04.03.2021

Ausnahmezustand

Radu Jude
Im Wettbewerb: Radu Judes Bad Luck Banging or Loony Porn ist eine Moritat auf unsere entfesselte Gesellschaft
(Foto: Berlinale / Radu Jude)

Zwischen Neugier und Erschöpfung finden Tour und Tortur der Berlinale diesmal vom Sofa aus statt. Zu entdecken sind Filme eines neuen, jungen, wilden Anti-Arthousekinos

Von Dunja Bialas

Man kann auch das Berlinale-Koma künstlich herstellen. Seit Montag gibt es in München um sieben Uhr morgens das »Berlinale-Frühstück«, das den Tag zu einer möglichst unun­ter­bro­chenen Sichtung einleitet. Filme werden zunächst einmal nach der Länge in Augen­schein genommen, lange Filme werden im schlech­testen Fall auch einmal über den ganzen Tag verteilt gesehen, ansonsten wird getaktet, was geht. Mit kleinen Pausen zwischen den Filmen. Jetzt so tun, als würde man sich einen Espresso holen, ein Sandwich. Und schon wieder geht es weiter.

Im besten Fall begegnen einem Filme, die einen zum Abheben bringen, wie Joana Hadjithos und Khalil Joreiges Memory Box am ersten Tag, gestern Das Mädchen und die Spinne der Zwil­lings­brüder Ramon und Silvan Zürcher, für mich der beste Film der Berlinale bislang, und heute Alexandre Kobe­r­idzes Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?? Die drei Filme, die mich am meisten, ja, was ist man auf dem Sofa? begeis­tert haben? Berührt? Die ich wunder­schön fand? Waren es die besten? Und überhaupt: Was ist das schon, ein bester Film? Diese drei Filme sind ein Beispiel des wilden, jungen Anti-Arthouse-Kinos, das seit ein paar Jahren ins Zentrum der Festivals rückt, auch der Berlinale. Die Filme sind Grüße von Festivals wie Rotterdam, Locarno oder der Viennale. Auf der Berlinale waren sie bislang eher im Forum anzu­treffen, aber nun drängen sie in den inter­na­tio­nalen Wett­be­werb. Das ist sicher­lich die Hand­schrift des künst­le­ri­schen Berlinale-Leiters Carlo Chatrian, aber auch schon Kosslick hatte mit Lav Diaz im Wett­be­werb begonnen und die Presse mit acht­s­tün­digen Filmepen geärgert (mich nicht).

Die Filme, die ich in diesen Tagen auf dem Sofa wegsehe, sind die Antwort auf alle mich bedrän­genden Fragen. Vorbei sind die Poli­ti­ker­runden, Zahlen­werte, Stagna­ti­ons­pro­gnosen. Es geht nicht mehr darum, wann ich wieder rauskann, sondern es geht jetzt darum, ob ich überhaupt noch einmal raus muss. Das Lebens-Placebo. Die Filme, die über meinen Fernseher laufen (an Tag drei habe ich nun auch heraus­be­kommen, wie man diesen fetten Zähl­balken wegbe­kommt: einfach noch mal ins Bild klicken und nein, nicht wie am Rechner die Maus aus dem Bild fahren), sind nun endlich mein Fenster zur Welt, das so lange schon verschlossen ist. Ich fühle mich wie Benny in Benny’s Video. Alles ist abge­dun­kelt, nur noch die media­ti­sierte Welt erreicht mich. Was sagt eigent­lich Michael Haneke zum Streaming?

