74. Filmfestspiele Cannes 2021
»It's not conspriracy theory, it's conspiracy fact« |
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The French DispatchHommage an den klassischen Journalismus | ||
(Foto: Cannes Media Library) |
»Censorship has taken over. This fear of offending, of saying something wrong is really against the American Dream.«
- Oliver Stone»I should maintain journalistic neutrality – if it exists.«
- Aus: The French Dispatch
Eine Zeitschrift. Eine Zeitschrift, wie es sie heute kaum noch gibt. Eine Zeitschrift, die wie ein Band mit Kurzgeschichten ist, oder mit Essays oder beidem zusammen. Die sich an den Mann von Welt richtet und an seine Frau, an Kosmopoliten aller Länder. Die eine liberale Agenda der Offenheit, der Freiheit, der Menschenrechte, des Fortschritts vertritt, der Verbesserung der Menschheit. »We hold these truths to be selfevident...« (Declaration of Independence) Und die damit bei ihren Lesern anfängt: Sie will sie nicht nur gut informieren, sie will sie erziehen. Indem sie sie gut informiert. Also auf hohem Niveau. Gebildet, aber auch kuratiert. Denn nicht jede Information ist wichtig, Ausgewogenheit schon gar nicht, sondern Distanz, sondern nur die Information, die die Zeitschrift ihren Lesern gönnt. »All the news that’s fit to print« heißt es in der New York Times. Ja schon, auch, aber nicht nur, und manchmal nicht alle News.
The French Dispatch ist nicht nur der Titel des neuen Films von Wes Anderson, es ist auch der Name dieser Zeitschrift.
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Wir dürfen dabei unbedingt an den „New Yorker“ denken. Den immerhin gibt es noch. Man soll an alle Zeitschriften dieser Art denken, an alle ihre Autoren. An etwas, das es mal ganz viel gab und heute immer weniger. Denn heute verfallen die meisten dieser Medien, die einmal vierte Gewalt waren und »Sturmgeschütze der Demokratie« und damit auf Distanz zu den anderen Gewalten standen; sie verfallen aus kommerziellen Gründen zu Dienern der Macht und zu Dienern des
Mainstream.
Das meinen wir, wenn wir von Mainstream-Medien sprechen.
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»Ennui-sur-Blasé«. So heißt der Ort, an dem diese imaginäre Zeitschrift erscheint, eine Zeitschrift, die aus Frankreich und Europa berichtet für Amerikaner, die es nicht nach Paris geschafft haben.
Dieser imaginäre Ortsname ist wunderbar. »Ennui-sur-Blasé« steht eigentlich für Paris, das zeigt sich im Film, aber ich hoffe alle, die das jetzt lesen, wissen was Ennui ist und was blasiert sein heißt. Wes Anderson markiert hier ganz offen seine eigene Haltung, eine gewisse Langeweile
mit der Welt, so wie sie heute ist. Dieses Thema der Langeweile mit der Gegenwart und des Gefühls der Menschen, die heute zwischen 40 und 60 Jahre alt sind, langsam aus der Zeit zu fallen, langsam die Welt verschwinden zu sehen, in der sie aufwuchsen, und ihr Wille, dafür zu kämpfen, sich diese Welt zurückzuerobern. Dieses Thema, das sowohl ein Lebensgefühl ist wie ein kulturpolitischer Plan, zieht sich durch viele Filme, die ich in diesen Tagen sehe. Auch durch den Film von Joachim
Trier, auch durch den Film von Kirill Serebrennikov.
Nun aber Wes Anderson.
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Alles spielt 1975 mit Rückblicken ins 20. Jahrhundert. Ein bisschen Amélie, ein bisschen »Willkommen in Belleville«, also Frankreich-Klischees und alter Journalismus. Ein Journalismus aus jenen Jahren, als man die Welt noch entdeckte und beschrieb, nicht bewertete, zensierte und cancelte.
Als ein Chefredakteur und Herausgeber sagt: »Cut some adds! Order more paper!«
Systeme und Strukturen interessieren Wes Anderson heute viel mehr als früher, wo er sich noch für Familie und für einzelne Figuren interessiert hat.
Diesmal erzählt er ein paar Episoden aus der klassischen Moderne, die ihm zum Rahmen für eine Hommage an den klassischen Journalismus werden, an das, was er mal war, bevor die Controller und die sozialen Netzwerke den Laden übernahmen.
