04.03.2021
71. Berlinale 2021

Zwei Trauer-Klöße für ein Halleluja

Fabian
Der erste große Favorit im Berlinale-Wettbewerb: Dominik Grafs Fabian
(Foto: Berlinale Presseservice)

Die Streamliale oder: Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit – Berlinale-Tagebuch, Folge 01

Von Rüdiger Suchsland

»I would prefer not to.«
- Herman Melville, »Bartleby the Scrivener«

»They sentenced me to 20 years of boredom/
For trying to change the system from within/
I’m coming now, I’m coming to reward them/
First we take Manhattan, then we take Berlin.«

- Leonard Cohen; First We Take Manhattan

»Rüdiger, schau dir meinen Film bitte nicht im Stream an! Ich hoffe, du kannst ihn bald im Kino sehen, und ich wäre sehr unglück­lich, wenn du den Film jetzt auf irgend­einem Bild­schirm oder Fernseher sehen würdest.« – Der Anruf von einem Verzwei­felten, einem Filme­ma­cher, dessen Film jetzt gerade in einer renom­mierten Sektion der Berlinale zu sehen ist, und der sich allen­falls halb darüber freut. So wie wir die Filme nur halb sehen.
Manche Regis­seure fürchten um die fehlende Wirkung der Bilder, um die sie sich doch so viel Mühe gegeben haben, andere um die Wirkung des Tons. Beides zu Recht. Ein sorg­fältig gemischter Sound­tep­pich überträgt sich nämlich ebenso schlecht wie die Fein­heiten und Tiefen eines wohl­ge­stal­teten Film­bildes. »Das, was hier in dieser Woche gemacht wird, das geht einfach nicht. Das ist nicht anständig, es ist nicht richtig.« sagt ein anderer Filme­ma­cher und auch er hat Recht. Das Defi­zi­täre einer solchen Festival-Ausgabe, das schlägt in dem Fall eines Welt­pre­mieren-Festivals wie der Berlinale natürlich doppelt und dreifach zu Buche.

Ich gebe zu: Ich habe in Rotterdam hervor­ra­gende Filme gesehen und ich habe sie gern gesehen. Ich gebe auch zu: Mannheim hat groß­ar­tige Filme gezeigt und Saar­brü­cken auch ein paar gute. Alle diese Festivals fanden nur als Online-Edition statt. Man kann mit guten Gründen sagen: Das ist besser als nichts. Man kann aber auch mit guten Gründen argu­men­tieren: Besser dieses Nichts als ein unvoll­s­tän­diges Irgend­etwas, als ein schlechtes Surrogat.

Allemal muss man fest­stellen: Die Filme, die in Mannheim liefen, die konnte man größ­ten­teils vorher irgendwo auf der Leinwand sehen, insofern hat sowohl die Fach­presse die Möglich­keit gehabt, sich ein ange­mes­senes Bild zu verschaffen, ein richtiges Bild vom Lein­wand­bild. Aber auch die Filme­ma­cher hatten ihre wirkliche Premiere.
Ganz anders ist es dann schon wieder bei Saar­brü­cken. Tatsäch­lich waren die meisten Filme, die dort liefen, ja Premieren. Aber ohne Publikum. Den Filme­ma­chern blieb die Möglich­keit zum Austausch mit dem Publikum und zum Erlebnis der Wirkung ihres Films im Kinosaal versagt. Und man muss sagen, dass das dies­jäh­rige Festival Max-Ophüls-Preis viel schwächer war und weniger wirkungs­voll und weniger inter­es­sant auch von den Filmen her, als es norma­ler­weise ist, wenn es im Kino statt­findet. Trotzdem habe ich auch dort gute Filme gesehen und bin froh, dass ich sie wenigs­tens so gesehen habe – besser als gar nichts. Das Gleiche war auch der Fall bei Rotterdam. Ich habe in Rotterdam hervor­ra­gende Filme gesehen, viele von ihnen waren Welt­pre­mieren – und ich hätte diese Filme nicht gesehen ohne die Online-Ausgabe des Festivals. Ist also das Glas halbleer oder halbvoll? Für mich persön­lich ist es im Kino immer halbvoll.

