06.08.2009

Vampire mit Zugang zur Blutbank

The Day After
Scheiden tut weh:
Lee Suk-kyungs The Day After
(Foto: Lee Sung-kyung)

Aus dem Labyrinth der Erinnerungen: Südkorea ist auch in der Krise eines der interessantesten Filmländer – eine Zwischenbilanz

Von Rüdiger Suchsland

Ein katho­li­scher Priester spielt Bachs »Ich habe genug« auf der Flöte und begleitet so Sterbende auf ihrem letzten Weg. Dann stirbt er selbst an einer schweren Virus­in­fek­tion, oder eben doch nicht, sondern steht wider auf – als Vampir. Weil er aber als Christ nicht töten will, ist er von nun an auf die Blut­kon­serven im Kran­ken­haus ange­wiesen. Bald lernt der Gottes­mann eine unglück­liche Ehefrau kennen, und spendet ihr höchst irdischen Trost: Beide verlieben sich, besei­tigen den Gatten, und die Dame wird auch zur Vampirin, um sich dem Biorhythmus ihres Geliebten anzu­passen. Doch der Geist des Ermor­deten sucht sie heim… Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, so bewegt sich der Plot von Thirst, dem neuen Film des (Süd-)Koreaners Park Chan-wook, der 2004 in Oldboy bereits seine Version von Alexandre Dumas' Rache­ge­schichte »Graf von Monte­christo« geboten hatte, doch in überaus ehren­werten klas­si­schen Bahnen: Der Film, der im Mai im Wett­be­werb von Cannes seine Welt­pre­miere hatte, und den Jurypreis gewann, versetzt Emile Zolas Erfolgs­roman »Thérèse Raquin« in die Gegenwart – und erzählt das Ehebruchs­melo als reli­gi­ons­kri­ti­sche Vampir­ge­schichte über einen blut­sauge­ri­schen Priester. Insze­niert ist das mit Anleihen an Claire Denis' Trouble Every Day mit viel Glucksen und Gluckern, Beißen und Lecken, durchaus sinnlich und leicht, voll schwarzem Humor, in atem­be­rau­benden, dick aufge­tra­genen Bildern.

Der Film von Park, einem der wich­tigsten asia­ti­schen Gegen­warts­re­gis­seure, war nur einer von insgesamt fünf Filmen, mit denen (Süd-)Korea in diesem Jahr beim wich­tigsten Film­fes­tival der Welt vertreten war. Schon bei der Berlinale zu Beginn des Jahres liefen ebenfalls fünf korea­ni­sche Filme mit einigem Erfolg im Forum, darunter auch einige ganz unbe­kannte Namen, und auch andere korea­ni­sche Filme, wie der orien­ta­li­sche Western The Good, the Bad and the Weird von Kim Ji-woon, der 2008 in Cannes Premiere hatte, und jetzt in Deutsch­land startet, erleben weltweit Erfolge.

Insgesamt ist dies eine über­ra­schende Renais­sance. Denn noch wenige Monate zuvor schien diejenige Film­na­tion, die im letzten Jahrzehnt am meisten von sich reden gemacht, und viele Preise gewonnen hatte, künst­le­risch wie ökono­misch in der Krise zu stecken: Die inter­es­san­testen neuen asia­ti­schen Filme kamen aus unbe­kann­teren Film­län­dern wie Thailand und den Phil­ip­pinen, und der Markt­an­teil korea­ni­scher Filme war enorm gesunken, weltweit, wie zuhause, wo man statt noch vor kurzem über 50 Prozent der Zuschauer gerade noch auf ein gutes Drittel kam. Dieser hohe Markt­an­teil war lange Zeit auch einem Quotie­rungs­s­system zu verdanken, das – ähnlich wie sonst nur in Frank­reich – einhei­mi­sche Filme bevor­zugte, und ein Minimum von 146 korea­ni­schen Filmen pro Jahr in die Kinos brachte. Erst das neue, 2007 von den USA durch­ge­setzte Frei­han­dels­ab­kommen redu­zierte diese Quote beträcht­lich, die seit Ende der Diktatur Anfang der 90er Jahre den Grund­stein für den Boom der korea­ni­schen Film­in­dus­trie gelegt hatte. Am Beispiel Korea lässt sich nun exem­pla­risch studieren, wie labil ein Film­system ist, dass sich plötzlich statt über künst­le­ri­schen über wirt­schaft­li­chen Erfolg definiert, am Markt aber der schieren Masse und Marke­ting­macht Holly­woods ausge­setzt ist.

