16.03.2017

Resilienz statt Resi­gna­tion

Mavi Bisiklet
Auf einem Fahrrad die Welt der Erwachsenen erobern – der Eröffnungsfilm Mavi bisiklet

Junge Helden, Mut der Verzweiflung – Die 28. Türkischen Filmtage des Münchner Vereins Sinema Türk lenken die Aufmerksamkeit auf Gegensätze innerhalb einer zerrissenen Gesellschaft

Von Natascha Gerold

Es war einmal ein Elefant, der war so riesig, dass niemand an ihm vorbeikam. Das ging schon eine ganze Zeit so, aber der Elefant wollte noch weiter wachsen. Kritiker ließ er am liebsten als Faschisten oder Terro­risten einsperren, seine Anhän­ger­schaft war groß – genau wie der Riss, den der Elefant als Folge seines Strebens hinter­ließ, wohin auch immer er und seine Gefolgs­ele­fanten gingen. Der Riss etablierte Gegen­sätze – viele davon deutlich, tief und weit­rei­chend.

Auch die 28. Türki­schen Filmtage in München werden diese und andere Gegen­sätze beschäf­tigen. Und natürlich ist der Elefant auch im Kinosaal, selbst wenn er weder physisch noch auf der Leinwand präsent sein mag. Dass das inter­es­sierte Publikum während der Vorfüh­rung der gezeigten Werke, erst recht während der Frage- und Diskus­si­ons­runden das Gesehene und Bespro­chene mit den aktuellen, galop­pie­rend-scho­ckie­renden Ereig­nissen asso­zi­iert und seine jewei­ligen Schlüsse daraus zieht – das zeichnet die Vorstel­lung von einer leben­digen Kultur in einem frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Rechts­staat aus.

Gleich­zeitig steht jeder der fünfzehn Spiel- und sechs Doku­men­tar­filme, die von 17. bis 26. März im Münchner Gasteig zu sehen sind, als künst­le­ri­sche Einheit für sich. Eingangs erwähnte Gegen­sätze sind diesmal die Folie, auf der Figuren, Menschen, Geschichten und Zusam­men­hänge präsen­tiert werden. Ganz besonders fällt wieder der Gegensatz Kindheits-/Jugend- und Erwach­se­nen­welt auf. Span­nungs­ge­la­dene Dramatik, wie sie zum Beispiel Mustang, der Eröff­nungs­film des vergan­genen Jahres, innewohnt, wird auch diesmal in zahl­rei­chen Spiel­filmen offenbar. Die Erwach­se­nen­welt, die Fakten schafft, treibt nämlich auch die Ereig­nisse im Eröff­nungs­film Mavi bisikletDas blaue Fahrrad (Fr., 17.03., 19:00 Uhr, Carl-Orff-Saal in Anwe­sen­heit des Regis­seurs Ümit Köreken und Nursen Çetin Köreken; Wdh. Do., 23.03., 18:00 Uhr) voran: der zwölf­jäh­rige Ali hat sich in die Schul­spre­cherin verliebt. Als der Direktor sie ohne Begrün­dung ihres Amtes enthebt, mobi­li­siert er alle Kräfte, die er hat, gegen das Unrecht. Wie damit umgehen, wenn Erwach­sene Kindern und Jugend­li­chen ihre Vorstel­lungen oktroy­ieren? Neben Wut und Verzweif­lung ist auch Humor ein Ventil: in YarimThe Half von Çağıl Nurhak Aydoğdu (So., 19.03., 18:00 Uhr in Anwe­sen­heit der Regis­seurin; Wdh. Di., 21.03., 18:00 Uhr) wird die fünf­zehn­jäh­rige Fidan aus finan­zi­eller Not ihrer Eltern mit Sidah verhei­ratet. Der ist nicht nur doppelt so alt wie sie, sondern auch geistig behindert. Uner­wartet nähern sich die beiden an und verbünden sich gegen Regeln, die sie nicht aufge­stellt haben.

Was alle jungen Helden der gezeigten Spiel­filme eint, ist ihre Stärke, ihre von Anfang an spürbare Entschlos­sen­heit und Wider­stands­kraft: So nimmt auch die junge Duru in SakliSecret von Selim Evci (Mi., 22.03., 18:00 Uhr; Wdh. Sa., 25.03., 18:00 Uhr in Anwe­sen­heit der Regis­seurs) nicht die Opfer­rolle an in ihrer heim­li­chen Beziehung zu Mahir, dem berühmten Musiker und Vater ihrer Freundin. Auch dann nicht, als die Enthül­lung vor der Tür steht und ihr konser­va­tiver Vater Ali Bey immer mehr Druck aufbaut. Ungleich jünger, indes genauso unbe­irrbar ist der neun­jäh­rige Rauf (Sa., 18.03., 19:00 Uhr in Anwe­sen­heit der Regis­seure Barış Kaya und Soner Caner; Do., 23.03., 20:30 Uhr) von seinem Willen geleitet: Er schwärmt für die 20-jährige Zana und begibt sich für sie auf die Suche nach der Farbe Pink – in seiner tief verschneiten ostana­to­li­schen Heimat scheinbar ein Ding der Unmög­lich­keit.