Aber für die Filme­ma­cher?

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Lust am Kino erweckt man jeden­falls anders.

Und das ist jetzt der Moment, dann doch noch einmal auf diesen schreck­li­chen Auftritt zu sprechen zu kommen, diesen bizarren Auftritt der Online-Programm-Verkün­dung vor etwa drei Wochen. Auf diesem Link kann man ihn sich anschauen, wenn man es denn sich antun möchte. Es wirkt angenehm gegenüber seinem Vorgänger, mit dem aller­dings die Latte denkbar niedrig gesetzt ist, dass Carlo Chatrian offen­sicht­lich die Filme tatsäch­lich kennt und mag, die er zeigt, und vor allem, dass er sie gesehen hat. Das ist schon viel wert und nicht zu unter­schätzen, das meine ich nicht ironisch. Ich glaube, dass die Auswahl im Prinzip gut ist. Viel besser als unter Kosslick. Ich glaube, dass es für die Berlinale auch gut ist, dass sie gezwun­ge­ner­maßen plötzlich 100 Filme zeigt. Das ist genau die richtige Menge für ein solches Film­fes­tival, was man an den besseren Festivals, an Cannes oder Venedig gut sehen kann, die auch nicht mehr zeigen. Aber wie das alles präsen­tiert wird – das ist schon ein starkes Stück. Es geht los mit diesen Schweizer Kreuzen auf jedem zweiten roten Sessel, in dem Saal, in dem die Aufnahme gemacht wurde. Warum so ein zur Schau getra­gener Corona-Gehorsam? Warum nicht einfach ein Kino zeigen, das voll ist oder das zumindest voll sein kann und wo nicht jeder zweite Sitzplatz schon gezeichnet ist mit einem Kino-Kainsmal?

Warum setzt man nicht wenigs­tens die Prak­ti­kanten der Pres­se­ab­tei­lung ins Kino, damit die beiden offen­kundig hilflosen Berlinale-Chefs ein bisschen lächeln müssen, ein bisschen zu einem offen­kundig vorhan­denen Gegenüber sprechen anstatt ins Nirwana? Warum diese Schlaff­heit, diese Ener­gie­lo­sig­keit, die hier ausge­strahlt wird?
Sowohl Thierry Fremaux, der künst­le­ri­sche Direktor von Cannes, als auch sein Kollege aus Venedig, Alberto Barbera strahlen noch in ihrem kleinen Finger mehr Energie aus, als diese beiden Berlinale-Chefs zusammen. Sorry to say.
Und man sollte sich auch noch einmal die komplette Absage des Festivals von Cannes durch Thierry Fremaux im Netz anschauen: In dieser Absage findet man mehr Enthu­si­asmus fürs Kino und Lust am Film, mehr Yeah Wow Boah, als in der Berlinale-Ankün­di­gung von vor drei Wochen.

»Zwei Trauer-Klöße«, meinte eine erfahrene Pres­se­dame; »ein Desaster«, eine Kollegin.

Hilflos wurden Verleiher im Unklaren gelasssen.
»Obwohl ich mit Presse-Chefin Frauke Greiner befreudet bin« wissen wir nichts, »bei der Berlinale herrscht internes Chaos«.
So wird es jeden­falls wahr­ge­nommen.

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Das alles hat tatsäch­lich etwas mit der Würde eines Film­fes­ti­vals zu tun. Also mit der Frage, wozu es ein Film­fes­tival eigent­lich gibt? Dafür, öffent­li­ches Geld zu verpul­vern? Dafür, private Einnahmen zu gene­rieren? Dafür, einfach da zu sein? Anders gesagt: Was nützen all die schönen Reden vom Kino, dem man doch angeblich helfen möchte und auf dessen Wieder­kehr man sich freut, wenn man gleich­zeitig die Abwe­sen­heit des Kinos zele­briert oder zumindest sie ignoriert? Wenn man gleich­zeitig sagt, dass die Film­branche, die doch zu einem großen Teil vom Kino lebt, unbedingt ein Kino-loses Film­fes­tival braucht?

