar Amy Winehouse. Der Film kann mit tollen Innen­an­sichten locken, denn die Regis­seurin hatte Zugriff aufs Fami­li­en­ar­chiv und so sieht man diverse private Videos, die den Star vor dem großen Ruhm zeigen, ihre Wurzeln im Londoner Norden und seiner jüdischen Kultur schildern, als Schülerin, mit Freun­dinnen, und bei ersten Gesangs­ver­su­chen. Auch der Border­line-Charakter von Winehouse wird dars­ge­stellt. »Amy« ist ein origi­neller Film, der höchstens darunter leidet, dass er mitunter an der Fülle Inter­view­schnipsel zu ersticken droht.

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Trotz solcher Ausnahmen gelang diesmal nicht jene runde Mischung zwischen Enter­tain­ment und Autoren­film, die in Cannes eigent­lich normal ist. Man erlebte Wirt­schaft, Wirt­schaft über alles. Garniert mit poli­ti­schen Botschaften. Die Kunst blieb auf der Strecke.

(to be continued)