Hori­zon­tale Sektionen: Radu Jude

Nur wenige Berlinale-Filme reflek­tieren den Zustand des Corona-Confi­ne­ments. Am Vitalsten gelingt dies dem rumä­ni­schen Regisseur Radu Jude mit seinem Schel­men­s­tück Bad Luck Banging or Loony Porn. Wie der Titel schon verrät, geht es hier ans Einge­machte. Da ich meinen Tag in freudiger Erwartung mit Radu Jude beginne, werde ich gleich zum Frühstück mit Porno­grafie konfron­tiert. Aber Moment, ist das wirklich Porno­grafie, oder sind das nur exhi­bierte Geschlechts­teile, da ja damit kein Geld verdient wird? Diese Art der Fragen werden am Ende des Films von einer Art Eltern­tri­bunal verhan­delt, das klären will, was es mit dem Video mit porno­gra­fi­schem Inhalt der Lehrerin auf sich hat, das im Netz zu sehen ist. Zwischen der ersten Erotik­szene bis zum Tribunal entführt uns Jude in ein Bukarest unter Corona-Mund­schutz. Im Zentrum eine Lehrerin, die ein Fick-Video mit Maske aufge­nommen hat, einer der Eltern hat sie aber trotzdem erkannt. Jude hatte letztes Jahr zwei Filme im Forum, die ich wegen ihrer konzen­trierten Sach­lich­keit begeis­tert als »radikales Kino« einge­stuft habe. Jude aber hat eine weit gefasste Film-Klaviatur. Von ihm stammt beispiels­weise auch der Rumänen-Western Aferim! oder auch Mir ist es egal, ob wir als Barbaren in die Geschichte eingehen. Diesmal zeigt er uns eine Satire, eine Moritat, ein Schel­men­s­tück unserer Zeit. Am Ende verwan­delt sich die Prot­ago­nistin in Wonder­woman, bringt mit Rage ihre Lassos zum Fliegen und fängt die ganze Eltern-Bagage mit ihrem Netz. »Three possible endings« schlägt Jude nach diesem finalen Kraftakt vor: 1. The film was just a joke; 2. We’ve only kept you a moment; 3. The film was but a joke and here it ends.

Ich mochte den Film sehr. Bad Luck Banging or Loony Porn lief im Wett­be­werb der Berlinale, was mich wiederum irritiert. Es ist nicht irri­tie­rend, dass die Sektionen nun ganz und gar durch­lässig geworden sind, dass Regie-Namen einmal in der einen, dann wieder in der anderen Sektion vorge­funden werden können, dass anschei­nend nichts und niemand mehr auf eine Sektion fest­ge­legt ist. Alles wird schön in der Hori­zon­tale gehalten, ist permu­tativ, als Sektion, ein Bäumchen-wechsel-dich. Aller­dings kann ich nun auch im zweiten Jahr der neuen Berlinale-Leitung und nach drei Tagen Sichtung beim besten Willen nicht sagen, was die Kriterien sein könnten, die Filme auf die verschie­denen Sektionen zu verteilen. Cristina Nord hatte als neue Forums-Leiterin letztes Jahr gleich zwei Filme von Radu Jude im Programm, diesmal läuft er im Wett­be­werb, auch wenn ich ihn mir im Forum ebenfalls sehr gut hätte vorstellen können. Für den Wett­be­werb ist er eigent­lich zu sehr aus dem Hand­ge­lenk geschüt­telt – falls das ein Kriterium sein sollte.

Tradition: Xavier Beauvois und Hong Sang-soo

Ebenfalls im Wett­be­werb aber läuft zum Beispiel der von mir hoch­ge­schätzte Xavier Beauvois, ein Fall der fran­zö­si­schen Film­fa­milie. Albatros ist ein Gendar­merie-Film, der an der norman­ni­schen Küste von suizi­dalen Trieben der Bevöl­ke­rung erzählt. Ein Mann stürzt sich von der Klippe, ein Bauer verzwei­felt an den EU-Vorschriften. Laurent, Gendarm vor Ort, möchte diesen vor dem tödlichen Gewehr­schuss bewahren und erschießt ihn verse­hent­lich. Es folgt: Suspen­die­rung, Laurent bricht zu einer Segeltour auf, findet sich selbst. Jérémie Renier spielt den Poli­zisten mit den Selbst­zwei­feln, erwähnt werden muss an dieser Stelle aber mehr noch Pierre Creton als Bauer vor Ort. Denn Creton ist auch im wahren Leben Milch­bauer in der Normandie, macht außerdem Filme, die auf dem FID Marseille zu sehen sind, meist spielen sie in der Normandie und sind hiermit ausdrück­lich dem Forum empfohlen. Kurz ist man auch an Bruno Dumonts Miniserie »P’tit Quinquin« (2014) erinnert. Das familiäre Filmen zieht sich bei Beauvois durch den ganzen Cast. Neben seiner Tochter Madeleine Beauvois ist auch Marie-Julie Maille zu sehen, die Frau von Beauvois, als Frau des Poli­zisten.

