71. Berlinale 2021
Lebensprägende, aber sich verfehlende Begegnungen |
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Ein großes Glück des Zuschauens – Petite Maman von Céline Sciamma | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
»Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht: Vielleicht sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so rasch Früchte trug; vielleicht sollte man sich selber doch ein wenig ernster nehmen und in dem wackligen Weltgebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das Leben zu lieben und kein seriöses Verhältnis mit ihm zu haben.«
- aus: »Fabian oder der Gang vor die Hunde« von Erich Kästner
Am Anfang ein Abschied: Gleich dreimal Au Revoir! – das sind die ersten Worte des Films, gesprochen von einem kleinen Mädchen.
Acht Jahre alt ist Nelly, und gerade ist ihre geliebte Großmutter gestorben.
An den nächste Tagen wird Nelly mit ihren Eltern das alte Haus der Großmutter am Rand eines großen Waldes ausräumen.
Viele Stunden verbringt sie sich selbst überlassen, auf den Spuren der Kindheit ihrer Mutter. Mehr und mehr taucht Nelly dabei ein in die Gefühlswelt ihrer Mutter, als diese selbst nicht älter war, als sie jetzt. Sie blättert in deren alten Schulheften, sie entdeckt Spielzeug in den Schränken, und sie fürchtet sich vor dem Panther, der nachts wie ein Schatten am Fußende ihres Bettes zu kratzen scheint.
Sie spielt auch im Wald, wie ihre Mutter früher. Eines Tages trifft sie dort ein anderes Mädchen, das etwa so alt ist wie sie und das zu ihrer Spielgefährtin wird. Gemeinsam bauen sie an einem Baumhaus, etwa an jener Stelle, wo auch die Mutter einst eines hatte. Die neue Freundin, sie heißt Marion, nimmt sie irgendwann mit in ihr Elternhaus und spätestens in diesem Moment begreift jeder Zuschauer, was vor sich geht: Denn dieses Elternhaus ist mit dem von Nellys Großmutter identisch. Die achtjährige Marion ist eine frühere Version von Nellys Mutter!
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Das ist die phantastische Wendung, die dieser Film etwa zu seiner Hälfte nimmt. Unerwartet, schockierend in dem Wechsel des Tons, den er für den Film bedeutet, und zugleich ganz natürlich, ganz selbstverständlich im Übergang zwischen der einen Welt zu der anderen.
Man kann jetzt als Zuschauer deuten, interpretieren, man kann diese Wendung ins Phantastische als ein naives oder romantisches Märchen auffassen, als eine Form magischer Realismus, man kann dem Ganzen eine psychoanalytische Deutung geben und sich sagen, dass Nelly sich das alles nur einbildet. Aber ganz so einfach ist es nicht – nur ist es völlig egal, wie man sich die Sache letztendlich erklärt; und am besten lässt man alles auf sich beruhen und nimmt es mit ähnlicher Selbstverständlichkeit wie die achtjährige Hauptfigur: Kein Grund zur Beunruhigung; kein Grund, sich in seinen Weltbildern irritieren zu lassen.
Wer würde schon gerne seine Mutter treffen als gleichaltrige? Als Kind, wenn man selbst Kind ist?
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Es ist jetzt einfach so: Nelly trifft ein paar Tage lang täglich ihre eigene Mutter als Gleichaltrige.
Was wir nun erleben, während wir zwei jungen Mädchen dabei zuschauen, wie sie spielen, wie sie ein Baumhaus bauen, wie sie ziemlich albern und laut kichernd Pfannkuchen backen, wie sie Rollenspiele spielen – es ist die Annäherung der Tochter an die Mutter und eine Art Versöhnung, die durchaus etwas Gegenseitiges hat. Nelly trifft auch die Großmutter, die sie gerade verloren hat, wieder, die nur eine viel jüngere Frau ist, und kann das nachholen, was sie zuvor verpasst hatte: Sich richtig verabschieden.
Zum eigentlichen Höhepunkt wird aber der letzte Tag, der einzige Moment, in dem Musik alles erfüllt – eine Schlüsselszene, wie sie für Sciamma typisch ist.
