04.03.2021

Träumen wie 1990

What Do We See When We Look at the Sky
»Kino der Nebensächlichkeiten«, Multi-Impressionismus, oder Magischer Neo-Realismus?
(Foto: Berlinale Presseservice)

Boy meets Girl, die älteste Geschichte der Welt, und dann ist der Auslöser auch noch ein fallen gelassenes Buch, als die beiden im Vorbeigehen zusammenstoßen. So beginnt Alexandre Koberidzes What Do We See When We Look at the Sky?

Von Sedat Aslan

Jeder hat diese Situation schon zigmal gehört oder gesehen, und doch ist sie hier ganz anders, denn Alexandre Koberidze zeigt seine beiden Prot­ago­nisten lediglich von den Knien abwärts. Man sieht die Gesichter nicht, hört nur ihre Stimmen, und doch spürt man sofort die Chemie zwischen beiden, ist von dieser beiläu­figen ersten Begegnung verzau­bert und erst recht davon, wie spielend dem Regisseur dieser Eindruck gelingt, ein bisschen wie beim Tramp und der Blumen­ver­käu­ferin in Chaplins City Lights.

Koberidze, Absolvent der DFFB, dessen Erstling Lass den Sommer nie wieder kommen vor vier Jahren in Berlin noch in der Woche der Kritik lief, hat es mit seinem zweiten Langfilm in den Wett­be­werb der Berlinale geschafft, und dabei gleich einen veri­ta­blen Bären­kan­di­daten hingelegt. Seine Hand­schrift ist unver­kennbar: auch hier wieder die Liebe zu augen­schein­li­chen Neben­säch­lich­keiten, wie Straßen­hunden, die sich, wie der Erzähler versi­chert, zum Fußball­gu­cken verab­reden; auch hier die warmen, orga­ni­schen, unver­schnör­kelten und oft geradezu »stummen« Bilder; auch hier das poetische Mäandern, selbst wenn nun statt 202 »nur« 150 Minuten lang. Dabei hat der Film sogar eine Prämisse, die man anderswo »High Concept« nennen würde, denn noch bevor ihre Liebes­ge­schichte so richtig beginnt, bekommen die beiden Prot­ago­nisten Lisa und Giorgi durch einen bösen Zauber ein völlig anderes Aussehen verliehen, so dass sie sich nicht mehr erkennen und somit nicht zuein­ander finden können, obwohl sie in direkter Nach­bar­schaft (Hand­lungsort ist die geor­gi­sche 150.000-Einwohner-Stadt Kutaissi) ihren Jobs nachgehen.

Der Anfang steht insofern stell­ver­tre­tend für den Film, als der Regisseur mit denkbar einfachsten Mitteln, die er auch unver­blümt offenlegt, große Momente zu zaubern imstande ist. Er greift in eine Trick­kiste, die spätes­tens seit Eisen­stein Gemeingut ist, und lässt uns uneitel daran teilhaben, ohne sich an irgend­wel­chen Forma­lismen fest­zu­krallen. Das augen­schein­lichste Beispiel ist, wenn in der Mitte des Films der offi­zi­elle Song von Italia 90, »Un’estate Italiana«, auf Zeit­lu­pen­auf­nahmen von bolzenden Mädchen gelegt wird. Es ist schwer, sich jemanden vorzu­stellen, den diese Stelle gänzlich kalt lässt, erst recht, wenn man selbst damals so ein Bolz­platz­knirps war. Es gibt unzählige weitere Beispiele, etwa wenn eine Text­ein­blen­dung vom Publikum verlangt, vor dem Moment der Meta­mor­phose kurz die Augen zu verschließen, wenn zu elegi­schem geor­gi­schem Gesang alle noch so unbe­deu­tenden Hand­lungs­fäden kurz inne­halten und mitein­ander zu kommu­ni­zieren scheinen, oder wenn fünf kleine Messis eine gewaltige Frei­treppe erklimmen.

Doch geht es nicht nur indirekt um die Macht der Schau und des Erzählens, um Blicke und ums Fabu­lieren. Nicht nur ist das Public Viewing der parallel statt­fin­denden Fußball­welt­meis­ter­schaft so etwas wie ein großes Frei­luft­kino, kommunale Begeg­nungs­stätte und eine ganz eigene Traum­fa­brik, auch das Kino selbst führt die Leute zusammen – unter anderem eben Lisa und Giorgio, denen eine Über­wa­chungs­ka­mera einst den Fluch des bösen Blicks kundtat, und die der liebende Blick in eine Film­ka­mera wieder vereint. Doch das ist nicht einmal das Wich­tigste. Wer es bis zum Schluss nicht begriffen hat, für den fasst es die lako­ni­sche Erzäh­ler­stimme zusammen: Wie kann man sich solche Geschichten nur ausdenken. Sie haben für die Gesell­schaft keinen tieferen Nutzen. Aber, wenn man genauer drüber nachdenkt, steckt da doch was dahinter. Solche Geschichten passieren. Nicht oft, aber es gibt sie wirklich.

Und so irrt man gern umher in diesem magischen Wald, geleitet von einer freien und eigenen, gänzlich unge­kün­s­telten Hand­schrift, und erblickt die Abenteuer, die sich um uns herum abspielen, ohne dass sie als solche rüber­kämen. Man könnte dies »Kino der Neben­säch­lich­keiten« nennen, Multi-Impres­sio­nismus, oder Magischer Neo-Realismus. Oder ganz einfach: Träumen, wie nur 1990. Notti Magiche…