Resilienz statt Resignation |
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Auf einem Fahrrad die Welt der Erwachsenen erobern – der Eröffnungsfilm Mavi bisiklet |
Von Natascha Gerold
Es war einmal ein Elefant, der war so riesig, dass niemand an ihm vorbeikam. Das ging schon eine ganze Zeit so, aber der Elefant wollte noch weiter wachsen. Kritiker ließ er am liebsten als Faschisten oder Terroristen einsperren, seine Anhängerschaft war groß – genau wie der Riss, den der Elefant als Folge seines Strebens hinterließ, wohin auch immer er und seine Gefolgselefanten gingen. Der Riss etablierte Gegensätze – viele davon deutlich, tief und weitreichend.
Auch die 28. Türkischen Filmtage in München werden diese und andere Gegensätze beschäftigen. Und natürlich ist der Elefant auch im Kinosaal, selbst wenn er weder physisch noch auf der Leinwand präsent sein mag. Dass das interessierte Publikum während der Vorführung der gezeigten Werke, erst recht während der Frage- und Diskussionsrunden das Gesehene und Besprochene mit den aktuellen, galoppierend-schockierenden Ereignissen assoziiert und seine jeweiligen Schlüsse daraus zieht – das zeichnet die Vorstellung von einer lebendigen Kultur in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat aus.
Gleichzeitig steht jeder der fünfzehn Spiel- und sechs Dokumentarfilme, die von 17. bis 26. März im Münchner Gasteig zu sehen sind, als künstlerische Einheit für sich. Eingangs erwähnte Gegensätze sind diesmal die Folie, auf der Figuren, Menschen, Geschichten und Zusammenhänge präsentiert werden. Ganz besonders fällt wieder der Gegensatz Kindheits-/Jugend- und Erwachsenenwelt auf. Spannungsgeladene Dramatik, wie sie zum Beispiel Mustang, der Eröffnungsfilm des vergangenen Jahres, innewohnt, wird auch diesmal in zahlreichen Spielfilmen offenbar. Die Erwachsenenwelt, die Fakten schafft, treibt nämlich auch die Ereignisse im Eröffnungsfilm Mavi bisiklet – Das blaue Fahrrad (Fr., 17.03., 19:00 Uhr, Carl-Orff-Saal in Anwesenheit des Regisseurs Ümit Köreken und Nursen Çetin Köreken; Wdh. Do., 23.03., 18:00 Uhr) voran: der zwölfjährige Ali hat sich in die Schulsprecherin verliebt. Als der Direktor sie ohne Begründung ihres Amtes enthebt, mobilisiert er alle Kräfte, die er hat, gegen das Unrecht. Wie damit umgehen, wenn Erwachsene Kindern und Jugendlichen ihre Vorstellungen oktroyieren? Neben Wut und Verzweiflung ist auch Humor ein Ventil: in Yarim – The Half von Çağıl Nurhak Aydoğdu (So., 19.03., 18:00 Uhr in Anwesenheit der Regisseurin; Wdh. Di., 21.03., 18:00 Uhr) wird die fünfzehnjährige Fidan aus finanzieller Not ihrer Eltern mit Sidah verheiratet. Der ist nicht nur doppelt so alt wie sie, sondern auch geistig behindert. Unerwartet nähern sich die beiden an und verbünden sich gegen Regeln, die sie nicht aufgestellt haben.
Was alle jungen Helden der gezeigten Spielfilme eint, ist ihre Stärke, ihre von Anfang an spürbare Entschlossenheit und Widerstandskraft: So nimmt auch die junge Duru in Sakli – Secret von Selim Evci (Mi., 22.03., 18:00 Uhr; Wdh. Sa., 25.03., 18:00 Uhr in Anwesenheit der Regisseurs) nicht die Opferrolle an in ihrer heimlichen Beziehung zu Mahir, dem berühmten Musiker und Vater ihrer Freundin. Auch dann nicht, als die Enthüllung vor der Tür steht und ihr konservativer Vater Ali Bey immer mehr Druck aufbaut. Ungleich jünger, indes genauso unbeirrbar ist der neunjährige Rauf (Sa., 18.03., 19:00 Uhr in Anwesenheit der Regisseure Barış Kaya und Soner Caner; Do., 23.03., 20:30 Uhr) von seinem Willen geleitet: Er schwärmt für die 20-jährige Zana und begibt sich für sie auf die Suche nach der Farbe Pink – in seiner tief verschneiten ostanatolischen Heimat scheinbar ein Ding der Unmöglichkeit.
