05.08.2021

Heimspiele, Regie-Berserker und Spektakel

Beckett
Beckett ist ein Film aus dem Hause Netflix, eröffnete das Festival und kann schon nächste Woche in den Wohnzimmern gesehen werden
(Foto: Netflix)

Das Filmfestival von Locarno macht unter neuer Leitung Hoffnung auf Rückkehr zu seinen Ursprüngen und auf einen Neustart des Kinos – Notizen aus Locarno, 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Mit Beckett wurde am Mitt­woch­abend eröffnet. Hinter diesem Filmtitel verbirgt sich aller­dings weder der Autor von »Warten auf Godot« noch jener englische Erzbi­schof, der im 12. Jahr­hun­dert zum Märtyrer (und zum Helden moderner Kunst­werke) wurde – sondern ein veri­ta­bler, in der Gegenwart spie­lender Paranoia-Thriller um einen Mann, dem nach einem Unfall seine Vergan­gen­heit abhan­den­kommt. Er erinnert sich – aber an Dinge, die nicht exis­tieren.

Mit von der Partie ist John David Washington, der 2021 mit Tenet, auch so einem Vexier­spiel-Thriller, zum Star im kurzen Sommer der Pandemie wurde. Und Alicia Vikander. Die Schwedin, die vor elf Jahren beim Film­fes­tival Mannheim-Heidel­berg entdeckt wurde und inzwi­schen in Hollywood Haupt­rollen spielt.

Dies ist ein unge­wöhn­li­cher Eröff­nungs­film, der aber die Richtung vorgibt, in die es mit Locarno in Zukunft gehen soll: Unter­hal­tung, Spek­ta­kel­kino, eine Mischung aus großen Namen und Unbe­kanntem.

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Es ist ein ganz anderes Festival, auf das sich Zuschauer und profes­sio­nelle Gäste in diesem Jahr einstellen können. 2021 ist für Locarno ein Jahr des Übergangs und der Konso­li­die­rung. Wenn alles so wird wie immer, darf man schon froh sein am Lago Maggiore.

Nachdem die spröde Französin Lili Hinstin als Nach­fol­gerin des zur Berlinale gewech­selten Italie­ners Carlo Chatrian 2019 mit einem über­in­tel­lek­tua­li­sierten und in mancher Hinsicht zuschau­er­ab­wei­senden Programm schon in ihrem ersten Jahr kläglich schei­terte und im folgenden Sommer wieder das Handtuch warf, beriefen die Tessiner Strip­pen­zieher den Italo­schweizer Giona A. Nazzaro, der zuletzt die Neben-Sektion Settimana beim Film­fes­tival von Venedig geleitet hatte. Nazzaro, auch Film­kri­tiker, ist bekannt dafür, dass er sich für alle Spiel­arten des Kinos inter­es­siert, für Kunst und Expe­ri­men­telles, aber ebenso auch für Genre und für Filme, die auf den großen ameri­ka­ni­schen Streaming-Portalen laufen.

Man kann darum sagen: Locarno kehrt zu seinen Ursprüngen zurück. Denn in seinen ersten 20 Jahren war Locarno, das kleinste unter den großen Festivals Europas, die Entde­ckungs-Plattform für den Film­nach­wuchs. Hier zeigte man erste Arbeiten, auch Unfer­tiges; hier wurden die Regie-Stars von Morgen und Über­morgen entdeckt: Der Italiener Marco Belloc­chio, der Franzose Claude Chabrol, der unga­ri­sche Solitär Bela Tarr, der spätere New Holly­wood­held John Fran­ken­heimer, aber auch Jim Jarmusch, Stanley Kubrick, Milos Forman, Raul Ruiz und viele andere. Sie alle erlebten hier mit einem Goldenen Leoparden oder anderen wichtigen Preisen ihren Durch­bruch.

Über Jahr­zehnte war kaum ein Preis­träger in Locarno mal älter als 40 Jahre. Erst in den letzten 15 Jahren änderte sich das, mit dem europäi­schen Autoren­kino alterte auch das Festival und wurde zunehmend das, was das Städtchen Locarno schon immer gewesen war: Ein Kurort für die Senioren unter den Filme­ma­chern. Wer viel­leicht zu alt, jeden­falls zu altbacken war für die großen vier, fünf bedeu­ten­deren Film­fes­ti­vals, der bekam im Tessin sein Austrags­stü­berl.
Garniert vom immer noch teil­neh­menden Film­nach­wuchs wurden Altmeister geehrt; deren Preis­trä­ger­filme aber blieben größ­ten­teils unter dem Radar selbst der Filmöf­fent­lich­keit.

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Wie lässt sich das ändern? Dass es geändert werden muss, und dass sie es ändern wollen, daran ließen der neue Leiter und seine Mitar­beiter in ersten Gesprächen vor dem Festival keine Zweifel.

Ein erster Schritt: Fast nur unbe­kannte Namen, oft, aber nicht immer junge Filme­ma­cher finden sich in den zwei Wett­be­werben, nur auf das New Yorker Enfant Terrrible Abel Ferrara, selbst unter den Inde­pend­ents ein alter Wilder, wollte man nicht verzichten.

Vieles im Programm macht zumindest von der Papier­form her Lust: Der Deutsche Franz Rogowski spielt eine Haupt­rolle im öster­rei­chi­schen Spielfilm Luzifer, einem Drama um eine Teufels­aus­trei­bung. Luna Wedler spielt in der Schweizer Groß­stadt­bal­lade Soul of a Beast.

Viel verspreche ich mir von Paradis Sale, dem neuen Film des Franzosen Bertrand Mandico (Les garçons sauvages), vom spani­schen Beitrag Seis dies corrents, von den beiden russi­schen Wett­be­werbs­filmen (weil aus Russland gerade span­nendes junges Kino kommt) und vom mexi­ka­ni­schen Film Mostro im zweiten Wett­be­werb aus dem gleichen Grund.
Dieser zweite Wett­be­werb »Concorso Cineasti del presente« ist am ehesten die Problem­zone dieses Festivals. Weil ja schon der Leopar­den­wett­be­werb eine junge Sektion ist, wird man sich, falls die Filme dort genauso gut oder besser sind, fragen, warum sie nicht im großen Wett­be­werb laufen? Und sonst: Warum sie überhaupt in Locarno laufen?
Aber um das genau zu beur­teilen, muss man dieses Jahr abwarten.

Auf der Piazza dagegen gibt es eindeutig anspruchs­volle Crowd­p­leaser, Spaß und Bombast aus Hollywood, die bis weit nach Mitter­nacht wach­halten: Camerons The Termi­nator und Michael Manns Poli­zei­thriller Heat sind für diese Riesen­lein­wand und 8000 Zuschauer gemacht, ergänzt werden sie durch eine Kata­stro­phen­film-Komödie aus Korea, durch Monte Verità, ein Schweizer Drama über die Lebens­re­former um die Jahr­hun­dert­wende, die direkt nebenan von Locarno ihre Fin-de-Siècle-Kommunen hatten. Dazu Vortex vom fran­zö­si­schen Berserker Gaspar Noë, der schon in Cannes lief. Und Stefan Ruzowitzkys Seri­en­mörder-Histo­ri­en­s­tück Hinter­land.

Ein runde Mischung. Und Hoffnung auf einen Neustart des Kinos in Zeiten seines drohenden Verschwin­dens.