Xavier Beauvois’ Film ist tradition, wie das Baguette heißt, an dem noch ein bisschen Mehlstaub haftet, damit es selbst­ge­machter aussieht. Das schmeckt auch erst einmal gut. Im Film policier Albatros aber fiel Beauvois kein guter Ausweg aus dem mora­li­schen Dilemma, aus den Gewis­sens­bissen des Poli­zisten ein. Im letzten Drittel ist Laurent nur noch »der Mann und das Meer«, während die Frau an Land duldsam das Haus räumt, das sie verliert, weil der Mann den Dienst quittiert hat. Am Schluss empfängt sie ihn trotzdem im strahlend weißen Braut­kleid – als alles verzei­hende Penelope, die uns als handelnde Figur vorent­halten wurde. Das ist ärger­li­ches Cinéma du papa, Monsieur Beauvois! Abgesehen von dem über­holten Frau­en­bild zeigt uns Beauvois vor allem einen Film, der ab einem gewissen Punkt nicht weiter weiß. Wie anders, wie toll und mit einer aufre­genden Nathalie Baye war hingegen sein Le petit lieu­tenant (2006), in dem Beauvois im Prinzip die gleiche Geschichte erzählt, nur besser.

Im Prinzip immer die gleiche Geschichte erzählt auch Hong Sang-soo, und auch er hat das schon mal besser gemacht. Dennoch sieht man seine Film­stücke einfach gerne und freut sich auf den Wieder­erken­nungs­ef­fekt. Bei Hong gibt es meist Momente, die sich wieder­holen, die sich spiegeln, Hand­lungen geschehen in Variation zweimal, oder die Menschen träumen und wachen auf, und dann erleben sie das, was sie geträumt haben, mit kleinen, wesent­li­chen Unter­schieden noch einmal. Wie ich, als ich am Montag viel zu früh aufwache, weil ich von Hongs Film geträumt habe. Diesmal, so mein Traum, spielt sein Film in einem Berliner Späti, es wird wieder viel Soju getrunken, auch davon träume ich. Und da sein neuer Film auch noch Intro­duc­tion heißt, wird er zu meinem ersten Film der virtu­ellen Berlinale. Natürlich ist der Film anders, er spielt nicht in einem Späti, aber in Berlin, zumindest im Mittel­stück. Ich vermute, dass Hong ihn bei seinem letzten Berlinale-Aufent­halt gedreht hat, als The Woman Who Ran im Wett­be­werb lief. Die kahlen Bäume und das Wetter geben es her.

Hong Sang-soo übrigens ist eins von vielen Binde­glie­dern zwischen alter und neuer Berlinale-Leitung. Auch unter Kosslick liefen schon Filme des Südko­rea­ners im Wett­be­werb, und in On the Beach at Night Alone (2017) spielte sogar der neue Chef-Programmer Mark Peranson mit Freundin Bettina Stein­brügge mit (die früher für das Forum mode­rierte). Das mag viel­leicht auch erklären, warum die neue Berlinale so organisch aus der alten heraus­wachsen kann.

