01.06.2006

Der Esser

Von Michael Haberlander

Während die Frage, weshalb der Mensch grund­sätz­lich isst, eine der wenigen leicht beant­wort­baren ist, bleibt die Frage, weshalb er dies zum Teil auch im Kino tut, ein großes Rätsel.
Es geht dabei wohl­ge­merkt nicht um den durch­schnitt­li­chen Kinogeher, der sich zur Kompli­men­tie­rung seines Film­ver­gnü­gens mit Popcorn, Chips, Süßig­keiten und Soft­ge­tränken ausstattet (mag dies im Einzel­fall auch unge­wohnte bzw. uner­wünschte Ausmaße annehmen, bleibt es letztlich ein unver­meid­li­cher Aspekt des Biotops Kino), sondern um den Esser, der einen Film­be­such zur umfang­rei­chen Nahrungs­auf­nahme nutzt.

Was so im Zwielicht der Leinwand verspeist wird, führt eindrucks­voll vor Augen, dass der Mensch zu den Omnivoren zählt.
Neben frischem Obst und Gemüse im Origi­nal­zu­stand und in bereits vorpor­tio­nierten Teilen, finden sich da Backwaren wie frisches Baguette (komplett, ohne Belag), Brezen oder abge­packter Kuchen, Milch­pro­dukte wie Joghurt, gekauftes Fastfood wie Burger, Pommes Frites und Döner, selbst belegte Brote, aber auch kompli­zierter Speisen wie Salate oder Aufläufe, sowie kalte und warme Getränke jeglicher Art, die in tempe­ra­tur­wah­renden, stoß­festen Flaschen aufbe­wahrt werden.

Da es (entgegen der land­läu­figen Ansichten zum sogn. Multi­tas­king) praktisch unmöglich ist, die koor­di­na­to­risch durchaus anspruchs­volle Leistung der gezielten Nahrungs­auf­nahme und die senso­ri­sche Wahr­neh­mung eines Spiel­films gleich­zeitig und in beiden Fällen zufrieden stellend durch­zu­führen, bleibt unklar, weshalb der Esser trotzdem beide Akti­vi­täten zusam­men­legt.

Eine über­ra­schende Hunger­at­tacke, die den Esser an der Kinokasse überkommt und die keinen Aufschub für die nächsten zwei Stunden erlaubt, kann als Grund wohl ausge­schlossen werden. Schließ­lich führt der Esser seine Speisen beim Eintreffen im Kino in der Regel bereits mit, sein Handeln ist also absichts­voll geplant.

Ein Mangel an persön­li­cher Lebens­zeit, der viele Menschen dazu nötig, auch beim Arbeiten, Gehen, Auto­fahren oder in öffent­li­chen Verkehrs­mittel zu essen, kann ebenfalls kaum als Begrün­dung angeführt werden. Schließ­lich hat der Esser genügend Zeit, um sich für die Dauer eines Films von seinem Alltag zu lösen.

Alle Versuche, sein Verhalten mit einer ratio­nellen (Doppel)Nutzung seiner Zeit zu erklären, scheitern zudem daran, dass der Esser in der Regel die Werbung untätig abwartet, um erst beim Beginn des Haupt­films mit dem Verzehr zu beginnen bzw. er den während der Werbung begonnen Prozess des Essens zum Film­be­ginn nicht einstellt.

Dem Esser ist somit klarer Vorsatz bei seinem Tun zu unter­stellen, was sich auch durch seine schlichte Betrach­tung bestä­tigen lässt. So wirkt er eben nicht am Film unin­ter­es­siert wenn er isst, während ihn die Faszi­na­tion für das Geschehen auf der Leinwand aber auch nicht von seinem Konsum abbringen kann. Als Folge dieser inneren Zerris­sen­heit bietet er einen äußerst sonder­baren, aber auch sehr markanten Anblick (wodurch er sich endgültig bestimmen lässt, sofern dies über die mitge­führten Viktua­lien noch nicht möglich war).

In einer Mischung aus extremer Konzen­tra­tion und halber Trance sitzt er mit starrem Blick auf die Leinwand da, während seine scheinbar selb­stän­digen Arme und Hände nicht müde werden, seinen Kopf mit Speisen und Getränken zu versorgen. Oft verfällt der Esser dabei in einen präzisen Takt, in dem er beißt, kaut, schluckt, trinkt, beißt, kaut, usw., wobei dieser Rhythmus sehr fein auf den Film abge­stimmt ist und eine spannende Szene den Essvor­gang wie eine Pause-Taste einfrieren und kurze Zeit später wieder fort­setzen kann.

Demje­nigen, der sich von den Akti­vi­täten des Essers gestört fühlt, bleibt als kleiner Trost nur die Gewiss­heit, dass die mensch­liche Nahrungs­auf­nahme früher oder später an Grenzen stößt.
Gelangt der Esser an diesen Punkt, gilt es noch einige Sekunden, in denen er unter hekti­schen Akti­vi­täten Verpa­ckungen entsorgt, Essens­reste von seiner Beklei­dung entfernt, kurz aufstößt und einen letzten Schluck aus seiner Flasche nimmt, zu über­stehen.
Ab diesem Moment hängt der Esser übli­cher­weise zufrieden und glücklich in seinem Kino­sessel und sorgt für keine weiteren Störungen.

Michael Haber­lander