01.06.2006

Der Siedler

Von Michael Haberlander

An Bade­stränden, in Zugab­teilen, in Lokalen und vielen anderen Orten kann man täglich beob­achten, wie die Menschen versuchen, den öffent­li­chen zum privaten Raum zu machen. Im Kino erleben wir dieses Verhalten in der Person des Siedlers.

Auch wenn ein Kino noch so klein, heimelig, vertraut und sympa­thisch ist, bleibt es doch ein öffent­li­cher Raum, den wir nur zu einem bestimmten Zweck, für begrenzte Zeit und nach Zahlung eines gewissen Betrages betreten. Entspre­chend prag­ma­tisch und sachlich ist dann auch das Verhältnis des üblichen Kino­ge­hers zu dieser Umgebung, in der er einen Film sieht. Wie anders ist da der Siedler, der für die Dauer eines Filmes im Kinosaal heimisch wird.

Übli­cher­weise kündigt sich der Siedler durch ein auffäl­liges Poltern und Rascheln, welches von seinem mitge­führten Gepäck herrührt, an. Im Saal ange­kommen, verharrt der Siedler kurz, atmet tief durch (auch als Folge seiner schweren Last) blickt über die Sitz­reihen und wählt mit der selben Mischung aus Entschlos­sen­heit und Zuver­sicht, die man aus so vielen Western kennt, den passenden Ort, um sich nieder­zu­lassen.

An diesem Ort (der oft ganz profane Namen wie »Reihe 12, Platz 5« trägt) ange­kommen, beginnt der Siedler mit der Landnahme. Vor allem Klei­dungs­stücke dienen ihm dazu, Sitz­plätze in unmit­tel­barer Nach­bar­schaft zu belegen (im doppelten Wortsinn) und sie so für sich in Anspruch zu nehmen. Zwei weitere Plätze sind Grund­vor­aus­set­zung, üblich sind drei oder vier, aber auch fünf sind keine Selten­heit.

Schon ab diesem Zeitpunkt reagiert der Siedler äußerst ablehnend auf das Ansinnen anderer Kinogeher, einen dieser derart priva­ti­sierten Plätze besetzen zu wollen. Nur wider­willig und nach zähen Verhand­lungen bzw. sturem Beharren gibt der Siedler schließ­lich einzelne Sitze auf.

Ist mit der Inbe­sitz­nahme eines ange­mes­senen Areals der erste Schritt getan, beginnt der Siedler mit der Einrich­tung seines kurz­zei­tigen Idylls. In den mitge­brachten Taschen, Tüten und Einkaufs-Trolleys wird gesucht und gegraben und dabei viel Nütz­li­ches und Ange­nehmes zum Vorschein gebracht. Nach und nach posi­tio­niert der Siedler so u.a. zusätz­liche Klei­dungs­stücke (gegen Kälte­ein­brüche oder Zugluft), Brillen, Lese­ma­te­rial (für die Zeit bis zum Film­an­fang), Lebens­mittel und Getränke (die durchaus über die üblichen Knab­be­rein und Süßig­keiten hinaus gehen können), Hygie­ne­ar­tikel (Taschen­tücher, Handcreme, Kämme) und Kissen (um nur die geläu­figsten Gegen­s­tände zu nennen) um sich herum. Mit großer Gewis­sen­haf­tig­keit richtet er sich so ein und macht aus einem unper­sön­li­chen Kinositz ein ausge­la­gertes Wohn­zimmer.

Einen derart einge­rich­teten Platz vom Siedler einfor­dern zu wollen, grenzt für ihn an Land­frie­dens­bruch und gerade kurz vor Film­be­ginn sollte im eigenen Interesse kein Cineast darauf bestehen, dass ein solcher Sitz frei­ge­macht wird, da ein »Umzug« des Siedler ähnlich aufwendig, störend und zeit­in­tensiv ist wie ein echter Wohn­orts­wechsel.

Hat sich der Siedler schließ­lich fertig einge­richtet, beginnt die letzte Phase und er macht es sich bequem. Mit ritua­li­sierten Bewe­gungen wird das Handy ausge­schaltet, die Kleidung zurecht­gerückt, Nase und Brille geputzt, Lebens­mittel und Getränke geöffnet, die bevor­zugte Sitz­po­si­tion einge­nommen, kurz gehüstelt, noch mal nach dem Handy geschaut und schließ­lich der Beginn des Films erwartet. Nun ist alles perfekt, alles ist da, wo es sein soll, eine private Blase im öffent­li­chen Raum wurde geschaffen.

Ab diesem Zeitpunkt heißt es bangen und hoffen, dass nun niemand die unvor­stellbar verhäng­nis­vollen, unheil­brin­genden Worte, die einen ganzen Kinosaal in Chaos und Verderben stürzen können, an den Siedler richtet: »Entschul­di­gung, aber ich glaube, Sie sitzen auf meinem Platz.«

Michael Haber­lander