12.04.2018

Eine hoff­nungs­volle Reise

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Railmovie mit zwei Frauen: Der preisgekrönte Something Useful eröffnet die 29. Türkischen Filmtage
(Foto: Pelin Esmer / Türkische Filmtage)

Die 29. Türkischen Filmtage laden zu einer cineastischen Reise durch das Land bis nach Ostanatolien ein

Von Ingrid Weidner

»Nicht jeder Weg führt zum Ziel, aber jede Reise enthält Hoffnung« – dieses poetische Motto umschreibt die Film­aus­wahl der 29. Türki­schen Filmtage in München. Zwischen dem 13. und 22. April laden zehn Spiel­filme, sechs Doku­men­ta­tionen und ein Kurz­film­pro­gramm zu einer cine­as­ti­schen Reise durch die Türkei ein. Zusam­men­ge­stellt hat das Programm der Verein Sine­maTürk, Mitglied der Filmstadt München.

Reisen verändern jeden, der sich mit offenen Augen auf den Weg macht. Immer kommen Reisende mit neuen Erfah­rungen, Eindrü­cken und auch neuen Bildern – im Kopf oder in der Kamera – zurück. Selbst wenn manche nur ihre eigenen Vorur­teile bestätigt sehen wollen. Doch Reise­pläne in das land­schaft­lich reiche und kulturell viel­fäl­tige Land Türkei legen momentan Viele auf Eis. Manche schreckt die aufge­heizte poli­ti­sche Stimmung ab, andere fürchten gar eine Verhaf­tung. Selbst unbe­schwerte Pauschal­rei­sende meiden die türki­schen Mittel­meer­strände. Gerade weil die Türkei wegen der poli­ti­schen Umstände nun weiter weg rückt, erscheint eine filmische Reise als ein möglicher Zugang.

Vom Nordosten bis in den Süden des Landes, von der Ägäis­küste bis an die Grenze zu Syrien reicht die Route. Eröffnet wird der Filmreigen mit Something Useful (İŞE YARAR BİR ŞEY) von Pelin Esmer am Freitag, den 13. April um 19 Uhr im Carl-Orff-Saal, und zwar mit der ganz klas­si­schen, etwas aus der Mode gekom­menen Art des Reisens im Nachtzug. Den nimmt Leyla, eine Rechts­an­wältin und Dichterin, die von Ankara nach Izmir zu einem Klas­sen­treffen unterwegs ist. Während der Zugfahrt lernt sie einige Mitrei­sende kennen, auch die junge Kran­ken­schwester Canan. In den Gesprächen erfährt Leyla, dass Canan sich auf eine geheim­nis­volle Mission einge­lassen hat. Leyla ist faszi­niert von dieser Geschichte und am Ende der Zugfahrt beschließt sie, Canan zu begleiten. So viel sei verraten: Die Frage nach dem Sinn des Lebens beant­wortet Pelin Esmer in ihrem Film auf poetische Weise.

Die Regis­seurin Pelin Esmer schrieb das Drehbuch zu diesem Film zusammen mit dem Lyriker Barış Bıçakçı. Im vergan­genen Jahr gewann Something Useful auf dem – übrigens ebenfalls gerade statt­fin­denden – IFF Istanbul den Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik FIPRESCI und auf dem IFF Adana in den Kate­go­rien Bestes Drehbuch, Beste Kamera, Beste Haupt­dar­stel­lerin. Zur Eröffnung wird die Produ­zentin des Films, Dilde Mahalli, anwesend sein. (Wieder­ho­lung am 16. April um 18.30 Uhr)

In die ostana­to­li­sche Stadt Kars entführt Orhan Pamuk'a söyle­meyin Kars'ta çektigim filmde Kar romani da var. Der lange Titel, der im Deutschen Sagt Orhan Pamuk nicht, dass sein Roman »Schnee« in meinem Film vorkommt heißt, verrät wenig über den Inhalt. Der in Kars lebende, blinde Sänger Yüksel Ermutlu erhält den Auftrag, vor einer abend­li­chen Gesell­schaft aufzu­treten. Auf der Suche nach geeig­neten Musikern, die ihn begleiten könnten, wandert er von Tür zu Tür. Auf seiner Suche begegnet er immer wieder dem Barbier Kâzım, einem großen Bewun­derer Orhan Pamuks, der dessen in Kars spie­lenden Roman »Schnee« mit leben­digen Personen zu illus­trieren versucht. Der Regisseur Rıza Sönmez schuf einen halb doku­men­ta­ri­schen, halb märchen­haften Film. In der Türkei ist Rıza Sönmez als Schau­spieler bekannt. Er stellt seinen ersten Langfilm am Dienstag, den 17. April um 20:30 Uhr selbst vor. Gezeigt wird das unter­halt­same Porträt der Stadt Kars zuvor bereits am 14. April um 18:00 Uhr.