Mate­ri­elle Not eines provin­zi­ellen Zuhauses versus großs­täd­ti­sche Uner­bitt­lich­keit – auch das ist einer der Gegen­sätze, die bei den Türki­schen Filmtagen 2017 zutage treten. In Babamin KanatlariMy Father’s Wings (Sa., 18.03., 20:30 Uhr und Fr., 24.03., 18:00 Uhr, in Anwe­sen­heit von Musab Ekici) verdient Ibrahim das Geld für seine Familie als Vorar­beiter auf einer Baustelle für Luxus­woh­nungen in Istanbul. Seine Familie und das von einer Natur­ka­ta­strophe zerstörte Zuhause ließ er in Van zurück. Vom Krebs geschwächt und seine Konflikte für sich behaltend, arbeitet er weiter, sehr zur Besorgnis seines Neffen Yussuf, der in der Baubranche eine goldene Zukunft sieht. Ein großes Sozi­al­drama und flammende Anklage des Regis­seurs Kıvanç Sezer, gelernter Ingenieur, gegen das florie­rende Sub-Unter­neh­mertum und seine unmensch­li­chen Arbeits­be­din­gungen, die der Bauboom des Landes zeitigt. Dessen bittere Kehrseite zeigt auch der Doku­men­tar­film Aşaği Yukari GalataUp and Down Galata von Ali Uluç Kutal und Çağan Duran (So., 26.03., 14:00 Uhr in Anwe­sen­heit des Regis­seurs Çağan Duran). Der Stadtteil auf der europäi­schen Seite Istanbuls ist nicht nur berühmt für seinen Fußball­verein oder seine Jugend­stil-Häuser­en­sem­bles: Der Film porträ­tiert ein blühendes städ­ti­sches Kulturgut, die 100-jährige Tradi­ti­ons­buch­hand­lung »Librairie de Pera«, die 2013 städ­ti­sche Moder­ni­sie­rungs­pläne vernich­teten. Die Lücke, die sie hinter­lässt, verdeut­li­chen die Erzäh­lungen der Anwohner, Künstler, Laden­be­sitzer aus dem Viertel genauso wie die Ödnis in den Gassen Galatas, die der Filme­ma­cher eindrucks­voll in seinem Doku­men­tar­film einfängt.

Istanbul – die Gefähr­liche, die immer noch Unglaub­liche, die Extreme: Sie ist auch Schau­platz des nicht minder extremen Liebes­dramas Ada von Mirjam Orthen (So., 19.03., 20:30 Uhr, die Regis­seurin ist anwesend). Im Mittel­punkt ihres Abschluss­films an der HFF München steht die junge Ada, die sich beiden Ländern, Deutsch­land und Türkei, zugehörig fühlt und in der Hoffnung auf Liebe nach Istanbul zurück­kehrt. Sie findet sie auch – indes anders als erwartet und zu einem bedroh­lich hohen Preis.

Was nichts kostet ist nichts wert? Von wegen! Einer der Höhe­punkte der dies­jäh­rigen Filmtage dürfte der Besuch des Best­sel­ler­au­tors Emrah Serbes sein. Am So., 26. 03., liest er bei freiem Eintritt um 18:00 Uhr aus seinem Roman »Deliduman«, in dem er seine eigenen Erleb­nisse während der Gezi-Park-Demons­tra­tionen vor vier Jahren verar­beitet hat. Bekannt ist Serbes auch als Autor der »Behzat C.«-Romane, die als Fern­seh­serie und fürs Kino verfilmt wurden. Einen dieser Thriller, Behzat Ç. – Seni̇ Kalbi̇me GömdümIch begrabe dich in meinem Herzen, zu dem Serbes auch das Drehbuch verfasste, kann man in seiner Anwe­sen­heit am Sa., 25.03., um 20:30 Uhr – zu den regulären Filmreihe-Preisen (s. u.) – sehen.

Auch der Eintritt zu Kapali Gi̇şe: Türki̇ye’De Tekel­leşen Fi̇lm DağitimiOnly Block­bus­ters Left Alive: Mono­po­li­zing Film Distri­bu­tion In Turkey von Senay Aydemir, Evrim Kaya, Kaan Müjdeci, Fırat Yücel (So., 19.03., 14:00 Uhr) ist frei, der Kurzfilm ein echter Augenöffner. Mit ironisch-bunten Anima­tionen und Inter­views gewährt er Einblicke in die Verleiher-Politik der prospe­rie­renden türki­schen Film­in­dus­trie und legt die prekäre Lage des ansäs­sigen Inde­pen­dent-Kinos offen, das kaum zu seinem Publikum findet und dem von kultur­po­li­ti­scher Seite wenig Interesse an Wachs­tums­för­de­rung entge­gen­ge­bracht wird.

Viele der inter­na­tional gefei­erten Filme, die unter dieser Markt­ma­ni­pu­la­tion und Meinungs­mache leiden, sind auf den Türki­schen Filmtagen zu sehen. Zum Beispiel AblukaFrenzy von Enim Alper (Di., 21.03., 20:30 Uhr): Der hoch­ak­tu­elle Filmfest-Gewinner des Spezi­al­preises von Venedig 2015 über einen lang­jäh­rigen Häftling, der für seine Frei­las­sung im Gegenzug für die Regierung als Spitzel im Namen der Terro­ris­mus­be­kämp­fung arbeiten soll, lief Kapali Gi̇şe zufolge in der letzten Dezem­ber­woche 2015 auf 25 Kino­lein­wänden des Landes – auf weniger als einem Prozent der Gesamt­zahl. Das ist nichts im Vergleich zur Komödien-Fort­set­zung Dügün Dernek 2: Sünnet, welche zur gleichen Zeit 60 Prozent der türki­schen Kino­lein­wände als einziger Film belegte.

Wenn solche Propheten wie die Macher der gezeigten Filme im eigenen Land nichts gelten dürfen, sollten sie außerhalb der Landes­grenzen, bei Veran­stal­tungs­reihen wie denen der Münchner Türki­schen Filmtage, umso mehr Gehör finden. Bis man sie nicht mehr igno­rieren kann, trotz gefähr­li­chen Getöses des großen Elefanten.

28.Türkische Filmtage München / Türk Film Günleri Münich 17. bis 26. März 2017 im Gasteig, München.