Der Mensch aus der Konserve: Maria Schrader

Ich bin dein Mensch. So heißt der Titel des künftigen Berlinale-Eröff­nungs­film von Maria Schrader, wenn denn dann die Filme auch dem Publikum gezeigt werden sollen. Übrigens soll es jetzt doch ein Pres­se­kon­tin­gent geben, erklärt mir Pres­se­chefin Frauke Greiner, auch einen roten Teppich soll es geben, Stars und natürlich die Preis­ver­lei­hung, Open-Air-Vorfüh­rungen und überhaupt: einen tollen Sommer an der Spree. Und eine glamouröse Eröffnung.

Kleine Anmerkung: Bis dahin, zur Vorfüh­rung vor Publikum, werden alle Filme im Premie­ren­status gehalten, können also rein theo­re­tisch auch auf anderen Festivals laufen. Wenn beispiels­weise das Münchner Dokfest im Mai einen Doku­men­tar­film aus dem Berlinale-Programm zeigen möchte, dann hätten sie mit einemmal die Welt- oder Deutsch­land­pre­miere, oder wie darf man sich das vorstellen?

Maria Schrader, die in Vor der Morgen­röte stil­si­cher in filmi­schen Tableaux vom Brasilien-Exil Stefan Zweigs erzählte, hat sich diesmal eine Mischung aus Science-Fiction und Romantic Comedy vorge­nommen. Als Vorlage diente ihr Emma Bras­lavskys gleich­na­miger Roman. Die Grund­kon­stel­la­tion des Films jedoch ist erst einmal arche­ty­pisch-märchen­haft: Frau trifft auf den Traum­prinzen. Dann erinnert der Plot auch an das Kinder­buch von Christine Nöst­linger »Konrad oder das Kind aus der Konser­ven­büchse«. Analog hätte Maria Schrader ihren Film also auch »Tom oder der Mann aus der Konserve« nennen können. Denn genau darum geht es. Tom (Dan Stevens) ist der Traummann aus der Retorte, der nach den Wünschen und Vorlieben von Alma (Achtung, spre­chender Name: die Seele) zusam­men­ge­stellt wurde. Das ganze wurde mit hyper­sen­si­bler KI versehen und gehorcht dank Algo­rithmen scheinbar auch dem Zufalls­prinzip.

Wie bei Christine Nöst­linger ist jedoch auch hier die Produkt­emp­fän­gerin von der Perfek­tion der Fabrik­ware entnervt und möchte Tom zurück­schi­cken. Maren Eggert spielt als chao­ti­sche und selbstän­dige Alma ihre Gereizt­heit mit größter Lust aus, behandelt den künst­li­chen Mann erschre­ckend schlecht (ist ja nur eine Maschine) und wehrt sich überhaupt gegen seine roman­ti­schen Vorstel­lungen von Liebe, die ja doch nur dem Katalog zu entspringen scheinen.

Um es kurz zu machen: Wie bei einer guten Komödie ist auch hier der Weg das anek­do­ti­sche Ziel, verpufft aber auch recht schnell. Großes Vergnügen bereitet das Spiel von Eggert, Stevens und auch Sandra Hüller, die als Mischung zwischen Sozi­al­ar­bei­terin und Fabrik­wär­terin immer wieder nach dem Rechten sieht. Und genau auf dieser glän­zenden Schein­welt-Ober­fläche sollte der Film bleiben dürfen – sozusagen als perfor­ma­tive Umsetzung seines Gegen­standes. Auch wenn es schwer­fällt, nicht über das krasse Menschen­bild zu schreiben, nach dem man sich einen Partner wünscht, der perfekt ist, um das jetzt mal gender­neu­tral auszu­drü­cken.

Maria Schraders Film hat einen ganz anderen, gravie­renden Schön­heits­fehler: Er ist der erste Fern­seh­film der Regis­seurin, wie das Bran­chen­heft Blick­punkt Film vermeldet, und so fühlt es sich für meinen Kollegen Sedat Aslan auch über­deut­lich an. Hier seine ausführ­liche Kritik.

Wieso aber der Film von Maria Schrader dann im Wett­be­werb läuft, und nicht in dem für solche Zwecke geeig­ne­teren Berlinale Special?

(Fort­set­zung folgt)