11.03.2021

Provokation und Umarmung

Das Mädchen und die Spinne
Film der Zwischentöne: Das Mädchen und die Spinne
(Foto: Salzgeber)

Radu Jude, Maria Speth, Alexandre Koberidze, Ramon und Silvan Zürcher: Die preisgekrönten Filme der Berlinale brechen mit den Konventionen und zeigen die Handschrift von Carlo Chatrian

Von Dunja Bialas

»This was meant to be a small film.« Radu Jude hat ein breites Grinsen, als er auf der vom Vertrieb initi­ierten Pres­se­kon­fe­renz diesen Satz sagt. Eigent­lich nur ein kleiner Film, und doch hat jetzt Bad Luck Banging or Loony Porn den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen.

Das rumä­ni­sche Kino ist sehr schil­lernd und viel­fältig, auch wenn manche von der Annahme ausgehen, dort vor allem auf lange Plan­se­quenzen über Fami­li­en­feste zu treffen, wie sie zum Beispiel Cristi Puiu mit Sier­ane­vada insze­niert hat. Bad Luck Banging aber ist anti-narrativ. Ist Anti-Esta­b­lish­ment. Ist Anti-Arthouse. Der Film ist Expe­ri­ment, ist Dokument, ist Spiel und ist Nachricht. Er zeigt die Vitalität des rumä­ni­schen Kinos insgesamt und von Radu Jude im Spezi­ellen, und führt vor, wie es sich erfolg­reich den Konven­tionen wider­setzt. Das macht Jude in ähnlicher Weise wie seine Haupt­figur, die sich von den SUVs dieser Welt nicht den Weg verstellen lässt. Bad Luck Banging ist auch ein sati­ri­scher Film, der provo­ziert.

Der Goldene Bär: Ein »bekloppter Porno«

Die sati­ri­sche Absicht von Bad Luck Banging or Loony Porn ist mit dem drei­fa­chen Endkom­mentar seines Moritaten-Erzählers (»1. The film was just a joke; 2. We've only kept you a moment; 3. The film was but a joke and here it ends«) als poeto­lo­gi­sches Prinzip zemen­tiert. Und nun hat der kleine Film auch noch den Goldenen Bären gewonnen. Die Jury umarmt mit der Auszeich­nung das Provi­so­ri­sche, Impro­vi­sierte, Leichte, aber auch das Aktuelle, denn kein anderer Film des Wett­be­werbs sonst hat sich mit der Corono-Pandemie befasst, die sich in allen Szenen in Form des Mund-Nasen-Schutzes visua­li­siert.

Radu Jude ist nicht zimper­lich. Sein Film hebt an mit expli­ziten Sexszenen, gefilmt für das Internet und gedacht für die Privat­porno-Community. Jude geht es aber nicht um Medi­en­kritik, wie man viel­leicht meinen könnte, und auch nicht um die Anpran­ge­rung von Sexplo­ita­tion – denn da ist keine. Er stellt die Unschulds­ver­mu­tung für Bilder des Sexuellen auf, für die Porno­gra­phie insgesamt, und streitet mit der Geschichte der Lehrerin, die final vor ein Eltern­tri­bunal gestellt wird, auch für die Selbst­be­stim­mung der Frau und die Diver­sität der eigenen Persön­lich­keit in all ihren Facetten. Vom schäbigen rosa Spit­zen­schlüpfer geht es direkt in das mausgraue Kostüm. In der Uniform der Unauf­fäl­ligen gehorcht die Lehrerin den Ritualen der Gesell­schaft – sie bringt Blumen an das häusliche Kran­ken­bett (ein Zitat der »alten« rumä­ni­schen Schule), geht durch das post­so­zia­lis­ti­sche Bukarest und wird zum Vehikel für eine nahezu ganz im Doku­men­ta­ri­schen aufge­hende Binnen­er­zäh­lung. Wunderbar: die falsch geparkten Monster-SUVs als Sinnbild für eine rück­sichtslos werdende Gesell­schaft. Das lässt auch an Eugène Ionescos absurdes Thea­ter­stück »Die Nashörner« denken.

Bei der Pres­se­kon­fe­renz hat der mögliche Kinostart und die Proble­matik der porno­gra­phi­schen Eingangs­se­quenz Fragen aufge­worfen. Die Produ­zentin Ada Salomon sprach gar von Über­le­gungen, den Film zu »zensieren«.