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Eine Liebes­ge­schichte, die auch zum Verzwei­feln ist, aber immer prag­ma­tisch, nie melo­dra­ma­tisch, also echt und zeitgemäß, nie »ausge­dacht«: Fabian oder der Gang vor die Hunde, vom Münchner Regisseur Dominik Graf, der erste von fünf deutschen Filmen im dies­jäh­rigen Wett­be­werb um den Goldenen Bären, hatte gestern Premiere.
Dies ist ein über­ra­schend zärt­li­cher und intimer Film, und alles andere als eine typische Lite­ra­tur­ver­fil­mung. »Fabian«, das ist natürlich der berühmte und zugleich für seine Zeit ziemlich unge­wöhn­liche Roman von Erich Kästner. Er erzählt von einem jungen Mann, der viel­leicht dem Verfasser nicht so unähnlich ist, der opti­mis­tisch und positiv denkt, dann zugleich verzwei­felt in diesem Opti­mismus. Der im Berlin der späten Weimarer Republik mitten in der Welt­wirt­schafts­krise zu überleben versucht. Die Verhält­nisse sind zutiefst unglück­lich, und werden noch unglück­li­cher, als Fabian, der zunächst als Werbe­texter arbeitet, arbeitslos wird. Zugleich sind sie glücklich, denn Fabian verliebt sich und diesmal meint er es ernst. Melan­cholie und Hedo­nismus, Glück des Tages und grund­sätz­liche Verzweif­lung vermi­schen sich zu einem bezau­bernden, bitter­süßen Portrait einer vergan­genen Epoche, die der unsrigen im Guten wie im Schlechten ziemlich ähnlich sieht. Es der erste große Favorit im Berlinale-Wett­be­werb.
Wenn es mit rechten Dingen zuginge, würde dieser Film am Freitag einen der großen Bären-Preise bekommen – für seine Kamera, für seine Regie, für die groß­ar­tigen Haupt­dar­steller Tom Schilling und Saskia Rosendahl, für seine Ausstat­tung.

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Aber wo geht es schon mit rechten Dingen zu bei der dies­jäh­rigen Berlinale?

Im letzten Jahr waren die Berliner Film­fest­spiele eine der letzten kultu­rellen Groß­ver­an­stal­tungen, die noch reibungslos und in alter Norma­lität über die Bühne ging. Kurz danach wurde das gesell­schaft­liche und kultu­relle Leben in Deutsch­land herun­ter­ge­fahren – in vieler Hinsicht dauerhaft, und bis heute ohne echte Erholung. Jetzt ist ein gutes Jahr später theo­re­tisch wieder Berlinale-Zeit. Aber bei der 71. Ausgabe ist alles anders. Oder wie es der künst­le­ri­sche Leiter der Berlinale, der Italiener Carlo Chatrian, ausdrückt: »Ein bisschen komisch.«
Wenn Chatrian sagt, das Ganze sei »komisch«, dann hat dieses Wort ja eine Doppel­be­deu­tung: Komisch kann »witzig« heißen, kann aber auch »sonderbar« heißen, und ganz bestimmt meint er diese zweite Bedeutung des Wortes.

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Das Festival begann am Montag ohne Party, ohne roten Teppich und ohne anderes Brim­bo­rium – also eigent­lich ohne alles, was im Prinzip den Sinn wie den Charme eines Film­fes­ti­vals ausmacht – als eine soge­nannte »Hybrid-Ausgabe«, zwei­ge­teilt in Fach­be­su­cher-Treffen, komplett online im März, und in einen Publi­kum­se­vent im Juni, mit ein paar Stars.

