26.02.2009

Im Osten geht die Sonne auf

SLUMDOG MILLIONAIRE
Märchenhaft:
Der aus dem Schlamm geborene Oscar
(Foto: Prokino Filmverleih / Studiocanal)

Wer gewann bei den Oscars und warum? – Die 81. Verleihung steht auch für einen Gezeitenwechsel in Hollywood

Von Rüdiger Suchsland

Auf den ersten Blick war es ein Abend ohne Über­ra­schungen im Kodak Theatre von Los Angeles. Heath Ledger bekam postum den lange angekün­digten Oscar für seinen »Joker«-Auftritt im letzten BATMAN-Film, Kate Winslet konnte im sechsten Anlauf endlich die begehrte Trophäe gewinnen, ebenfalls eine Auszeich­nung »mit Ansage«, und mit den acht Oscars für Slumdog Million­aire, unter anderem in den zwei wich­tigsten Kate­go­rien »Regie« und »Bester Film«, setzte sich bei den 5800 Mitglie­dern der »Academy of Motion Picture Arts and Sciences«, die über die Oscar-Vergabe bestimmen, derjenige der beiden viel­nom­mi­nierten Favoriten durch, den in den vergan­genen Tagen schon die Buch­ma­cher vorn gesehen hatten.

Und doch war, blickt man etwas genauer hin, einiges knapp, manches unvor­her­sehbar und vieles über­ra­schend an diesem Sonn­tag­abend – und der leichte Wind, der zuvor auf dem roten Teppich manch kostbare Abendrobe zum Flattern gebracht und manch teuer aufge­türmte Frisur zerzaust hatte, konnte auch als so sanfter wie entschie­dener Vorbote jenes Gezei­ten­wech­sels gedeutet werden, für den jene 81. Oscar­ver­lei­hung im Rückblick stehen wird.

Private Geschichten, Senti­men­ta­lität und tiefere Bedeutung

Über­ra­schung Nummer eins: Beim Auslands­oscar zerstoben gleich drei deutsche Hoff­nungen: Dass Bernd Eichin­gers Der Baader Meinhof Komplex, und der mit deutschem Geld­an­teil finan­zierte Revanche von Götz Spielmann leer ausgehen würden, war erwartet worden. Aber auch der klare Favorit, Ari Folmans wesent­lich in Berlin produ­zierter, israe­li­scher Beitrag Waltz With Bashir verpasste nach Cannes und anderen Festivals einmal mehr ganz knapp einen großen Preis – ihm bleibt immerhin der »Golden Globe« als Trost­pflaster. Im Nach­hinein versteht man warum: Es ist nämlich nicht das Poli­ti­sche, das die Mehrheit der Abstim­menden beim Auslands­oscar (nicht identisch mit der Academy) gewinnt, und nicht, wie auch gern behauptet wird, ein »jüdisches Thema« – die Konti­nuität bei diesem Preis liegt eher in rein privaten Geschichten mit Senti­men­ta­lität und tieferer Bedeutung – wie die früheren Sieger­filme Tsotsi und Das Meer in mir. Das verbindet auch die beiden deutschen Oscar­ge­winner Nirgendwo in Afrika und Das Leben der Anderen, das trennt sie von den Verlie­rer­filmen Sophie Scholl, Der Untergang und The Baader Meinhof Complex, die sämtlich öffent­liche, histo­ri­sche Figuren zeigten. In dieses Schema fügt sich Yojiro Takitas Depar­tures, die melan­cho­li­sche Geschichte eines arbeits­losen Cellisten der zum Bestatter wird, perfekt.

»Schindler’s Bloody List, The Pianist: Oscars coming out their arses«

Über­ra­schung Nummer zwei: Nicht der immer wieder favo­ri­sierte Mickey Rourke gewann den Preis des »Besten Haupt­dar­stel­lers«, sondern Sean Penn. Dabei hatten die meisten Auguren zuvor argu­men­tiert, Penn habe schließ­lich erst 2004 gewonnen, und Steh­auf­männ­chen Rourke verkör­pere perfekt den urame­ri­ka­ni­schen Comeback-Traum, den Amerika so liebt. Der – am Applaus schon früh erkennbar – eindeu­tige Sieg Penns am Sonntag ist zum einen darin begründet, dass Milk der bessere Film ist – The Wrestler war nur in zwei Darstel­ler­ka­te­go­rien nominiert –, zum zweiten, dass die White-Trash-Kultur des Wrest­lings der Mehrheit der bürger­li­chen Academy dann doch fremder ist als ein gebil­deter, manier­li­cher Politiker, der für die Gleich­be­rech­ti­gung der Schwulen eintritt. Überhaupt gibt es bestimmte Rollen-Typen, die beim Oscar seit jeher als preis­trächtig gelten: Neben Auftritten, die den Schau­spieler häßlich machen, seinen Glamour konter­ka­rieren, auch Auftritte mit Körper­ein­satz: Robert de Niro mit ange­fut­terten Pfunden bei Raging Bull, Charlize Theron in Monster. Oder Behin­derte – Dustin Hoffman in Rain Man, Jack Nicholson in Einer flog über das Kuckucks­nest. Und Krimi­nelle. Das belegt der Oscar für Kate Winslets Auftritt in Der Vorleser – nicht für den zehnmal besseren Zeiten des Aufruhrs (Revo­lu­tio­nary Road). Es liegt eine bittere Ironie in der Tatsache, dass Kate Winslet, nach so vielen glanz­vollen Auftritten in den vergan­genen zehn Jahren, ausge­rechnet mit einer Rolle zu Oscar-Weihen kam, für die sie nur zweite Wahl gewesen war. Aber sie sieht häss­li­cher aus als sonst. Sie ist kriminell. Sie zeigt sich nackt.
Winslet hatte sich über solche Schemata sogar schon mokiert, als sie 2005 in der Serie »Extras« mitmachte, die am Set eines Holocaust-Filmes spielt. Winslet stellt eine Nonne im Wider­stand während der Nazizeit dar und sagt in einer Drehpause: »Now, I am doing it because I have noticed that if you do a film about the holocaust, you are guaran­teed an Oscar.« Und gibt zwei Beispiele: »Schindler’s Bloody List, The Pianist: Oscars coming out their arses.«
Nun hat sie ihn endlich bekommen, tatsäch­lich für eine Rolle in einem Holocaust-Film.

