11.03.2021

Ceci n’est pas un festival?

Petite Maman
Ort und Zeit überwinden: Mit Céline Sciammas Petite Maman
(Foto: Berlinale / Céline Sciamma)

Edelmann und Willmann auf der Berlinale und der Woche der Kritik 2021

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Auf der Berlinale 2020 war man noch guter Hoffnung, es würden Gratis-Sponsoren-Äpfel und Hand­des­in­fek­ti­ons­mittel genügen, um jener fernen Seuche Einhalt zu gebieten, von der man in den Nach­richten was mitbe­kommen hatte. Erst auf der Heimfahrt, vorbei am Messe­gelände, wo grad die Inter­na­tio­nale Touris­mus­börse abgesagt worden war, kam einem der Gedanke, dass das viel­leicht doch was Größeres sein könnte.

War’s dann auch, wie Sie viel­leicht bemerkt haben…

Nun hocken wir also hier, schieben eine seltsame Sehnsucht nach dem grau­kalten Potsdamer Platz im tristen Berliner Februar und dem miss­mu­tigen Gedrängel in der Schlange vor den Multiplex-Kinos.

Die Berlinale 2021 ist zwei­ge­teilt, und zumindest bis zum Sommer erstmal nur digital.

Freilich: Das reale Festival war’s nicht, und das konnte und wollte diese Online-Variante auch nicht ersetzen. Aber für das Abbild eines Festivals war es über­ra­schend lebens­echt.
Man konnte da schon auch selber nach­helfen: Man sammelte seine Uten­si­lien um sich – den altge­dienten Sponsoren-Kaffee-Tumbler, selbst­be­zahlte Äpfel, Groß­va­ters Dial­ein­wand aus dem Keller fürs Beamer-Bild (weil die mehr »Kino« schien als die weiße Zimmer­wand), den klas­si­schen Berlinale-Trailer von Youtube zuge­spielt. Zwang sich, auch weniger lieb­ge­won­nene Rituale beizu­be­halten, wie den viel zu frühen Wett­be­werbs­film nach viel zu wenig Schlaf.
Und was diese Heim­werker-Berlinale dann tatsäch­lich ähnlich bot wie das Original: Den Wahn, den Rausch, für ein paar Tage komplett in einem Strom von Filmen abzu­tau­chen.

Viel­leicht sogar noch extremer als sonst, weil man den »Kinotag« maxi­mieren konnte – der Weg zwischen den Spiel­stätten wurde reduziert auf Wohn­zimmer, Küche, Klo. Man konnte so viele Filme mehr sehen, wenn man nur keine Pausen einlegte. Oder aß. Oder schlief.

Und es war tatsäch­lich etwas Anderes als gewöhn­li­ches Freizeit-Binge-watching: Sich einer kura­tierten Auswahl auszu­setzen, auch raus aus der Komfort­zone, gab mehr Impulse, als wenn man daheim nach eigenem Gutdünken Filme am Bild­schirm vorbei­fließen lässt.
Der Chat mit Verbün­deten gab durchaus ein gewisses Gemein­schafts­ge­fühl. Und dass man da aktuelle Tipps und Warnungen austau­schen konnte, lag auch daran, dass das zunächst skeptisch beäugte 24-Stunden-Fenster, in dem täglich eine Film­aus­wahl für die Presse online ging, tatsäch­lich der Woche nicht nur eine Drama­turgie verlieh, sondern auch Filme zum Tages­ge­spräch machte. (Es hätte aller­dings enorm geholfen, wenn die Filme dann mindes­tens noch einen Tag länger verfügbar gewesen wären, damit man auf Empfeh­lungen auch noch reagieren kann.)

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Manches, was man auf der realen Berlinale vermisst, konnte man sich nun sogar auf eigene Faust zurecht­bas­teln: Endlich eine Midnight-Movies-Reihe! Zusam­men­ge­klaubt aus dem Gesamt­an­gebot. Mit Filmen, die in die unter­be­wussten Regionen des Hirns eins­töp­seln; Filmen für nach Mond­auf­gang; Filmen von der verruchten, klebrigen Seite des Kinos, fern der Notaus­gangs­be­leuch­tung; Filme von unter der Video­theken-Laden­theke.

Filme wie jene einst berüch­tigten »Video Nasties«, von denen man sich hinter vorge­hal­tener Hand zuraunte, die man sich in dritter Kopier­ge­nera­tion auf VHS heimlich zuge­steckt hat – und die Prano Bailey-Bonds Censor anzitiert, hinter deren Verstö­rungs­po­ten­tial er selbst aber in einem Akt unfrei­wil­liger Selbst­kon­trolle zurück­bleibt.