Trotzdem scheint das korea­ni­sche Kino gerade wieder neuen Schwung zu gewinnen. Ob man deshalb gleich, wie manche Film­funk­ti­onäre in Cannes, von einer zweiten »neuen Welle« sprechen muss, sei dahin­ge­stellt. Aber zumindest sind auch jenseits der inter­na­tional bekannten, inzwi­schen über 40-jährigen Autoren­filmer Park Chan-wook, Kim Jee-won, Lee Chang-dong (Pepper­mint Candy, Oasis), Bong Joon-ho (Memories of Murder, The Host), Hong Sang-soo (Turning Gate, Night and Day), von Outsidern wie Kim Ki-duk und von den stark an Amerika orien­tierten »Hollywood Kids« Shin Cheol (The Ginko Bed) und Jang Sun-woo (Ressu­rec­tion of The Little Match Girl), neue Namen und Tendenzen erkennbar.

Bereits vor einigen Monaten bei uns gestartet ist Na Hong-Jins Genres­tück The Chaser, eine ziemlich gelungene Mischung aus Poli­zei­film und Seri­en­killer-Film. Clever spielt der Regisseur mit den Konven­tionen dieser Genres, und mischte in die Handlung gekonnt auch Kritik an der Arbeit der Polizei und den Verhält­nissen in Korea. Viel erstaun­li­cher als solche Filme ist aber, wie beständig auch die nach­fol­genden korea­ni­schen Filme­ma­cher­ge­ne­ra­tionen an der Tradition des Autoren­kinos, an ästhe­ti­schen Heraus­for­de­rungen, der Entwick­lung eigen­s­tän­diger Film­spra­chen, aber auch am Kino als Mittel sozialer und sozialer Kritik an ihrer Heimat inter­es­siert sind, an den zum Teil unglaub­li­chen Unge­rech­tig­keiten der Gesell­schaft, der immer noch mangel­haften Rechts­staat­lich­keit.

Ein ganzer Schwung von unab­hän­gigen, zumeist digital auf HD-Kameras gedrehten Filmen ist derzeit globalen Festivals zu sehen: Etwa der hervor­ra­gende The Pit And The Pendulum von SohnYoung-soon, eine verschach­telte Geschichte über fünf Schul­freunde, bei deren Wieder­sehen sich ein Labyrinth wider­sprüch­li­cher Erin­ne­rungen entfaltet. Oder Searching For The Elephant von Jhung Seung-koo, der eine Geschichte seiner Gene­ra­tion erzählt über drei urbane Yuppies und die Einsam­keit des modernen Lebens, die dann trotz sehr styli­scher Form­sprache doch oft über­ra­schend und humorvoll ist. Beliebt ist das schon bei Thirst zu beob­ach­tende Spiel mit Genre-Konven­tionen, das zu durchaus anspruchs­vollen Erzähl­formen führt: So zum Beispiel formu­liert Park Jin-sungs Evil Spirit: Viy eine Gogol-Novelle in einen schrägen Horror­film um, der zugleich als clevere Medi­en­re­fle­xion funk­tio­niert, bei dem der Zuschauer unter anderem einem Film im Film im Film begegnet.