Sie zeigt eine gemeinsame Schlauchboot-Tour der kleinen Mädchen auf einem See, in dessen Mitte die absurd-modernistische Nachahmung einer aztekischen Sonnengott-Pyramide steht. Hier fahren die beiden auch kurz in eine Höhle hinein, die wiederum wie das Tor zu einer anderen Welt aussieht. Märchen und Gegenwelten
sind hier selbstverständlich, vieles liegt im Auge des Betrachters, aber insgesamt ist dieser gut gemachte, schöne, ruhige Film sehr wirkungsvoll.
Dies ist ein Film über den Tod, über die Angst vor dem Tod und dem Tod der Anderen. Ein Film über das Verabschieden und Verarbeiten. Insofern ist der erst im letzten Herbst gedrehte Petite Maman, kleine Mutter, ein Film, der zu Corona sehr gut passt.
Sciamma beweist einmal mehr ihr Faible für junge Figuren – auch sonst fügt sich dieser Film in Sciammas Filmographie voller Geschichten über kurze, intensive, lebensprägende, aber sich auch verfehlende Begegnungen.
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Ein ein bisschen zu naseweises kleines Mädchen ist Nelly höchstens manchmal. Mit dem Vater redet sie über »the real stuff« – wovor hast du wirklich Angst? Vor dem Panther am Bett oder vor dem eigenen Vater?
Man könnte diesen Film als Fantasyfilm bezeichnen oder auch als einen naturalistischen Science Fiction. Sie sagt ihrer wie gesagt gleichaltrigen Mutter: »I come from the path behind you.«
Sie sind beide 8 Jahre; heute ist die Mutter 31; also gehen 23 Jahre vorbei und genau mit 23 bekommt die Mutter ein Kind. Die Ereignisse in dieser zweiten Realitätsebene spielen also, wenn sie denn real wären, im Jahr 1997. Das Setting des Films könnten eher die 70er Jahre an, wie unsere eigene Kindheit – die von Sciamma und von mir.
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Im Vorfeld musste man besorgt fragen: Was ist passiert? Was hat sie falsch gemacht? Wie kommt es, dass eine Regisseurin, die mit ihrem letzten Film in Cannes gefeiert wurde und einen der wichtigen Preise erhielt, mit ihrem nächsten Film auf der Berlinale läuft?
Dieser Film ist jedenfalls kein B-Werk, wie man vorher gefürchtet hatte.
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Am Ende allerdings auch dieses Films muss man erinnern: Wir haben zurzeit eine bestimmte Form des Kinos verloren; und zumindest ich sehne mich gerade nach dieser Form des Kinos. Nach Filmen, die Ernst und Unernst verbinden, die das Wirkliche und das Phantastische verbinden, die grundsätzlichen Fragen nach dem Sinn des Lebens stellen, und die sie, je grundsätzlicher sie werden, umso leichter und heiterer stellen, nicht schwerer. Immerhin darf man konstatieren, und das ist schon ein großes Glück des Zuschauens: dieser Film kommt den zurzeit vermissten Filmen nah wie leider nicht sehr viele, die ich bei der bisherigen Berlinale gesehen habe.
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Überlegung am Rand: Ich habe keinerlei Probleme, mich mit diesen Figuren zu identifizieren, mich in sie einzufühlen. Obwohl es ein junges Mädchen ist, obwohl fast alle anderen auch Frauen sind. Warum sollten umgekehrt Frauen Probleme haben, sich mit männlichen Figuren zu identifizieren? Sich mit Geschichten zu identifizieren, die von Männern handeln? Warum sollten sie nicht in der Lage sein, sich in einen Mann hineinzuversetzen? Allein diese Frage ist schon eine Absurdität.
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Enttäuschend auf ganzer Linie hingegen ist der neue Film von Xavier Beauvois. Albatros wirkt zunächst wie der Film eines Regisseurs, der zuviel Dardenne-Filme gesehen hat, aber diese oberflächlich nachäfft.
Worum geht’s? fragt man sich auch nach einer halben Stunde.