Um das Erinnern und Vergessen dreht sich Kaygi (Inflame), der erste Spielfilm der Regis­seurin Ceylan Özgün Özçelik. Die 30-jährige Hasret lebt allein in der Wohnung ihrer Eltern, die bei einem Verkehrs­un­fall ums Leben kamen. Jede Nacht durchlebt sie die gleichen Alpträume und eine Ahnung schleicht sich ein, dass die Eltern viel­leicht nicht durch einen Verkehrs­un­fall, sondern anders starben. Der psycho­lo­gi­sche Thriller über das Erinnern und Vergessen ist auch ein poli­ti­scher Film, der das Erin­ne­rungs­ve­mögen einer ganzen Gesell­schaft in den Blick nimmt. Zu sehen am 19. April um 20:30 Uhr. Zum Wieder­ho­lungs­termin am 21. April um 20:30 Uhr ist die Regis­seurin Ceylan Özgün Özçelik zu Gast.

In Zer von Kazım Öz geht es um eine ganz andere Reise­route. Jan lebt in New York, studiert Musik und treibt orien­tie­rungslos durchs Leben. Als seine kranke Groß­mutter aus der Türkei nach Amerika geholt wird, entdeckt er, dass ihr Leben von einem Geheimnis geprägt ist. Der Schlüssel dazu ist das Lied »Zer«, das ihm die Groß­mutter auf dem Ster­be­bett vorsingt. Nach ihrem Tod entschließt sich Jan, ins kurdische Kernland der Türkei zu reisen. In dieser unruhigen Region findet er schließ­lich zu seinen Wurzeln. Zer ist am 14. April um 20:30 Uhr und am 18. April um 18:00 Uhr zu sehen.

Auch die sechs ausge­wählten Doku­men­tar­filme zeigen verschie­dene Regionen der Türkei sowie die kultu­relle und ethnische Vielfalt des Landes, auch wenn Diver­sität, andere Meinungen und Sprachen in der Türkei mitt­ler­weile politisch uner­wünscht sind. In Mr. Gay Syria begleitet die Kamera zwei aus Syrien geflohene Männer, die einen gemein­samen Traum haben, nämlich an der inter­na­tio­nalen Kür des »Mr. Gay World« in Malta teil­zu­nehmen (14. April um 16:00 Uhr).

Das Dorf Maheser an der türki­schen Grenze zu Syrien kommt in den Nach­richten kaum vor, wohl aber die kurdische Stadt Kobane auf der anderen Seite der Grenze. Wie der seit vielen Jahren dort wütende Krieg sich auf das Leben in Maheser auswirkt, wie Geflohene und Dorf­be­wohner dort leben und was der Krieg für die Menschen bedeutet, beschreibt der Doku­men­tar­film GÖZYAŞINA YER YOK (No Place for Tears), zu sehen am 15. April um 14:00 Uhr, die Regis­seurin Reyan Tuvi ist anwesend.

Der Doku­men­tar­film Son Yaprak (The Last Leaf) beschreibt das Leben des 85-jährigen Kirchen­die­ners Mihal Şişko, der auf der Prin­zen­insel Kinali geboren wurde und seit seinem zehnten Lebens­jahr dort arbeitet. Durch seine Erzäh­lungen erfahren wir, wie sehr sich das Leben auf der am dich­testen besie­delten Prin­zen­insel im Marma­ra­meer in den vergan­genen Jahr­zehnten gewandelt hat, auf der früher fast die Hälfte der Einwohner Griechen, Armenier und Juden waren. Nicht ganz zu Unrecht sieht sich der Kirchen­diener als das »letzte am Baum verblie­bene Blatt«. Mit aller Kraft möchte er die grie­chisch-orthodoxe Tradition und mit ihr seine Erin­ne­rungen und Wurzeln auf der nur zwanzig Kilometer von Istanbul entfernten Insel erhalten. (15. April, 16:00 Uhr).

Im Doku­men­tar­film Die Legende vom häss­li­chen König (ÇİRKİN KRALIN EFSANESI) will der junge Regisseur Hüseyin Tabak seinem großen Vorbild, dem Regisseur Yilmaz Güney (geboren 1937, gestorben 1984) näher kommen. Doch der Mythos vom brili­anten Regisseur und Revo­lu­ti­onär kommt während der Recherche ins Wanken. Inter­na­tional bekannt wurde der kurdisch-türkische Filme­ma­cher Güney, der nach seiner Flucht aus dem Gefängnis bis zu seinem Tod in Paris lebte, mit dem Film Yol – Der Weg (zu sehen als Abschluss­film der Türki­schen Filmtage am 22. April um 20:30 Uhr), für den er 1982 die Goldene Palme in Cannes erhielt. Der Doku­men­tar­film von Hüseyin Tabak wurde auf den Hofer Filmtagen 2017 als bester deutscher Doku­men­tar­film ausge­zeichnet.

Reisen bildet, auch cine­as­ti­sche Reisen, beispiels­weise durch das viel­fäl­tige, bunte und inspi­rie­rende Programm der dies­jäh­rigen Türki­schen Filmtage.

Die Türki­schen Filmtage sind eine Veran­stal­tung der Filmstadt München.