Was das genau heißt für die Rahmen­be­din­gungen und die Wirkung eines Film­fes­ti­vals, ist auch jetzt noch nicht klar. Wenn bei Corona sehr oft vom »Fahren auf Sicht« die Rede ist, so handelt es sich hier um ein Stochern im Nebel.

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Fach­be­su­cher – und auch Film­kri­tiker sind ja Fach­be­su­cher – bekommen, einge­loggt in ein Film­portal, einen Teil des Programms zur Verfügung gestellt. Das heißt: Man sieht die Filme zu Hause am Computer, aber keines­wegs alle, und unter deutlich einge­schränkten Bedin­gungen. Dazu gehört das eng begrenzte 24-Stunden-Zeit­fenster pro Film, das zusätz­lich durch Embargo-Regeln also Sperr­fristen, begrenzt ist – die Bericht­erstat­tung (auch unsere) ist also anders als üblich einge­schränkt.
Alles wird nicht dominiert vom Reich der Möglich­keiten, die ein solches Film­fes­tival ansonsten eigent­lich ist. Sondern durch die Schranken, die eben nicht allein darin bestehen, dass man nicht ins Kino gehen darf. Den gerecht­fer­tigten Wunsch des Publikums, auch der artechock-Leser, zu wissen, was auf dieser Berlinale geschieht, können die Bericht­erstatter eigent­lich nicht erfüllen.
Bzw. nur sehr einge­schränkt.

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Diese Orga­ni­sa­ti­ons­pro­bleme haben vor allem für die Filme selbst Folgen. Denn warum geben Filme­ma­cher ihre Filme überhaupt einem Festival? Aus Interesse, die Reak­tionen vor dem Filmstart einschätzen zu können, und weltweite Pres­se­re­so­nanz zu bekommen.
Im Gegensatz zu den Online-Ausgaben anderer Festivals fallen bei der Berlinale auch Pres­se­kon­fe­renzen und Publi­kums­ge­spräche komplett weg. Das heißt: Es gibt für die Filme­ma­cher keine Möglich­keit, Reak­tionen zu erspüren, mitzu­be­kommen, wie ein Film bei Presse und Publikum ankommt. Was viel­leicht den aller­größten Reiz von einem Film­fes­tival ausmacht, nämlich die Begegnung mit dem Publikum, das fehlt völlig.
Darüber klagen sehr viele Filme­ma­cher und ihre Rechte-Händler.

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Natürlich trägt die Pandemie Schuld. Die miss­li­chen Verhält­nisse treffen nicht zuletzt die Vielfalt des deutschen Inde­pen­dent-Kinos wie Julian Radlmair, der mit dem Berliner Volks­büh­nen­star Lilith Stan­gen­berg die sehr lustige anti­fa­schis­ti­sche Vampir­komödie Blut­sauger gedreht hat. Darin geht es um einen sowje­ti­schen Schau­spieler, der in den 20er Jahren ins brodelnde Berlin flieht – dies ist auch eine Flücht­lings­ge­schichte, in weiteren Rollen sind Corinna Harfouch, Andreas Döhler und Alexandre Koberidze zu sehen. Auch der Münchner Regisseur Tim Fehlbaum braucht für seinen zweiten Film, den überaus anspruchs­vollen, visuell über­wäl­ti­genden Science-Fiction Tides die große Leinwand. Oder auch Daniel Brühl, der im Lockdown sein Regie­debüt Nebenan gedreht hat: »Ein hundert­pro­zen­tiger Berlin-Film« sei das, so Brühl; Festi­val­boss Chatrian verriet schon vorab, dass Brühl sich hier quasi selber spielt, einen Filmstar, der im Nacht­leben des Prenz­lauer Berg den Gegen­welten des anderen Berlin begegnet.

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Grafs »Fabian« wiederum endet mit einem große Autodafé, dem Beginn eines Welten­brands. Der »Gang vor die Hunde« des Roman­ti­tels könnte auch manchem Filme­ma­cher und Kino blühen. Hoffent­lich nicht auch der Berlinale.