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Klassische Moderne heißt bei Anderson aber auch Frankreich, genau gesagt die Klischees des französischen Lebens und der Avantgarde, des modernen Kunst-Betriebs, der »verrückten europäischen Maler«, und der amerikanischen Milliardärinnen die Sammlerinnen werden, und ein Museum, das nach ihnen selbst benannt ist, irgendwo aufbauen, in der Wüste von Kansas zum Beispiel.
Dies ist ein Film, der einen großen Teil des Publikums ausschließt, weil sie die ganzen Anspielungen überhaupt nicht verstehen. Wie schön! Wie schön, dass sich das einer noch traut, wie gut, dass einer das noch macht.
Dies ist ein großartiger, sehr lustiger und perfekt gemachter Film. Dieses Meisterwerk des Episodischen beweist auch: Anderson ist eben nicht nur manierierte Oberfläche, auf die auch viele Verteidiger Andersons seine Filme gerne reduzieren. Sondern er formuliert in diesem Fall auch eine politische Botschaft: Die Verteidigung von Freiheit und Ineffizienz, von Ennui und Blasiertheit.
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Gewidmet ist der Film bestimmt zwei Dutzend Journalisten, die am Schluss namentlich aufgezählt sind. Ich habe sie mir auf die Schnelle nicht alle merken können, aber James Baldwin war dabei.
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Im täglichen Kritikerspiegel des britischen Branchenmagazins Screendaily liegt auch am Dienstagmorgen Paul Verhoevens Benedetta klar vorne. Eine angenehme Überraschung! Liegt das jetzt am Altersschnitt der Juroren, oder mögen sie den Film wirklich?
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Gibt es eigentlich noch irgendjemanden, der glaubt, dass John F. Kennedy 1963 tatsächlich durch Lee Harvey Oswald ermordet wurde?
Oliver Stone jedenfalls nicht. Mit seinem Dokumentarfilm JFK Revisited: Through the Looking Glass kehrt er nach 30 Jahren zum Thema seines wohl global erfolgreichsten Spielfilms, JFK zurück, und zu dem Moment, an dem Amerika aus seiner Sicht seine Unschuld verlor.
Den Gegner stark machen – das wurde mir neulich auch anempfohlen, um „ausgewogener“ zu berichten, und den (nirgendwo geschriebenen) Normen „journalistischen Handwerks“ zu entsprechen. Oliver Stone zeigt, wie es auch gehen kann und warum das manchmal richtig ist: Der Gegner ist nämlich schon stark. Und bloß weil Stone einmal alles zusammen nimmt, was gegen die herrschende Theorie spricht, der 35. US-Präsident sei durch einen Einzeltäter mit einer
„magic bullet“ getötet worden, bedeutet dies nicht, dass er keine Belege hätte. Oder dass die sogenannten Fakten nicht in viel größerem Maß interpretationsabhängig und interpretierbar sind, dass nicht wenige von ihnen von den Verschleierungsbehörden erst »fabriziert« wurden, ist Bestandteil von Stones Theorien, für die er viele Zeugen auffährt und die er mit ernstzunehmenden Fachleuten teilt.
Stone tut noch mehr: Er belegt, wie nach der Tat vieles unter den
Teppich gekehrt und selektiv ermittelt wurde, wie »Wahrheit« alle paar Jahre neu erfunden wird. Und er belegt die Salamitaktik der US-Behörden, die immer wieder nur dann Dinge zugaben und ihre Versionen der Ereignisse veränderten, wenn kein Widerspruch mehr möglich war.
Dieser Film ist ein dichtes Faktengewitter, schnell geschnitten, ein bewundernswert souveräner, fesselnder Flow aus Bildern, der auf die Dauer in seinem Tempo und Informationsoverkill auch ermüdet. Aber besser man wird müde, weil es zu viel zu sehen gibt, als weil nichts passiert, oder alles zu langsam und vorhersehbar.
Wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was Stone präsentiert, dann ist klar: Oswald war es nicht, und hier werden keine Verschwörungen behauptet, sondern Fakten präsentiert. Von einem „right wing plot“ sprach JFK’s Bruder Robert Kennedy. In jedem Fall ist das US-System an Aufklärung nicht interessiert.
Oder wie Stone sagt: »Its not conspriracy theory, its conspiracy fact.«