Materielle Not eines provinziellen Zuhauses versus großstädtische Unerbittlichkeit – auch das ist einer der Gegensätze, die bei den Türkischen Filmtagen 2017 zutage treten. In Babamin Kanatlari – My Father’s Wings (Sa., 18.03., 20:30 Uhr und Fr., 24.03., 18:00 Uhr, in Anwesenheit von Musab Ekici) verdient Ibrahim das Geld für seine Familie als Vorarbeiter auf einer Baustelle für Luxuswohnungen in Istanbul. Seine Familie und das von einer Naturkatastrophe zerstörte Zuhause ließ er in Van zurück. Vom Krebs geschwächt und seine Konflikte für sich behaltend, arbeitet er weiter, sehr zur Besorgnis seines Neffen Yussuf, der in der Baubranche eine goldene Zukunft sieht. Ein großes Sozialdrama und flammende Anklage des Regisseurs Kıvanç Sezer, gelernter Ingenieur, gegen das florierende Sub-Unternehmertum und seine unmenschlichen Arbeitsbedingungen, die der Bauboom des Landes zeitigt. Dessen bittere Kehrseite zeigt auch der Dokumentarfilm Aşaği Yukari Galata – Up and Down Galata von Ali Uluç Kutal und Çağan Duran (So., 26.03., 14:00 Uhr in Anwesenheit des Regisseurs Çağan Duran). Der Stadtteil auf der europäischen Seite Istanbuls ist nicht nur berühmt für seinen Fußballverein oder seine Jugendstil-Häuserensembles: Der Film porträtiert ein blühendes städtisches Kulturgut, die 100-jährige Traditionsbuchhandlung »Librairie de Pera«, die 2013 städtische Modernisierungspläne vernichteten. Die Lücke, die sie hinterlässt, verdeutlichen die Erzählungen der Anwohner, Künstler, Ladenbesitzer aus dem Viertel genauso wie die Ödnis in den Gassen Galatas, die der Filmemacher eindrucksvoll in seinem Dokumentarfilm einfängt.
Istanbul – die Gefährliche, die immer noch Unglaubliche, die Extreme: Sie ist auch Schauplatz des nicht minder extremen Liebesdramas Ada von Mirjam Orthen (So., 19.03., 20:30 Uhr, die Regisseurin ist anwesend). Im Mittelpunkt ihres Abschlussfilms an der HFF München steht die junge Ada, die sich beiden Ländern, Deutschland und Türkei, zugehörig fühlt und in der Hoffnung auf Liebe nach Istanbul zurückkehrt. Sie findet sie auch – indes anders als erwartet und zu einem bedrohlich hohen Preis.
Was nichts kostet ist nichts wert? Von wegen! Einer der Höhepunkte der diesjährigen Filmtage dürfte der Besuch des Bestsellerautors Emrah Serbes sein. Am So., 26. 03., liest er bei freiem Eintritt um 18:00 Uhr aus seinem Roman »Deliduman«, in dem er seine eigenen Erlebnisse während der Gezi-Park-Demonstrationen vor vier Jahren verarbeitet hat. Bekannt ist Serbes auch als Autor der »Behzat C.«-Romane, die als Fernsehserie und fürs Kino verfilmt wurden. Einen dieser Thriller, Behzat Ç. – Seni̇ Kalbi̇me Gömdüm – Ich begrabe dich in meinem Herzen, zu dem Serbes auch das Drehbuch verfasste, kann man in seiner Anwesenheit am Sa., 25.03., um 20:30 Uhr – zu den regulären Filmreihe-Preisen (s. u.) – sehen.
Auch der Eintritt zu Kapali Gi̇şe: Türki̇ye’De Tekelleşen Fi̇lm Dağitimi – Only Blockbusters Left Alive: Monopolizing Film Distribution In Turkey von Senay Aydemir, Evrim Kaya, Kaan Müjdeci, Fırat Yücel (So., 19.03., 14:00 Uhr) ist frei, der Kurzfilm ein echter Augenöffner. Mit ironisch-bunten Animationen und Interviews gewährt er Einblicke in die Verleiher-Politik der prosperierenden türkischen Filmindustrie und legt die prekäre Lage des ansässigen Independent-Kinos offen, das kaum zu seinem Publikum findet und dem von kulturpolitischer Seite wenig Interesse an Wachstumsförderung entgegengebracht wird.
Viele der international gefeierten Filme, die unter dieser Marktmanipulation und Meinungsmache leiden, sind auf den Türkischen Filmtagen zu sehen. Zum Beispiel Abluka – Frenzy von Enim Alper (Di., 21.03., 20:30 Uhr): Der hochaktuelle Filmfest-Gewinner des Spezialpreises von Venedig 2015 über einen langjährigen Häftling, der für seine Freilassung im Gegenzug für die Regierung als Spitzel im Namen der Terrorismusbekämpfung arbeiten soll, lief Kapali Gi̇şe zufolge in der letzten Dezemberwoche 2015 auf 25 Kinoleinwänden des Landes – auf weniger als einem Prozent der Gesamtzahl. Das ist nichts im Vergleich zur Komödien-Fortsetzung Dügün Dernek 2: Sünnet, welche zur gleichen Zeit 60 Prozent der türkischen Kinoleinwände als einziger Film belegte.
Wenn solche Propheten wie die Macher der gezeigten Filme im eigenen Land nichts gelten dürfen, sollten sie außerhalb der Landesgrenzen, bei Veranstaltungsreihen wie denen der Münchner Türkischen Filmtage, umso mehr Gehör finden. Bis man sie nicht mehr ignorieren kann, trotz gefährlichen Getöses des großen Elefanten.
28.Türkische Filmtage München / Türk Film Günleri Münich 17. bis 26. März 2017 im Gasteig, München.