22.06.2006

Der Dauerredner

Unser kleines Bestiarium der Kinogeher. Wer im Kino neben ihnen sitzt. Folge 6: Der Dauerredner

Von Michael Haberlander

Mögen sie sich auch in ihrer Auswir­kung ähneln, so ist es doch falsch zu glauben, dass ein Kino-Schwätzer wie der andere sei. Vielmehr spaltet sich die Gattung der Schwätzer in zahl­reiche Arten und Unter­arten, die sich durch Umfang, Inhalt und Auslöser ihrer oft so störenden Gespräche unter­scheiden. Man betrachte hierzu etwa den Dauer­redner.

Der Dauer­redner bildet hinsicht­lich der Kommu­ni­ka­tion während einer Film­vor­füh­rung die Antipode zum Cine­philen. Während der Cinephile in voll­kom­mener filmi­scher Vertie­fung nur im äußersten Notfall (Brand im Saal, Todes­röcheln des Sitz­nach­barn, Fehler bei der Projek­tion) sein Schweigen bricht, redet der Dauer­redner vom Zeitpunkt seines Eintref­fens bis zum Verlassen des Kinos ohne Unterlass.

Natur­gemäß ist der Dauer­redner in Beglei­tung (wenn nicht, ist doppelte Vorsicht ange­bracht), die ihrer­seits wenig bis gar nichts äußert, was wahlweise an mangelnder Gele­gen­heit oder aber an fehlender Lust dazu liegt.

Typisch ist dabei, dass der Dauer­redner (in Abgren­zung zu anderen Kino-Schwätzer-Arten) nie über das Kino im Allge­meinen oder gar den Film auf der Leinwand im Spezi­ellen spricht. Seine Themen liegen mehr im Privaten, in Bereichen wie Bezie­hungen, Mitmen­schen, Arbeit, Wohn­ver­hält­nisse oder die Konsum­welt.

Zurecht­wei­sungen von entnervten anderen Kino­ge­hern nimmt der Dauer­redner unkom­men­tiert hin, lässt sich in seinem Redefluss jedoch kaum stoppen, sondern senkt im besten Fall die Stimme ein wenig ab, wodurch seine bisher allgemein klar vers­tänd­li­chen Worte zu einem unde­fi­nierbar zischelnden Silben­brei verschwimmen.

Die eine und alles entschei­dende Frage, die einen echten Cineasten schier in den Wahnsinn treiben kann, ist dabei: Warum geht der Dauer­redner überhaupt ins Kino? Warum zahlt er bis zu acht Euro Eintritt, um dann sehr unprak­tisch neben anstatt gegenüber seines Gesprächs­part­ners zu sitzen und ständig vom hekti­schen Geschehen auf der Leinwand und unge­hal­tenen Kino­be­su­chern gestört zu werden? Unzwei­fel­haft scheint, dass der Dauer­redner dem Film unmöglich folgen kann bzw. offen­sicht­lich gar nicht folgen will.

Wäre ein Park, ein Cafe oder gar sein eigenes Heim nicht besser für sein Mono­lo­gi­sieren geeignet? Für dieses paradoxe Verhalten gibt es zwei mögliche Erklärungen:

Erstens: Der Dauer­redner sucht (aus welch abwegigen und bizarren Gründen auch immer) bewusst die Kino­at­mo­sphäre für seine Kommu­ni­ka­tion. Viel­leicht braucht er einfach diese Mischung aus klan­des­tiner Öffent­lich­keit, von der Leinwand erleuch­teter Dunkel­heit und wutschnau­benden Kino­be­su­chern, um seine Sprech­hem­mungen zu über­winden und sich das über Tage oder Wochen Ange­staute von der Seele zu reden.

Zweitens: Der Dauer­redner zählt gar nicht zu den Kinogeher-Arten. Der eigent­liche Kinogeher ist vielmehr seine wortkarge, unauf­fäl­lige Beglei­tung, die den Kino­be­such trotz oder (nicht weniger wahr­schein­lich) gerade wegen der Eigenheit des Dauer­red­ners bewusst in die gemein­samen Frei­zeit­ak­ti­vi­täten einplant.

In diesem Fall müsste man also von der Kinoart des Beschwatzten sprechen, der unter dem kino­fremden Parasiten des Dauer­red­ners leidet. Für diese Theorie spricht, dass man Dauer­redner auch in Lebens­räumen außerhalb des Kinos, etwa auf Popkon­zerten, antreffen kann.

Michael Haber­lander