Zugegeben: Auch bei mir hat die Auszeich­nung im Zusam­men­hang mit dem Film­auf­takt zunächst abweh­rende Reflexe hervor­ge­rufen. Ein Bären­dienst für die Berlinale, so dachte ich im ersten Moment, sei diese Preis­ver­gabe. Ande­rer­seits provo­zierte aber auch schon Adina Pintilies Touch Me Not vor zwei Jahren in ähnlicher Weise, bei Radu Jude hängt das Film­plakat in der Wohnung der Lehrerin. Ein deut­li­ches Bekenntnis zu seiner Kollegin, die auch der Jury angehörte. Honi soit qui mal y pense.

Program­mie­rungs-Irri­ta­tion

Die Program­mie­rung ist die eigent­liche Irri­ta­tion. Sie begreift die Sektionen als durch­lässig und ordnet die Filme mal der einen, mal der anderen Abteilung zu, ohne dass dafür Kriterien ersicht­lich würden. Das ist eigent­lich begrüßens­wert, sorgt aber auch für Rat- und Orien­tie­rungs­lo­sig­keit beim virtu­ellen Berlinale-Besuch. Bad Luck Banging war ein Ausreißer zwischen Xavier Beauvois’ Arthouse-Albatros und dem erwart­baren Wett­be­werbs-Iraner Ballad of a White Cow. Hier könnten jetzt, gäbe man seinen Asperger-Impulsen nach, alle Filme gemäß ihrer film­sprach­li­chen Couleur neu einsor­tiert werden. Genügen soll aber der Hinweis darauf, dass Judes Film den Wett­be­werb in anar­chi­scher Weise ausge­he­belt hat. Wäre er in einer anderen Sektion gelaufen, wo man ihn viel­leicht eher erwartet hätte – wie zum Beispiel im Forum oder im neuen Encoun­ters –, wäre der Wett­be­werb aber auch nicht homogener gewesen, nur viel­leicht etwas weniger wilder.

Diese mensch­liche Einfach­heit: Alexandre Koberidze

Der in Berlin lebende Alexandre Koberidze hat mit Lass den Sommer nie wieder kommen 2017 auf der Woche der Kritik Berlin ein bemer­kens­wert expe­ri­men­telles Lang­film­debüt hingelegt. Nun hat er im Wett­be­werb mit Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? ein von der Tonalität ähnliches Film-Sequel geschaffen. Wenn er auch die Leinwand nicht mehr der Farb- und Pixel­ex­plo­sion unscharfer Bilder aussetzt, hat Koberidze seine Erzähl­weise doch fort­ge­setzt. Was sehen wir..., ist wie sein Debüt lyrisch-verträumt, ein Erzähler spricht von der Schick­sal­haf­tig­keit des Sich-Finden-und-Verlie­rens und berichtet darüber mit ergrei­fender Lakonie. Kobe­r­idzes Film ist roman­tisch, tröstlich, phan­tas­tisch und enthält doku­men­ta­ri­sche Aufnahmen von der geor­gi­schen Stadt Kutaissi. Die Kraft der Begegnung zweier Menschen, diese mensch­liche Einfach­heit, berührt, dazu kommen poetische Anklänge an Stummfilm-Epen, die einen großen filmi­schen Kosmos aufspannen. Koberidze erhielt für Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? den Fipresci-Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik.

Worte wie eine Umarmung: Maria Speth

Raymond Depardon (12 Tage, 2017), Nicolas Philibert (Sein und Haben, 2002), Laurent Cantet (Die Klasse, 2009) und Claire Simon (Premières solitudes, 2018, Forum der Berlinale) mögen die Schule für Maria Speth und ihren beob­ach­tenden Doku­men­tar­film Herr Bachmann und seine Klasse gewesen sein, der ebenfalls im Wett­be­werb lief. Sie zeigt die Kraft der Pädagogik, die keine ist, und die sich entfaltet, wenn die Erwach­senen die »Schutz­be­foh­lenen« ernst nehmen in ihren Gedanken, Gefühlen, Ängsten und Träumen. Herr Bachmann und seine Klasse ist eine Absage an alle Ideen des Distant Teaching und lässt erahnen, was passiert, wenn wir den zwischen­mensch­li­chen Kontakt verlieren. Der Film entfaltet eine tiefe, huma­nis­ti­sche Kraft, die schmerzt, weil sie so schön ist. Maria Speth erhielt den Silbernen Bären.