Die Titel­figur, eine britische Film­zen­sorin der Thatcher-Ära, trägt offen­sicht­lich ähnliche Züge wie Toby Jones’ vom Horror des Jobs heim­ge­suchter Tonin­ge­nieur in Peter Strick­lands Berberian Sound Studio. Aber Censor ist nie hallu­zi­na­to­risch, nie fiebrig genug, um dem Vergleich stand­zu­halten. Und trotzdem zu kunst­willig, als dass er als grad­li­niger B-Horror­film funk­tio­nieren würde.

Der Rückgriff auf (Ehr-)Furcht einflößende, legendäre Horror­filme muss sich nicht in Nostalgie erschöpfen: Moderner, cleverer, komplexer war der Ansatz von Dasha Nekra­sovas The Scary Of Sixty-First. Der paart nicht bloß die Ästhetik der barocken Gialli von Argento, Fulci & Co mit dem allzu realen Horror Jeffrey Epsteins, sondern beschwört Okkul­tismus als das verbin­dende, verbor­gene Geflecht zwischen Inferno, der Selbst­in­sze­nie­rung des mons­trösen Narzissten, und Online-Verschwö­rungs­theo­rien. Jeffrey Epstein als Pater Tene­brarum.

Auch wenn es, Karten auf den Tisch, im Licht der Sonne betrachtet, als Film konven­tio­neller bleibt und nicht so gut funk­tio­niert, wie es das Konzept verdient hätte.

Zu einer klas­si­schen Mitter­nachts­schiene gehören bei großen Festivals freilich Genre-Filme, die ihr Verspre­chen nicht erfüllen. Soi Cheangs Limbo erzählt seine Seri­en­kil­ler­ge­schichte von der Stadt, dem Müll und dem Tod letztlich zu glatt, zu sehr im stile antico der ‘90er. Seine hyper­de­tail­lierten Schwarz­weiß-Bilder wären prima als Demo für 4K-Fernseher im Elek­tro­markt geeignet. Lassen aber selten wirklich Körper­lich­keit, Verwesung empfinden. Und der Plot vom einsamen Cop von trauriger Gestalt reagiert seine Gewalt auch zu beharr­lich an einer Frau ab, der eine Hand fehlt, und die auch sonst echt arm dran ist.

So viel körper­li­cher und körniger, hand­ge­machter und hapti­scher wirkten da die mono­chromen Bilder von Conrad Veit & Charlotte Maria Kätzls Halb­stünder Blas­to­ge­nese X: So eine Art Unter­richts­film für einen surrea­lis­ti­schen VHS-Abendkurs Biologie, Lern­ein­heit »Ausknos­pung«, Eraser­head meets Green Porno, als Klas­sen­zimmer das Werk­statt­kino nachts um halb drei, mit Bier in der Hand, und man freut sich, dass Leute sich ein Herz, die Strick­na­deln und Wolle, sowie eine Kamera greifen, spiel­freudig in den Stein­bruch ziehen und sich dort halbnackt als Flora und Fauna maskiert austoben.

Einen verwandt leib­li­chen Zugang zum Kino, aber in der opulenten, der drastisch-plastisch-fantas­ti­schen Variante servierte Vị von Lê Bảo – der sich in seinem Spiel­film­debut als eine Art verschol­lener, viet­na­me­si­scher Verwandter Peter Greena­ways vorstellte. Ein Table­au­film, in dem sich die Ferke­leien in Gramm bemessen ließen. Satte Gemälde vom Nackt­ko­chen, Nacktra­deln, Schwein­chen­wiegen, Heiß­luft­bal­lon­nähen – Kuli­na­ri­sches Kino à la Chatrian.

Und irgendwie gehörte in die Mitter­nachts-Schiene, auf seine schon fast surreal miss­lun­gene Weise, sogar Je suis Karl: Der Sharknado unter den »Filmen gegen Rechts« für den Deutsch­un­ter­richt.

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Unwei­ger­lich stellte sich am Eröff­nungstag nach Vị eine gewisse Nervo­sität ein, man hätte so früh im Festival bereits das eine wahre filmische Gipfel­er­lebnis hinter sich, das einem erfah­rungs­gemäß pro Jahr besten­falls vergönnt ist.

Und das Bangen vor einem jähen Talab­stieg die rest­li­chen Tage wurde nicht geringer, als man dazu Montag und Dienstag schon mehr erfreu­liche Filme gesehen hatte, als sonst oft das ganze Festival über. Hong Sang-soos Inteu­ro­deok­syeon, Memory Box, Language Lessons, No Táxi do Jack, Denis Côtés Hygiène Sociale, Scary Of Sixty-first, Radu Judes späteren Goldenen Bären Gewinner, Night Raiders: Ange­sichts der Ausbeute stellte sich ein unge­wohntes Gefühl ein von… Zufrie­den­heit?

