01.06.2006

Der Spontane

Von Michael Haberlander

Von allen Arten, die den leiden­schaft­li­chen Kinogeher mit Verwun­de­rung und Unver­s­tändnis zurück­lassen, ist der Spontane einer der Unbe­greif­lichsten.

Für den Cineasten kann ein Kino­be­such bereits Monate vor der eigent­li­chen Vorstel­lung beginnen. Ausgehend von ersten, neugierig machenden Pre-Produc­tion-Infos, verfolgt der Kino­freund die Entste­hung des Films, seine ersten Auffüh­rungen auf Festivals, die ankün­di­genden Trailer, die voraus­ei­lenden Kritiken. Ist der Film schließ­lich im Kino gestartet und die bisher gesam­melten Infor­ma­tionen haben nach reich­li­chem Abwägen einen über­wie­gend positiven Eindruck hinter­lassen, gilt es noch gewis­sen­haft zu prüfen, welche Vorfüh­rung in welchem Kino die beste ist.
Steht der Cineast dann endlich in der Schlange vor der Kinokasse, muss er oft mit Erschre­cken fest­stellen, dass es Menschen gibt, die bei der Auswahl ihres Kino­ver­gnü­gens bedeutend leicht­fer­tiger als er entscheiden.

Diese Exemplare aus der Spezies der Spontanen treten vor den Karten­ver­käufer und stellen vorab die für den Cineasten schier unglaub­liche Frage: »Was läuft denn gerade?«
Die Erwi­de­rung des Kassen­an­ge­stellten fällt meist knapp und sachlich aus: »Im Kino 1 THE GOOD GERMAN, im Kino 2 MITTEN INS HERZ und in 10 Minuten im Kino 3 der Film 300«.

»Hmm...«, macht der Spontane, runzelt nach­denk­lich die Stirn und fragt weiter: »Worum geht’s denn in den Filmen?«
Spätes­tens hier möchte der Cineast laut schreien. Versteht er gerade noch, dass manche Menschen keine Lust haben, sich mit umfang­rei­chen Programm­zeit­ta­feln ausein­ander zu setzen oder sich aus rein prak­ti­schen Gründen spontan für einen Film­be­such entscheiden, so hält er es doch für schlichten Wahnsinn, sich einen Film anzu­schauen, von dem man nicht das Geringste weiß.

An diesem Punkt des Verkaufs­ge­sprächs zeigt sich drama­tisch die Unin­for­miert­heit bzw. die Unfähig­keit / der Unwille zur Kommu­ni­ka­tion zahl­rei­cher Kino­an­ge­stellter, weshalb brutalst mögliche Kurz­be­schrei­bungen folgen:
»Der im Kino 1 ist mit George Clooney, irgendwas über den Krieg, der im Kino 2 ist eine Komödie mit Hugh Grant, der 300 ist glaube ich eine Comic­ver­fil­mung.«

»Hmm...«, macht der Spontane wieder und sucht viel­leicht bei seiner Kino­be­glei­tung mit den Worten »Und was meist du?« nach Entschei­dungs­hilfe. Dummer­weise lautet die Antwort der ähnlich unwis­senden und gleich­gül­tigen Beglei­tung mit 90prozentiger Wahr­schein­lich­keit:
»Weiß nicht. Mir egal. Entscheid' du mal.«

Setzt der Spontane seine peinliche Befragung des Kassen­an­ge­stellten schließ­lich mit der Frage »Und, welcher ist gut?« fort, legt damit auf das Urteil eines gelang­weilten 17jährigen mit Gesichts­pier­cing mehr Wert, als auf die Aussagen von zwei Dutzend profes­sio­nellen Film­kri­tiken, die jederzeit im Internet abrufbar sind, ist der Punkt erreicht, an dem der Film­lieb­haber erwägt, seinen bisher tapfer gehal­tenen Platz in der Schlange aufzu­geben und am nächst­mög­li­chen Alko­hol­aus­schank nach Linderung seiner Pein zu suchen.

Wenn die Einschät­zungen des Ange­stellten (»Ja, sind alle gut. Der eine ist halt lustiger.«) nicht zu einer abschließenden Urteils­fin­dung ausrei­chen, entscheidet sich der Spontane meist nach den profanst möglichen Gesichts­punkten, etwa:
»Ich nehme den, der am frühesten anfängt / aufhört.«, »Hugh Grant ist glaube ich ganz O.K.«, »Welcher läuft denn im größten Saal?« oder »Das Plakat schaut ganz gut aus.«

Unklar bleibt, ob der Spontane seinen derart zustande gekom­menen Film­be­such genießt. Einer­seits kann jemand ohne jegliche Erwar­tungs­hal­tung auch nicht enttäuscht werden. Ande­rer­seits besteht doch die nicht uner­heb­liche Wahr­schein­lich­keit, dass er in einem Film landet, der überhaupt nicht seinem Geschmacks­emp­finden entspricht. Es ist natürlich nicht auszu­schließen, dass er eines solchen Empfin­dens grund­sätz­lich ermangelt.

Dem Cineast bleibt nur die erbau­liche Speku­la­tion darüber, in welchem Ausmaß der Spontane von einem bestimmten Film über­rascht, scho­ckiert oder verstört wird.
Wie wird es etwa den beiden älteren Damen ergangen sein, die vor der Vorfüh­rung von BROKEBACK MOUNTAIN folgenden, authen­tisch über­lie­ferten Dialog führten:
»Ist denn das ein lustiger Film?«
»Ja, ich glaube schon.«

Michael Haber­lander