Schließ­lich ist Penns Auftritt eminent politisch: Eine Feier des Enga­ge­ments, des liberalen Bürger­rechts-Akti­vismus, des Aufstands der Anstän­digen gegen Repres­sion und für die Libe­ra­lität des Leben-und-Leben-lassen – das passt in die Post-Bush-Land­schaft der aktuellen USA-Politik, zu einem Amerika, das die Traumata des Irak-Kriegs und des eigenen Funda­men­ta­lismus vergessen möchte.

Globa­li­sie­rung muss nicht herzlos sein

In die passt auch die Über­ra­schung Nummer drei: Die Eindeu­tig­keit mit der sich S Slumdog Million­aire durch­setzte und den Riesen-Apparat des zehn Mal so teuren Benjamin Button aus dem Rennen warf. Denn trotz betei­ligtem Hollywood-Geld ist dies ein Außen­sei­ter­film. Mehrfach von den Studios abgelehnt und von der Produk­ti­ons­ge­sell­schaft »Warner Bros.« weiter­ver­kauft, mit vergleichs­weise geringen Mitteln – die Produk­ti­ons­kosten betrugen nur 15 Millionen Dollar, deutsche Block­buster sind heute teurer – produ­ziert, trium­phiert beim Oscar wie schon in den letzten Jahren der Inde­pen­dent-Film über Riesen­block­buster à la Benjamin Button oder auch The Dark Knight, die nur noch tech­ni­sche Preise gewinnen – trotz Rekord­ein­nahmen an der Kinokasse. Daran könnte sich unsere famose »Deutsche Film­aka­demie«, die den Oscar gern als Vorbild nennt, dann mal ein Beispiel nehmen: The Dark Knight, obwohl eindeu­tiger Publi­kums­fa­vorit und obwohl von mehr Zuschauern gesehen als alle anderen nomi­nierten Filme zusammen, war noch nicht einmal als »Bester Film« nominiert.

Den Preis für die »Beste Kamera« gewann sogar der im europäi­schen Autoren­kino etablierte britische »Dogma«-Kame­ra­mann Anthony Dod Mantle und schlug die »DOP’s« der Studio­filme aus dem Rennen. Slumdog Million­aire ist in seiner ästhe­ti­schen Identität wie von seiner Hand­schrift her kein originärer US-Film, sondern mischt gleich­be­rech­tigt (britisch-)europäi­sche, indische und US-ameri­ka­ni­sche Elemente. Handlung und Figuren sind ganz und gar indisch, die Vorlage auch.

Es ist aber falsch, wie Bert Rebhandl in der taz über global verein­heit­lichte Ästhetik ausge­rechnet am Beispiel von Slumdog Million­aire zu wettern – denn der ist vom Hollywood Main­stream wie auch dem Arthouse-Main­stream, der die europäi­schen Festivals zunehmend dominiert, gleich weit entfernt. Natürlich ist Slumdog Million­aire ein Konsens­film, wie immer bei Preisen, die per Massen­ab­stim­mung vergeben werden. Und wahr­schein­lich könnte man sich auch schnell darauf einigen, dass es noch ein paar andere, preis­wür­di­gere Filme gegeben hätte. Aber warum muss man jetzt die Academy schelten, weil die »Kern­kom­pe­tenzen der Hollywood-Industrie (der Block­buster und die Komödie) bei den Oscars vernach­läs­sigt« würden?

Slumdog Million­aire ist in seiner ganzen wahn­sin­nigen Kraft ein Beispiel für frucht­bares Multi­kulti, dafür also, dass globa­li­siertes Kino keines­wegs herzlos sein muss. Im Gegenteil ist Danny Boyles bester Film seit TRAINSPOTTING ener­ge­tisch und leiden­schaft­lich, ein Film, der die Essenz des Kinos – Bewegung in der Zeit – feiert und nun zum Jung­brunnen für ein erschöpftes Hollywood werden könnte, dem außer Fort­set­zungen und Remakes bewährter Erfolgs­for­meln derzeit wenig einfällt. Die dies­jäh­rigen Oscars belegen unver­kennbar: Der Blick der USA geht nach Europa – neben England und Frank­reich auch nach Deutsch­land, besonders in die Berliner Babels­berg-Studios, wo Holly­woods Meister sich die Klinke in die Hand geben – und nach Asien. Nach dem Oscar­regen für den Chinesen Ang Lee vor ein paar Jahren, diesmal also zwei Preise für Japan (Kunio Katō gewann mit Tsumiki No Le den Preis für den »Besten animierten Kurzfilm«, Yōjirō Takita mit Okuribito die Auszeich­nung für den »Besten fremd­spra­chigen Film«) und acht für das Erfolgs­mär­chen eines Jungen aus dem indischen Slum – im Osten geht die Sonne auf.

Rüdiger Suchsland