71. Berlinale 2021
Zwei Trauer-Klöße für ein Halleluja |
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Der erste große Favorit im Berlinale-Wettbewerb: Dominik Grafs Fabian | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
»I would prefer not to.«
- Herman Melville, »Bartleby the Scrivener«»They sentenced me to 20 years of boredom/
For trying to change the system from within/
I’m coming now, I’m coming to reward them/
First we take Manhattan, then we take Berlin.«
- Leonard Cohen; First We Take Manhattan
»Rüdiger, schau dir meinen Film bitte nicht im Stream an! Ich hoffe, du kannst ihn bald im Kino sehen, und ich wäre sehr unglücklich, wenn du den Film jetzt auf irgendeinem Bildschirm oder Fernseher sehen würdest.« – Der Anruf von einem Verzweifelten, einem Filmemacher, dessen Film jetzt gerade in einer renommierten Sektion der Berlinale zu sehen ist, und der sich allenfalls halb darüber freut. So wie wir die Filme nur halb sehen.
Manche Regisseure fürchten um die fehlende
Wirkung der Bilder, um die sie sich doch so viel Mühe gegeben haben, andere um die Wirkung des Tons. Beides zu Recht. Ein sorgfältig gemischter Soundteppich überträgt sich nämlich ebenso schlecht wie die Feinheiten und Tiefen eines wohlgestalteten Filmbildes. »Das, was hier in dieser Woche gemacht wird, das geht einfach nicht. Das ist nicht anständig, es ist nicht richtig.« sagt ein anderer Filmemacher und auch er hat Recht. Das Defizitäre einer solchen Festival-Ausgabe, das schlägt
in dem Fall eines Weltpremieren-Festivals wie der Berlinale natürlich doppelt und dreifach zu Buche.
Ich gebe zu: Ich habe in Rotterdam hervorragende Filme gesehen und ich habe sie gern gesehen. Ich gebe auch zu: Mannheim hat großartige Filme gezeigt und Saarbrücken auch ein paar gute. Alle diese Festivals fanden nur als Online-Edition statt. Man kann mit guten Gründen sagen: Das ist besser als nichts. Man kann aber auch mit guten Gründen argumentieren: Besser dieses Nichts als ein unvollständiges Irgendetwas, als ein schlechtes Surrogat.
Allemal muss man feststellen: Die Filme, die in Mannheim liefen, die konnte man größtenteils vorher irgendwo auf der Leinwand sehen, insofern hat sowohl die Fachpresse die Möglichkeit gehabt, sich ein angemessenes Bild zu verschaffen, ein richtiges Bild vom Leinwandbild. Aber auch die Filmemacher hatten ihre wirkliche Premiere.
Ganz anders ist es dann schon wieder bei Saarbrücken. Tatsächlich waren die meisten Filme, die dort liefen, ja Premieren. Aber ohne Publikum. Den
Filmemachern blieb die Möglichkeit zum Austausch mit dem Publikum und zum Erlebnis der Wirkung ihres Films im Kinosaal versagt. Und man muss sagen, dass das diesjährige Festival Max-Ophüls-Preis viel schwächer war und weniger wirkungsvoll und weniger interessant auch von den Filmen her, als es normalerweise ist, wenn es im Kino stattfindet. Trotzdem habe ich auch dort gute Filme gesehen und bin froh, dass ich sie wenigstens so gesehen habe – besser als gar nichts. Das Gleiche
war auch der Fall bei Rotterdam. Ich habe in Rotterdam hervorragende Filme gesehen, viele von ihnen waren Weltpremieren – und ich hätte diese Filme nicht gesehen ohne die Online-Ausgabe des Festivals. Ist also das Glas halbleer oder halbvoll? Für mich persönlich ist es im Kino immer halbvoll.
Aber für die Filmemacher?
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Lust am Kino erweckt man jedenfalls anders.
Und das ist jetzt der Moment, dann doch noch einmal auf diesen schrecklichen Auftritt zu sprechen zu kommen, diesen bizarren Auftritt der Online-Programm-Verkündung vor etwa drei Wochen. Auf diesem Link kann man ihn sich anschauen, wenn man es denn sich antun möchte. Es wirkt angenehm gegenüber seinem Vorgänger, mit dem allerdings die Latte denkbar niedrig gesetzt ist, dass Carlo Chatrian offensichtlich die Filme tatsächlich kennt und mag, die er zeigt, und vor allem, dass er sie gesehen hat. Das ist schon viel wert und nicht zu unterschätzen, das meine ich nicht ironisch. Ich glaube, dass die Auswahl im Prinzip gut ist. Viel besser als unter Kosslick. Ich glaube, dass es für die Berlinale auch gut ist, dass sie gezwungenermaßen plötzlich 100 Filme zeigt. Das ist genau die richtige Menge für ein solches Filmfestival, was man an den besseren Festivals, an Cannes oder Venedig gut sehen kann, die auch nicht mehr zeigen. Aber wie das alles präsentiert wird – das ist schon ein starkes Stück. Es geht los mit diesen Schweizer Kreuzen auf jedem zweiten roten Sessel, in dem Saal, in dem die Aufnahme gemacht wurde. Warum so ein zur Schau getragener Corona-Gehorsam? Warum nicht einfach ein Kino zeigen, das voll ist oder das zumindest voll sein kann und wo nicht jeder zweite Sitzplatz schon gezeichnet ist mit einem Kino-Kainsmal?