Im Zentrum steht Laurent, ein Provinzpolizist, und seine alltäglichen Sorgen: Schlägernde Bauern, Tierquälerei, Trunkenheit am Steuer. Ein Missbrauchsverdacht, der sich nicht vertieft.
Die normalen Leiden der einfachen Leute. Ihre Einfachheit genügt schon als Argument für behauptete Anteilnahme.
Dann dreht ein Kuh-Bauer durch, droht sich umzubringen, und um das zu verhindern, schießt ihn Laurent ins Bein. Dummerweise genau so, dass die Schlagader getroffen ist, und der lebensmüde Bauer verblutet. Eine fatale Aneinanderreihung dummer Zufälle, die Laurents Leben aus dem Gleis werfen.
Der Regisseur zeigt einfache Leute, die gegen die EU-Politik wettern und versuchen, die Einzelteile ihres Lebens zusammenzuhalten. Irgendwie war früher vieles besser, aber warum eigentlich, versteht keiner. Und im letzten Viertel verabschiedet sich der Regisseur plötzlich vom Naturalismus, der bisher alles bestimmt hat, und lässt erst einen Toten geisterhaft wiederauferstehen, dann Kirchen-Musik aus dem Off erklingen.
Laurent fährt aufs Meer; das Meer kommt im Kino sicher gut. Und der liebe Gott schickt einen Sturm, der zu einer Art Läuterung der Hauptfigur wird. Zeit, die Schwimmweste anzulegen. Dann ist das Meer wieder ruhig, die Braut am Hafen und der Film aus.
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Der ungarische Film Natural Light bringt schon am zweiten Tag den Berlinale-Stream an seine Grenzen. Dies ist ein Film, der zumindest in seiner ersten Viertelstunde komplett im Zwielicht spielt, im Halbdunkel, der hochinteressant aufgenommen ist. Man muss sich vorstellen, dass Soldaten in der feldgrauen Uniform der deutschen Wehrmacht am Morgengrauen durch einen winterlichen, also nicht belaubten Wald stapfen. Geräusche sind nur die, die sie selber machen, und gelegentliche Rufe, es gibt erstmal keine Dialoge, die den Film vorantreiben; es ist einfach die sinnliche Erfahrung dieser Situation. Kino, wie es sein soll. Und diesen Film kann man auf dem Computerbildschirm im Gegensatz zu manch anderen überhaupt nicht sehen. Man erkennt nichts, und der 14 Zoll große Bildschirm ist doch viel zu klein dafür. Also im Fernseher; Vorhänge vor die Fenster. Und trotzdem: es fehlt die Tiefe.
Es ist aber auch das typische naturalistische Kino aus Osteuropa. Glänzende Bilder. Hässliche Menschen in hässlichen Verhältnissen, die hässliche Dinge tun, die schweigen, die grübeln, die mit sich einen Gewissenskonflikt ausmachen, den man sich irgendwie als Zuschauer ausmalen kann oder immer auch nicht. Allein die Vorstellung, dass man auf diese oberflächlich korrekte Weise irgendwie irgendetwas von den alten Zeiten verstehen oder gar wieder beschwören könnte, ist absurd. Ebenso absurd ist die Idee, dass man näher an den Menschen dran ist, wenn sie nur schwarze dreckige Hände haben, wenn sie nur Schmutz im Gesicht haben, wenn sie nur unrasiert sind. Klarerweise sahen Menschen seinerzeit so aus. Aber klarerweise versteht man oft mehr von moralischen Konflikten, von Abgründen, aber auch von Idealen, die zu solchen Abgründen und Konflikten gehören, wenn man ein pathetisches Bild zeigt oder wenn Sie einfach saubere Hände haben. Der Gegensatz zur lackierten Glätte des deutschen Geschichtskonfektions-Kinos ist nicht der Dreck des osteuropäischen Geschichtsdrecks-Kinos. Was sich hier zeigt, ist nicht die Hässlichkeit der Welt, sondern es sind die hässlichen Gedanken der Filmemacher, die ihren Gegenstand verachten, die die Menschen verachten, von denen sie erzählen.