Zwillinge: Petite Maman und Das Mädchen und die Spinne

Céline Sciamma zeigte im Wett­be­werb eine phan­tas­ti­sche Herkunfts­er­zäh­lung. In Petite Maman trifft die kindliche Prot­ago­nistin auf ihre eigene Mutter, als diese so alt ist wie sie jetzt selbst. In dem tempo­ralen Vexier­spiel sorgen die Zwillinge Joséphine und Gabrielle Sanz für voll­endete Verwir­rung. Neben sie hätte man sich die Regie-Zwil­lings­brüder Ramon und Silvan Zürcher in den Wett­be­werb gewünscht. Ihr Kammer­spiel Das Mädchen und die Spinne erzählt nach Das merk­wür­dige Kätzchen (2013, Forum der Berlinale) in einer Berliner Wohnung von der wunder­baren Wider­stän­dig­keit der Welt. Genauer gesagt: in zwei Berliner Wohnungen, denn Lisa (Liliane Amuat) zieht um, während ihre Freundin Mara (Henriette Confurius) zurück­bleibt. Zwischen die Umzugs­kar­tons mischen sich die Mutter (Ursina Lardi mit verblüf­fender Ähnlich­keit zu Bulle Ogier), ein Freund, die Nachbars-WG und die neue Nachbarin (Sabine Timoteo). Erotik und Sex sind im Spiel, und die Welt der Tiere wird in Szene gesetzt, als wäre der Film ein Recher­che­er­gebnis der Animal Studies. Das Mädchen und die Spinne erhielt den Encoun­ters-Preis für die Beste Regie.

Erwähnen möchte ich aus dem Wett­be­werb noch Memory Box von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. 2016 zeigte das liba­ne­si­sche Künstler-Duo im Münchner Haus der Kunst die große Einzel­aus­stel­lung »Two Suns in a Sunset«, eine begehbare Erin­ne­rung an die durch den liba­ne­si­schen Bürger­krieg zerstörte Heimat. Im Film lassen Hadjithomas und Joreige die verloren gegangene Welt in Rein­sze­nie­rungen wieder aufer­stehen, entlang der authen­ti­schen Tage­buch­ein­träge und gesam­melten Dokumente der 1969 geborenen Filme­ma­cherin. Die bewegende Rückkehr in die Acht­zi­ger­jahre und die schmerz­liche Unwie­der­bring­lich­keit der Jugend räumen sukzes­sive der poli­ti­schen Geschichte ihren Platz – die private histoire kapi­tu­liert vor der poli­ti­schen Histoire, das Leben deter­mi­niert sich durch den Ort und den Moment, in den wir hinein­ge­boren werden.

Intel­lek­tuell, theo­re­tisch, sinnlich: Das Forum

Insgesamt, so das Fazit, zeigte die Berlinale ein starkes Film­pro­gramm. Unter dem neuen Leiter Carlo Chatrian ist das nicht-narrative Kino jetzt in allen Sektionen präsent. In ihm verwebt sich die Wirk­lich­keit mit dem Imaginären, und es posi­tio­niert sich als fiktio­nales Schil­ler­wesen gegen das leicht konsu­mier­bare Arthouse-Kino. Mit dieser neuen begrüßens­werten Hand­schrift der Berlinale hat jedoch das Forum das Nachsehen, dem ein paar seiner poten­ti­ellen Autor*innen abhanden gekommen sind. Cristina Nord, die seit letztem Jahr das Forum leitet, setzte diesmal einen Schwer­punkt auf Filme, die Erwar­tungen unter­laufen, die rätsel­haft und auch undurch­dring­lich sind. Bisweilen erinnert die Weise, in der die Filme auf das Vortragen von Texten vertrauen, an die Filme von Straub/Huillet, wie Chris­tophe Cognets A pas aveugles über Foto­gra­fien von Konzen­tra­ti­ons­la­gern, oder Fabrizio Ferraros spazier­gän­ge­ri­sche Hölderlin-Medi­ta­tion La veduta luminosa.

