16.04.2015

Breaking borders

UNTIL I LOSE MY BREATH
Bis ich meinen Atem verliere (Until I Lose My Breath): Balcis Film ist eine eindringliche Vater-Tochter-Geschichte

Räumliche und menschliche Grenzüberschreitungen

Von Nora Moschuering

Seit 13. April ist es offiziell: Nachdem das Istan­buler Film Festival (04.-19. April) gezwungen wurde, die Vorfüh­rung der kurdi­schen Doku­men­ta­tion Bakur von Cayan Demirel und Erturul Maviolu abzusagen und infol­ge­dessen insgesamt 23 Regis­seure ihre Filme zurück­ge­zogen haben, sagte die Festi­val­lei­tung alle Wett­be­werbe, sowie die Abschluss­ze­re­monie ab. Film­ma­cher, Juroren und Festi­val­ma­cher soli­da­ri­sieren sich dadurch mit dem Film und setzen eine Statement gegen staat­liche Kontrolle. Bakur handelt vom Alltag der Kämpfer der verbo­tenen Arbei­ter­partei Kurdis­tans (PKK) und lässt auch ranghohe PKK-Mitglieder zu Wort kommen. Dem Film fehlte ein Zerti­fikat zur Regis­trie­rung, das das türkische Kultus­mi­nis­te­rium für alle einhei­mi­schen Beiträge verlangt. Viele halten dieses Zerti­fikat aller­dings für ein Mittel der Zensur.

Auch auf den Türki­schen Filmtagen ist der türkisch-kurdische Konflikt ein Thema. In The Fall from Heaven (So., 19.04., 20:30 Uhr und Do., 23.04., 18 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek) stehen zwei Frauen im Mittel­punkt. Die Elek­tro­in­ge­nieurin Emine lebt in Istanbul und arbeitet auf einer Baustelle, auf der vor allem kurdische Arbeiter beschäf­tigt sind. Ayse, ein kurdi­sches Mädchen, wohnt zusammen mit ihrer Familie in einem südost­ana­to­li­schem Dorf und träumt von Istanbul. Beide verlieren ihren Bruder im Konflikt.
In Folge meiner Stimme (Mi., 22.04., 18 Uhr und So., 26.04., 20:30 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek), der auf der letzt­jäh­rigen Berlinale ausge­zeichnet wurde, geht es ebenfalls um das Verhältnis von Türken und Kurden. Der Vater der kleinen Jiyan wird von türki­schen Poli­zei­kräften gefangen genommen. Die Familie soll seine Waffen auslie­fern, Waffen, die er aller­dings nie besessen hat. Jiyan und ihre Groß­mutter machen sich deshalb auf die Suche nach einem Gewehr, um den Vater/Sohn auslösen zu können. Gemeinsam begeben sich auf eine Reise in die Bergwelt Kurdis­tans, die zwischen demü­ti­genden Kontrollen und Sank­tionen, aber auch Herz­lich­keit und Komik changiert. Durch beide Filme erhält man einen sehr persön­li­chen Eindruck über das Leben mit dem Konflikt, der seit 1984 etwa 40.000 Menschen­leben gefordert hat. Obwohl seit zwei Jahren im früheren Kampf­ge­biet Südost­ana­to­lien eine Waffen­ruhe herrscht, ist dieser Konflikt noch lange nicht beendet. Momentan liegen die Frie­dens­ver­hand­lungen wieder auf Eis und die Vorge­hens­weise des Türki­schen Staates bei der Kontrolle von einhei­mi­schen Filmen (siehe Istan­buler Film Festival), aber natürlich auch die Entwick­lung rund um Syrien, den Isla­mis­ti­schen Staat und besonders um die kurdische Enklave Kobani, tragen nicht zur Beru­hi­gung der Lage bei.

Dennoch wird dieser Konflikt bei den 26. Türki­schen Filmtagen eher am Rand betrachtet, viele der insgesamt achtzehn Doku­mentar- und Spiel­filme, die in München laufen, drehen sich um Gemein­schaften und ihre Tradi­tionen und Regeln. Auffällig oft sind es in den Filmen Frauen, die im Mittel­punkt stehen, und die mit ihnen umgehen müssen oder aus ihnen ausbre­chen.