Und Zufrie­den­heit ist nicht wenig, bei einem Film­fes­tival – wo mitunter auch Tage völliger Sinnkrise nicht ausge­schlossen sind. Aber wegen bloßer Zufrie­den­heit hat man sich freilich nicht der Leiden­schaft ans Kino verschrieben. Eigent­lich – auch wenn man’s im Cine­as­ten­alltag kaum noch einzu­ge­stehen wagt – jagt man doch immer dem High nach. Dem Moment, in dem sich die Pupillen weiten, das Herz mit 24 Bildern pro Sekunde schlägt, der Rausch in die Adern schießt. Jene Erleb­nisse, nach denen man taumelnd aus dem Kinosaal zurück in die Welt fällt.

Eine Welt, die noch über­la­gert scheint von den Bildern auf der Leinwand – oder die plötzlich realer wirkt als zuvor, weil man sie dank des Films wieder neu sieht.

Und dann kam der Mittwoch – und verpasste einem nicht nur einen Schuss dieses Satori-Moments, sondern fast schon eine Überdosis.

Petite Maman wäre ohnehin ein großar­tiger Film, allein wegen Céline Sciammas völliger Meis­ter­schaft darin, ohne Aufhebens haar­ge­naue filmische Präzision zu verbinden mit einem hautnahen, jede feinste Regung der Emotion und Gedanken nach­zeich­nenden Blick ins Innere der Figuren. Aber was einen daran dann so glücklich machte, war, wie beiläufig sie die Fähigkeit des Kinos nutzt, Ort und Zeit zu über­winden; anfangs unmerk­lich den Realismus hinter sich lässt. Und so eine Verstän­di­gung zwischen Genera­tionen, zwischen Mutter und Tochter ermö­g­licht, die ohne diese selbst­ver­ständ­liche Magie zwischen den beiden nicht gelänge.

Alexandre Kobe­r­idzes Ras Vkhedvat, Rodesac Cas Vukurebt? stupste einen mit leichter Geste immer weiter voran, bis fast auf wunder­same Weise 150 Minuten vorbei­ge­zogen waren.

Er entschul­digt sich in der Mitte einmal kurz, dass er die Schlech­tig­keit der Welt ausspart, bewusst ein Märchen erzählt. Behei­matet in einem minimal verscho­benen Georgien von circa vorvor­letztem Jahr. Wo Argen­ti­nien Fußball-Welt­meister wird, und als recht boden­s­tän­dige Boten für über­sinn­liche Mächte Bäumchen, Abfluss­rohre und Über­wa­chungs­ka­meras dienen.

Und nur dem vom Fluch flüs­ternden Wind ein Auto im Weg steht.

Selten wird man von einem Film dazu aufge­for­dert, für einen seiner traum­haf­testen Momente nun bitte die Augen zu schließen. Aber man kann sich What Do We See When We Look At The Sky? getrost anver­trauen: Morgen früh, wenn das Kino will, wirst du wieder geweckt… Und wenn etwas den bösen Zauber lösen kann, dann ist es die Film­ka­mera.

Und man könnte recht leicht so tun, als wäre Dash Shaw & Jane Sembor­skis Anima­ti­ons­film Cryptozoo auf den Punkt zu bringen: Er hat genug an offen­sicht­li­chen Themen, alle­go­ri­scher Ebene. Der Tierpark für Fabel­wesen ist ein Bild für den Umgang mit Anders­ar­tig­keit – schil­lernd zwischen Zufluchtsort, gut gemeinter Freak Show und purer Kommo­di­fi­zie­rung; zwischen Zuneigung für Außen­seiter und eigen­nüt­zigem Fetisch.

Aber was den Film wirklich spek­ta­kulär macht, ist genau das Über­bor­dende, nicht Redu­zier­bare, ist das Poly­morphe, Polyphone seines Zeichen- und Erzähl­stils.

Man glaubt ihm seine absurde Welt so viel mehr, eben weil das nicht Einheit­liche, geradezu Wider­sprüch­liche in seiner Unvoll­kom­men­heit ein leben­diges, atmendes Ganzes ergibt.

Ein Mittwoch so rausch­haft, dass man am Donnerstag, als der altver­traute Berlinale-Alltag zurück­kehrte und aus allen Filmen die Luft raus schien, regel­recht verkatert war.

(Fort­set­zung folgt.)