Dann wirkte dies aber auch sehr intel­lek­tuell und theo­rie­ge­trieben. Früher gab es im Forum eine Reihe von Filmen zu sehen, die uns wie schlaf­wan­delnd die Arsenal-Spiel­stätte jenseits der Straßen­schlucht am Potsdamer Platz aufsuchen ließ. Auch dieses Jahr konnte man diese traum­haften Momente im Forum finden, man musste nur gründ­li­cher nach ihnen suchen. Gemeint ist das rand­s­tän­dige Kino, das auch erzählt oder doku­men­ta­risch ist, das aber die Erzähl­weisen neu denkt und unge­wohnte filmische Räume öffnet, anstatt sie zu verschließen. A River Runs, Turns, Erases, Replaces der aus Wuhan stam­menden Zhu Shengze ist so ein Beispiel. Der Film ist eine poetische, stille Medi­ta­tion über die Millio­nen­me­tro­pole am Jangtse, die zunächst unter dem Eindruck des Corona-Confi­ne­ments gedreht wurde, dann während der behut­samen Wieder­auf­nahme des Lebens. Zhu verlor ihre Groß­mutter und auch ihren Vater an Corona, weil sie ihm riet, ins Kran­ken­haus zu gehen, um sich die Medi­ka­mente für ein chro­ni­sches Leiden zu besorgen. Die Erzählung aus dem Off bleibt verhalten, unwei­ner­lich, umarmt die Heimat­stadt.

Zhu steht für den poeti­sie­renden Doku­men­tar­film, der nicht das Thema, sondern die Sicht­weise auf die Welt in den Mittel­punkt stellt. Erst in einem Kino wird der Film seine ganze bannende Kraft entfalten können.

Versäum­nisse und Miss­ver­ständ­nisse der Preview-Berlinale

Trotz des heraus­ra­genden Programms muss leider die Durch­füh­rung der virtu­ellen Berlinale und die nach­läs­sige Behand­lung der Presse proble­ma­ti­siert werden. Letztere fußt auf dem frag­wür­digen Diktat, sie möge sich den Anfor­de­rungen des Marktes unter­ordnen. So sagte der Chef-Programmer Mark Peranson, selbst ehema­liger Film­kri­tiker und Gründer der Zeit­schrift »Cine­maS­cope«, im Interview mit der NZZ: »Die Presse braucht es jetzt im März für den Filmmarkt, denn für die Film­ein­käufer sind die Rezen­sionen enorm wichtig.« Immerhin schreibt er der Presse eine fast schmei­chel­hafte Bedeut­sam­keit für den Erfolg von Filmen zu, während sich die Berlinale-Leitung gleich­zeitig aus der Verant­wor­tung stiehlt, für die Presse bestimmte Service-Leis­tungen zu erbringen. So überließ sie die Durch­füh­rung von Pres­se­kon­fe­renzen ganz dem Enga­ge­ment der Welt­ver­triebe, kommu­ni­zierte aber noch nicht einmal die Termine.

Als kura­to­ri­sche Plattform müsste es Aufgabe der Berlinale sein, Presse und Filme­ma­cher*innen in einen Dialog zu bringen und Nach­fragen zu den Werken vom Grundsatz her zu ermö­g­li­chen. Dies fiel aus, bei gleich­blei­bend hoher Akkre­di­tie­rungs­ge­bühr. Die dies­jäh­rige Berlinale wurde so zu einem gesichts- und stim­men­losen Streaming-Kanal, bei dem auch einmal das Netflix-Logo über die heimische Kiste flimmerte. Andere Festivals wie zuletzt Rotterdam mit festen Terminen für inter­ak­tive Pres­se­ge­spräche haben vorge­macht, was Pres­se­ar­beit im virtu­ellen Zeitalter bedeutet. Jetzt sind die Texte geschrieben, ohne dass die Presse ihre Fragen stellen konnte.

Es scheint überdies das Miss­ver­ständnis zu bestehen, dass über die Berlinale nicht ange­messen berichtet werden kann, wenn die Kino­vor­füh­rungen, der Publi­kums­be­such und vor allem der rote Teppich ausfallen, der von der Berlinale-Pres­se­stelle für den Sommer verspro­chen wird. Das verrät eine eigen­ar­tige auf Berlin zentrierte und deshalb auch provin­zi­elle Perspek­tive. »artechock« hat immer ausführ­lich auch für die Münchner Lese­rinnen und Leser berichtet, die die Berlinale-Filme womöglich nie zu sehen bekommen – das Filmfest München zumindest schließt die Filme aus, weil das Reglement deutsche Premieren verlangt. Und nur wenige Verleihe werden den Mut haben, die ohne deutsche Co-Produk­tion von der Verleih­för­de­rung ausge­schlos­senen Filme heraus­zu­bringen.

So werden viele Filme der Berlinale 2021 den Locals und Happy Fews vorbe­halten bleiben, die beim »Sommer-Special« im Juni hoffent­lich einen Sitzplatz im Kiez-Kino ergattern können.