15.08.2021

Giftige Schönheit, mächtige Ohnmacht

Edwin
Vengeance is Mine, All Others Pay Cash: der diesjährige Gewinner des Goldenen Leoparden ist Arthouse-Genre
(Foto: 74. Locarno Filmfestival / Edwin)

Locarno ist zurück: In seiner 74. Ausgabe schlägt das Festival einen neuen Kurs ein; Notizen aus Locarno – Folge 03

Von Rüdiger Suchsland

»Cinema ist back« – das Kino ist zurück. Trium­phie­rend und trotzig zugleich klingt dieser Satz, der einen elf Tage lang vor jeder Vorstel­lung in Locarno begrüßte; tief­schwarz auf knallgelb geschrieben in den Label­farben des Festivals.

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Nicht zum Trotz, sehr wohl aber zum Triumph Anlass hat die neue Leitung des Schweizer A-Film­fes­ti­vals, des kleinsten unter den großen fünf Film­fes­ti­vals in Europa. Denn auch Locarno ist zurück, zurück als relevante Bühne für den Kino­nach­wuchs in allen Facetten des Mediums. Also Kunst wie Unter­hal­tung. Zuletzt, mindes­tens in den letzten 3 bis 4 Jahren, man könnte auch argu­men­tieren in den vergan­genen einein­halb Dekaden, war es zunehmend nur das eine ohne das andere gewesen. Locarno war irrele­vant geworden: sowohl als ernstafter Wett­be­werber gegenüber den größeren Konkur­renten als auch der Entde­ckungen, denn entdecken konnte man zwar schon etwas am Lago Maggiore, doch war dies allein dem Zufall geschuldet, mit dem man Vorstel­lungen am Rande des Wett­be­werbs in den Nebensek­tionen besuchte.
Einzelne High­lights wie der argen­ti­ni­sche 8-Stunden Film La Flor vor drei Jahren konnten nicht über die grund­sätz­liche Schwäche und Rich­tungs­lo­sig­keit dieses Festivals hinweg­täu­schen. Man nahm halt, was man kriegen konnte, und man steckte es in Sektionen und auf Programm­plätze, wo eben gerade noch Platz war. Mindes­tens die Hälfte der Wett­be­werbs­plätze war den Filme­ma­chern vorbe­halten, die zu den üblichen Verdäch­tigen aus der Schnitt­menge zwischen einem sehr engen Segment des inter­na­tio­nalen Arthouse-Zirkels und dem Freun­des­kreis, vor allem des nord­ame­ri­ka­ni­schen Chef-Programmers bestand. Wie wenig Sinn man für die Diver­sität des Mediums und der verschie­denen Publi­kums­ge­schmä­cker hatte, zeigte sich vor allem an der oft fatalen Program­mie­rung des Programms auf der Piazza Grande, auf die man mindes­tens 3000 Leute locken muss, um Atmo­sphäre zu erzeugen. Statt­dessen gab es oft gähnende Leere.

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Das alles scheint sich nun zu ändern. Und zum ersten Mal seit dem Amts­an­tritt des Franzosen Olivier Père im Jahr 2009 ist so etwas wie die Hand­schrift eines Direktors schon im ersten Jahr unüber­sehbar zu erkennen.

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Dafür, ebenso auch für gewisse weiterhin noch bestehende Kompro­misse, steht beispiel­haft der Haupt­preis­träger zum Abschluss: Den Goldenen Leoparden gewann in diesem Jahr der indo­ne­si­sche Filme­ma­cher Edwin für den Film Vengeance is Mine, All Others Pay Cash. Der Film selbst verkör­pert genau die Verschmel­zung von Genrekino und indi­vi­du­ellem Autoren­zu­gang, von Ernst und Spaß, Lumière- und Meliès-Kino.

Die Schönheit von Todes­ver­ach­tung und Mut, von Motor­rad­fahrten und Martial Arts, von Faust­kämpfen und überhaupt Gewalt im Kino geht hier listig zusammen mit Kritik an Machotum und Männ­lich­keits­ri­tualen, die man in manchen Kreisen zur Zeit gern »toxisch« nennt.
Auch Frauen prügeln sich hier übrigens als Bodyguard, und überhaupt ist vieles hier anders, als es ober­fläch­lich zu sein scheint: Die Haupt­figur ist nämlich sexuell impotent, was seine frische Beziehung zu einer Kollegin/ Konkur­rentin belastet, und zugleich speziell macht. Vor diesem Hinter­grund muss man dem Kollegen Neil Young danken, der auf »Screen­daily« darauf aufmerksam gemacht hat, dass die inter­na­tio­nale Über­set­zung des Origi­nal­ti­tels zwar cool klingt, aber allzu frei flottiert. Tatsäch­lich bedeutet sie wörtlich eher: »Wie Rache muss auch Begehren komplett bezahlt werden.«

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Der Film ist eines der besten Beispiele im dies­jäh­rigen Programm für die erklärte Absicht des neuen Direktors Giona A. Nazzaro, Locarno in Zukunft stärker in Richtung von mehr genre­bezo­genen Arbeiten aufzu­stellen, ohne dass dies auf Kosten künst­le­ri­scher Relevanz gehen soll.

Immerhin eine halbe Entde­ckung ist Regisseur Edwin. Nach kurzem inter­na­tio­nalen Hype – ein Fipresci-Preis in Rotterdam für sein Debüt, eine schnell verges­sene Teilnahme im Berlinale-Wett­be­werb von 2012 mit seinem Die Nacht der Giraffe – ist er bis heute Experten durchaus bekannt und kein Newcomer mehr. Eher steht er mit Jahrgang 1978 genau in der Mitte zwischen den über 40-jährigen Preis­trä­gern, die in der letzten Dekade plötzlich beste Chancen auf Wett­be­werbs­teil­nahme und Haupt­preise hatten, und jenen deutlich unter 40-Jährigen, den echten Entde­ckungen, für die Locarno einst unver­wech­selbar und im Gegensatz zu allen anderen vergleich­baren A-Film­fes­ti­vals stand.

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Der Versuch, zwei verschie­dene Ausrich­tungen möglichst eng zusam­men­zu­führen, zeigt sich auch an anderen Preisen: Dem für A New Old Play (Jiao Ma Tang Hui) aus China, dem für den russi­schen Gerda, für die beiden spani­schen Komödien The Odd-Job Men und Espíritu Sagrado.Mit dem Regie­preis für Indie-Veteran Abel Ferrara (Zeros and Ones) zeichnete man den Versuch aus, Pandemie-Paranoia, Lockdown-Unsi­cher­heit und Zukunfts­pes­si­mismus auf die Leinwand zu bringen.

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Über alles Weitere, verdiente und weniger verdiente Preise, die Retro­spek­tive und den einen oder anderen über­se­henen Film werden wir an dieser Stelle in der kommenden Woche noch berichten. Nur eines noch: Am aller­meisten gefreut hat mich persön­lich der Preis für Saskia Rosendahl, die im zweiten Wett­be­werb „Cineasti del Presente“ als „Beste Schau­spie­lerin“ (in Niemand ist bei den Kälbern) ausge­zeichnet wurde. Das ist ein über­fäl­liger Preis für diese tolle Schau­spie­lerin, und auch konkret für diesen in aller Zurück­ge­nom­men­heit phäno­me­nalen Auftritt verdient.