Der kleine Mert singt, eher verzwei­felt als fröhlich. Dann tanzt er, eher aggressiv als unbe­schwert. Mert steht dabei auf einem Stein und er hofft durch das fort­wäh­rende Ausführen von Befehlen des ihn schi­ka­nie­renden Hirten ein Lamm von ihm zu bekommen. Mert ärgert sich immer mehr, er misstraut, doch er macht stoisch und wider aller Vernunft weiter. Die Szene stammt aus dem preis­ge­krönten Eröff­nungs­film Kuzu – Das Lamm (Sa., 18.04., 19 Uhr, Carl-Orff-Saal) von Kutlug Ataman, darin begibt man sich in Merts Dorf, im Hochland Ostana­to­liens und mitten hinein in dessen Alltag, der von gesell­schaft­li­chen Regeln bestimmt ist. Mert soll tradi­tio­nell beschnitten werden und es gehört zur Tradition, dass zur Beschnei­dung ein Lamm geschlachtet wird. Aber Mert und seine Familie haben kein Geld für ein Lamm.

Auch in Nuri Bilge Ceylans Winter­schlaf (Sa., 25.04., 19:30 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek, der Film lief in München bislang noch nicht in der Origi­nal­fas­sung!), der 2014 die Goldene Palme in Cannes gewann, geht es um gesell­schaft­liche Rollen und Regeln. Der ehemalige Schau­spieler Aydin betreibt in den Bergen Kappa­do­kiens ein Hotel, in dem er mit seiner Frau und seiner Schwester wohnt. Zwischen Aydin und den Frauen, aber auch zwischen ihm und dem ganzen Dorf herrschen Span­nungen. Langsam zieht die Kälte des Winters in das Dorf und in die Menschen.

In Kuzu findet übrigens Merts Mutter schließ­lich eine unkon­ven­tio­nelle Lösung des Problems. Von zwei weiteren eigen­sin­nigen Frauen die ihre Zukunft suchen, aber immer noch mit einem Bein in der Vergan­gen­heit stehen, erzählen die beiden Filme Across the Sea (So., 19.04., 18 Uhr und Mi., 22.04., 20:30 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek) und Until I Lose My Breath (Di., 21. 04., 18 Uhr und Do., 23.04., 20:30 Uhr im Vortrags­saal der Biblio­thek). Die Türkin Damla lebt in Across the Sea seit acht Jahren in New York, hat einen Ehemann und ist schwanger. Sie entscheidet sich, zusammen mit ihrem Ehemann Kevin ihr Heimat­land zu besuchen. Doch dort bemerkt sie recht schnell, dass räumliche und zeitliche Trennung nicht alles vergessen lassen, als sie ihre erste große Liebe wieder trifft. In dem Vater-Tochter-Drama Until I Lose My Breath versucht die Halbwaise Serap zu ihrem eigen­bröt­le­ri­schen Vater zu ziehen. Dieser hat aber ganz andere Pläne, die mit denen seiner ebenso eigen­sin­nigen Tochter kolli­dieren.

Im »Großen Kinder­kino« läuft Deine Schönheit ist nichts wert (Fr., 24.04., 15 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek/FSK 6, empfohlen ab 10) »… ohne meine Liebe zu dir«, die Zeile stammt aus einem Gedicht, dass der halb türkische, halb kurdische Veysel in seiner Wiener Schule vortragen will. Veysel spricht nicht viel, er ist erst seit einigen Monaten in Öster­reich und kommt mit der neuen Sprache nicht zurecht. Er und seine Familie versuchen anzu­kommen und in Wien bleiben zu dürfen, aber das ist gar nicht so einfach. Ein Film nicht nur für Kinder, sondern wirklich auch für »Große«.

Um die Türkei als Grenzland zu Europa, mit einem Fuß auf dem europäi­sche Kontinent und einer Grenze zu Syrien, wo immer mehr Flücht­linge das Land betreten, geht es in den drei Doku­men­tar­filmen zu Flucht und Migration (Sa., 26.04., 13 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek). In Asfur wird die Lebens­si­tua­tion syrischer Flücht­linge in den türki­schen Metro­polen gezeigt. Zwei Schleuser an der Grenze zu Grie­chen­land werden in Nacht Grenze Morgen begleitet und in Fremd­körper wird ein Flücht­ling in einem deutschen Flücht­lings­lager bedroht.

Zurück nach Istanbul und den aktuellen Entwick­lungen in der Stadt, der Doku­men­tar­film Liebe wird die Welt verändern (Sa., 26.04., 15 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek) erzählt von der Besetzung des Taksim-Platzes in Istanbul 2013. Genau wie die Festi­val­ma­cher, Filme­ma­cher und Juroren die gerade gegen die Bevor­mun­dung durch den türki­schen Staat protes­tieren, behandelt auch diese Doku­men­ta­tion die schwie­rige Beziehung zwischen Staat und Bürgern und ihrem Kampf um Freiheit.

26. Türkische Filmtage, 18.-26.04.2015, Vortrags­saal der Biblio­thek im Gasteig, Carl-Orff-Saal (nur Eröffnung). Rosen­hei­merstr. 5. Eine Veran­stal­tung der Filmstadt München und Sinema Türk.