Warum setzt man nicht wenigstens die Praktikanten der Presseabteilung ins Kino, damit die beiden offenkundig hilflosen Berlinale-Chefs ein bisschen lächeln müssen, ein bisschen zu einem offenkundig vorhandenen Gegenüber sprechen anstatt ins Nirwana? Warum diese Schlaffheit, diese Energielosigkeit, die hier ausgestrahlt wird?
Sowohl Thierry Fremaux, der künstlerische Direktor von Cannes, als auch sein Kollege aus Venedig, Alberto Barbera strahlen noch in ihrem kleinen
Finger mehr Energie aus, als diese beiden Berlinale-Chefs zusammen. Sorry to say.
Und man sollte sich auch noch einmal die komplette Absage des Festivals von Cannes durch Thierry Fremaux im Netz anschauen: In dieser Absage findet man mehr Enthusiasmus fürs Kino und Lust am Film, mehr Yeah Wow Boah, als in der Berlinale-Ankündigung von vor drei Wochen.
»Zwei Trauer-Klöße«, meinte eine erfahrene Pressedame; »ein Desaster«, eine Kollegin.
Hilflos wurden Verleiher im Unklaren gelasssen.
»Obwohl ich mit Presse-Chefin Frauke Greiner befreudet bin« wissen wir nichts, »bei der Berlinale herrscht internes Chaos«.
So wird es jedenfalls wahrgenommen.
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Das alles hat tatsächlich etwas mit der Würde eines Filmfestivals zu tun. Also mit der Frage, wozu es ein Filmfestival eigentlich gibt? Dafür, öffentliches Geld zu verpulvern? Dafür, private Einnahmen zu generieren? Dafür, einfach da zu sein? Anders gesagt: Was nützen all die schönen Reden vom Kino, dem man doch angeblich helfen möchte und auf dessen Wiederkehr man sich freut, wenn man gleichzeitig die Abwesenheit des Kinos zelebriert oder zumindest sie ignoriert? Wenn man gleichzeitig sagt, dass die Filmbranche, die doch zu einem großen Teil vom Kino lebt, unbedingt ein Kino-loses Filmfestival braucht?
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Eine Liebesgeschichte, die auch zum Verzweifeln ist, aber immer pragmatisch, nie melodramatisch, also echt und zeitgemäß, nie »ausgedacht«: Fabian oder der Gang vor die Hunde, vom Münchner Regisseur Dominik Graf, der erste von fünf deutschen Filmen im diesjährigen Wettbewerb um den Goldenen Bären, hatte gestern Premiere.
Dies ist ein überraschend zärtlicher und
intimer Film, und alles andere als eine typische Literaturverfilmung. »Fabian«, das ist natürlich der berühmte und zugleich für seine Zeit ziemlich ungewöhnliche Roman von Erich Kästner. Er erzählt von einem jungen Mann, der vielleicht dem Verfasser nicht so unähnlich ist, der optimistisch und positiv denkt, dann zugleich verzweifelt in diesem Optimismus. Der im Berlin der späten Weimarer Republik mitten in der Weltwirtschaftskrise zu überleben versucht. Die Verhältnisse sind
zutiefst unglücklich, und werden noch unglücklicher, als Fabian, der zunächst als Werbetexter arbeitet, arbeitslos wird. Zugleich sind sie glücklich, denn Fabian verliebt sich und diesmal meint er es ernst. Melancholie und Hedonismus, Glück des Tages und grundsätzliche Verzweiflung vermischen sich zu einem bezaubernden, bittersüßen Portrait einer vergangenen Epoche, die der unsrigen im Guten wie im Schlechten ziemlich ähnlich sieht. Es der erste große Favorit im
Berlinale-Wettbewerb.
Wenn es mit rechten Dingen zuginge, würde dieser Film am Freitag einen der großen Bären-Preise bekommen – für seine Kamera, für seine Regie, für die großartigen Hauptdarsteller Tom Schilling und Saskia Rosendahl, für seine Ausstattung.
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Aber wo geht es schon mit rechten Dingen zu bei der diesjährigen Berlinale?