Auch inhalt­lich scheint das korea­ni­sche Kino in vielem von vorn zu beginnen. Die jüngste Gene­ra­tion der Filme­ma­cher orien­tiert sich bemer­kens­wer­ter­weise gerade am europäi­schen Kino. Bereits in den 50er-Jahren griff das korea­ni­sche Kino Anre­gungen des Neorea­lismus auf: Der wohl berühm­teste Klassiker des korea­ni­schen Nach­kriegs­kinos ist Kim Ki-yeoung The Housemaid von (1960). Der Film, der gerade durch Martin Scorseses »World-Cinema-Foun­da­tion« restau­riert wird, erzählt von Klas­sen­ge­gen­sätzen und sozialem Elend, aber auch von ersten Ansätzen des Aufstre­bens der südko­rea­ni­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft. Kaum weniger wichtig ist das Werk von Han Hyung-mo, das erst 2008 in einer umfang­rei­chen Retro­spek­tive beim Festival von Pusan – mit Hongkong dem wich­tigsten Film­fes­tival Asiens – der Verges­sen­heit entrissen und einem jüngeren Publikum erstmals präsen­tiert wurde. Wie Rossel­lini ist Han vor allem ein groß­ar­tiger Frau­en­re­gis­seur. Madame Freedom heißt Han’s Meis­ter­werk von 1956, ein reprä­sen­ta­tives Melodrama der 50er Jahre. Der Film zeigt die rapide Ameri­ka­ni­sie­rung (Süd-)Koreas nach dem Bürger­krieg, und portrai­tiert den Kollaps des konfu­zia­ni­schen Frau­en­ideals ange­sichts der Moderne, zeigt die Seiten­ef­fekte des Clashs von west­li­chen Sitten und tradi­tio­neller Kultur auf eine Weise, die der breiten Öffent­lich­keit gefiel, und die seiner­zeit unter der Mili­tär­dik­tatur strenge Zensur passierte.

Solche Portraits des Aufein­an­der­pralls von Tradition und rasanter Moder­ni­sie­rung und des Wandels von Arbeits­ver­hält­nissen und über lange Zeit gültiger Werte, aber auch die Infra­ge­stel­lung scheinbar fester Iden­ti­täten lassen sich in vielen neuen korea­ni­schen Filmen beob­achten. Zugleich erkennt man eine neue Aufmerk­sam­keit für Privates, für Fami­li­en­bande und Liebes­be­zie­hungen. Dafür steht Lee Suk-kyungs The Day After über eine Frau, die ihre Scheidung nicht verwinden kann. Oder Lee Yoon-kis My Dear Enemy, die ebenso bescheiden wie bravurös insze­nierte Geschichte einer Frau, die bei ihrem Exlover Schulden eintreibt.
Provo­zie­render, auch in manchen Zumu­tungen anstren­gender selbst für kunst­ge­wohnte Zuschauer, aber unbedingt lohnens­wert ist Gok Kims roher, lako­ni­scher Film Exhausted. Er dreht sich um drei Personen in einer einsam Fabrik­land­schaft, die in ihrer Ödnis an Anto­nionis Die rote Wüste erinnert. Ekel-Ästhetik und Erkun­dungen am Rande des Exzess, die spürbar von Bataille und Warhol inspi­riert sind.

Neben der sozialen und persön­li­chen Iden­ti­täts­fin­dung geht es in korea­ni­schen Filmen immer auch um Fragen des Nati­on­buil­ding. Während das Main­stream­kino hier oft versucht, allzu schlichte Antworten gibt, findet man hier die große Leer­stelle des südko­rea­ni­schen Kinos: Nordkorea findet in diesen Filmen nicht statt -von einzelnen Ausnahmen wie Park Chan-wooks auch schon bald zehn Jahre altem JSA – Joint Security Area einmal abgesehen. Aber selbst dieses Defizit dürfte gerade ein deutsches Publikum gut verstehen. Denn wo hätte der west­deut­sche Autoren­film bei allem Willen zum Poli­ti­schen, sich vor 1989 schon für die DDR inter­es­siert?