Im letzten Jahr waren die Berliner Filmfestspiele eine der letzten kulturellen Großveranstaltungen, die noch reibungslos und in alter Normalität über die Bühne ging. Kurz danach wurde das gesellschaftliche und kulturelle Leben in Deutschland heruntergefahren – in vieler Hinsicht dauerhaft, und bis heute ohne echte Erholung. Jetzt ist ein gutes Jahr später theoretisch wieder Berlinale-Zeit. Aber bei der 71. Ausgabe ist alles anders. Oder wie es der künstlerische
Leiter der Berlinale, der Italiener Carlo Chatrian, ausdrückt: »Ein bisschen komisch.«
Wenn Chatrian sagt, das Ganze sei »komisch«, dann hat dieses Wort ja eine Doppelbedeutung: Komisch kann »witzig« heißen, kann aber auch »sonderbar« heißen, und ganz bestimmt meint er diese zweite Bedeutung des Wortes.
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Das Festival begann am Montag ohne Party, ohne roten Teppich und ohne anderes Brimborium – also eigentlich ohne alles, was im Prinzip den Sinn wie den Charme eines Filmfestivals ausmacht – als eine sogenannte »Hybrid-Ausgabe«, zweigeteilt in Fachbesucher-Treffen, komplett online im März, und in einen Publikumsevent im Juni, mit ein paar Stars.
Was das genau heißt für die Rahmenbedingungen und die Wirkung eines Filmfestivals, ist auch jetzt noch nicht klar. Wenn bei Corona sehr oft vom »Fahren auf Sicht« die Rede ist, so handelt es sich hier um ein Stochern im Nebel.
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Fachbesucher – und auch Filmkritiker sind ja Fachbesucher – bekommen, eingeloggt in ein Filmportal, einen Teil des Programms zur Verfügung gestellt. Das heißt: Man sieht die Filme zu Hause am Computer, aber keineswegs alle, und unter deutlich eingeschränkten Bedingungen. Dazu gehört das eng begrenzte 24-Stunden-Zeitfenster pro Film, das zusätzlich durch Embargo-Regeln also Sperrfristen, begrenzt ist – die Berichterstattung (auch unsere) ist also anders als
üblich eingeschränkt.
Alles wird nicht dominiert vom Reich der Möglichkeiten, die ein solches Filmfestival ansonsten eigentlich ist. Sondern durch die Schranken, die eben nicht allein darin bestehen, dass man nicht ins Kino gehen darf. Den gerechtfertigten Wunsch des Publikums, auch der artechock-Leser, zu wissen, was auf dieser Berlinale geschieht, können die Berichterstatter eigentlich nicht erfüllen.
Bzw. nur sehr eingeschränkt.
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Diese Organisationsprobleme haben vor allem für die Filme selbst Folgen. Denn warum geben Filmemacher ihre Filme überhaupt einem Festival? Aus Interesse, die Reaktionen vor dem Filmstart einschätzen zu können, und weltweite Presseresonanz zu bekommen.
Im Gegensatz zu den Online-Ausgaben anderer Festivals fallen bei der Berlinale auch Pressekonferenzen und Publikumsgespräche komplett weg. Das heißt: Es gibt für die Filmemacher keine Möglichkeit, Reaktionen zu
erspüren, mitzubekommen, wie ein Film bei Presse und Publikum ankommt. Was vielleicht den allergrößten Reiz von einem Filmfestival ausmacht, nämlich die Begegnung mit dem Publikum, das fehlt völlig.
Darüber klagen sehr viele Filmemacher und ihre Rechte-Händler.
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Natürlich trägt die Pandemie Schuld. Die misslichen Verhältnisse treffen nicht zuletzt die Vielfalt des deutschen Independent-Kinos wie Julian Radlmair, der mit dem Berliner Volksbühnenstar Lilith Stangenberg die sehr lustige antifaschistische Vampirkomödie Blutsauger gedreht hat. Darin geht es um einen sowjetischen Schauspieler, der in den 20er Jahren ins brodelnde Berlin flieht – dies ist auch eine Flüchtlingsgeschichte, in weiteren Rollen sind Corinna Harfouch, Andreas Döhler und Alexandre Koberidze zu sehen. Auch der Münchner Regisseur Tim Fehlbaum braucht für seinen zweiten Film, den überaus anspruchsvollen, visuell überwältigenden Science-Fiction Tides die große Leinwand. Oder auch Daniel Brühl, der im Lockdown sein Regiedebüt Nebenan gedreht hat: »Ein hundertprozentiger Berlin-Film« sei das, so Brühl; Festivalboss Chatrian verriet schon vorab, dass Brühl sich hier quasi selber spielt, einen Filmstar, der im Nachtleben des Prenzlauer Berg den Gegenwelten des anderen Berlin begegnet.
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Grafs »Fabian« wiederum endet mit einem große Autodafé, dem Beginn eines Weltenbrands. Der »Gang vor die Hunde« des Romantitels könnte auch manchem Filmemacher und Kino blühen. Hoffentlich nicht auch der Berlinale.