12.05.2011

Blick aus der Schublade

Over Your Cities Grass Will Grow
Eindringlich, großartig:
Sophie Fiennes Over Your Cities Grass Will Grow aus dem Programm des 26. Dok.Fests München

Wie vertragen sich Abhängigkeit und freie Meinungsäußerung? Ein Selbstversuch anlässlich eines Artikels und ein paar Anmerkungen zum 26. Dok.Fest München, das soeben zu Ende gegangen ist

Von Dunja Bialas

Das mit dem kriti­schen Jour­na­lismus ist so eine Sache. Meist ist es so, dass der, der den wirk­li­chen Einblick hat, und genau die wunden Punkte benennen könnte, um die es gehen müsste, es nicht kann. Weil er verwoben ist mit den Verhält­nissen, zu Loyalität verpflichtet, seinen Bröt­chen­geber nicht vergrätzen möchte. Und dabei könnte er es doch am besten: kriti­sieren. Wo er doch schon den Einblick hat.

Bei Film­jour­na­listen ist dies eine regel­rechte Berufs­be­dro­hung. Viele der Film­kri­tiker schreiben Pres­se­hefte zu Filmen oder über­setzen Texte für Verleih­firmen und verdienen damit einen schönen Batzen Geld, was sich ange­sichts des sonst so mühsam zusam­men­ge­schrie­benen Zeilen­gelds hin und wieder mal ganz gut anfühlt. Kriti­sieren aber geht dann nicht mehr. Denn wie, bitte schön, kann man zwar einen Film kriti­sieren, der einem nicht gefällt, dessen geldiges Umfeld einem aber für einen Monat ein entspanntes Dasein ermög­lichte? Das sollte man dann bitte auch »abhän­giges Beschäf­ti­gungs­ver­hältnis« nennen, auch wenn man als soge­nannter »Freier« durch die Berufs­welt tingelt.

Was auch gar nicht geht: Zuerst mit jemandem ein Interview führen. Und dann seinen Film verreißen. Wenn die Kritik auf »schlecht« lauten soll, dann wird hier im Normal­fall jemand anderes einge­setzt, um den Verriss zu schreiben. Wenn es um eine Jubelperser-Kritik geht, stellt sich das Problem genauso. Denn da kommt sofort der Befan­gen­heits­ver­dacht auf, und man denkt intuitiv an Geld, Bestechung, verspro­chene Reisen zum Set beim nächsten Film, der zufällig auf den Malediven spielt. Und der Ruf als ernst­zu­neh­mender Kritiker ist dahin. Deshalb gibt es die Regel: Der, der inter­viewt, kriti­siert nicht, der, der kriti­siert, führt kein Interview. Denn sonst wäre die Vertrau­ens­basis für die Begegnung erschüt­tert.

Inter­es­sant ist auch folgender Fall: Ein Jour­na­list trifft sich mit einem Inter­view­partner zu einem ausführ­li­chen zwei-Stunden-Gespräch, lässt sich die Entste­hungs­ge­schichte eines Films erklären, oder allge­meiner, die Hinter­grunds­ge­schichte zu einem X-belie­bigen Projekt. Zum Beispiel zu einem Festival, weshalb welche Reihen, was neu ist etc. Und der Inter­viewte liest am nächsten Tag in der Zeitung einen Verriss, eine Vernich­tung des Projekts und seiner Person, ganz so, als hätte es nie ein Gespräch gegeben. Ohne Zitate, ohne nur einen Gedanken im Artikel wieder­zu­finden, den er selbst geäußert hat.

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Gut, Katze aus dem Sack. Natürlich ziele ich hier auf den Artikel von Rainer Gansera ab, den er am 4. Mai im Münchner Kultur­teil der SZ veröf­fent­licht hat und in dem er das noch nicht gestar­tete Dok.Fest respek­tive dessen Leiter Daniel Sponsel regel­recht abge­watscht hat. Und natürlich ist meine eigene Position eine ganz heikle: Ich bin Kuratorin des inter­na­tio­nalen Wett­be­werbs, lang­jäh­rige Mitar­bei­terin des Dok.Fest, gleich­zeitig film­jour­na­lis­tisch bei artechock tätig und mit dem Autor des Artikels bekannt. Und, last but not least, Leiterin eines eigenen Festivals, UNDERDOX. Und damit auch wieder poten­ti­elle Ziel­scheibe von Kritik, auch wenn UNDERDOX natürlich nur zu bewundern ist, und es das beste Festival der Welt ist, oder zumindest »Münchens mutigstes Festival« (Thomas Willmann in der tz, gleich­zeitig artechock-Kollege, ähem!). Multiple Kompli­ka­tionen, Verwe­bungen, Abhän­gig­keiten, Loya­litäten also, um die es geht. Oder einfach nur typisch München, wo jeder mit jedem. Und so.

Und da nun schon auch meine eigenen multiplen Verwe­bungen und Abhän­gig­keiten zur Sprache gekommen sind: Weshalb ich über den Artikel von Rainer Gansera überhaupt schreibe, ist nicht, weil ich denke, ich müsste jetzt Festi­val­leiter Daniel Sponsel, also meinem Chef, in irgend­einer Form zur Seite springen. Ich selbst kann gar nichts mehr übers Dok.Fest schreiben, weil ich zu sehr invol­viert bin, und mir der nötige Abstand fehlt. Aber ich wüsste zu gerne, was von außen betrachtet gut war, was schlecht. Wie z.B. wurde der Wett­be­werb wahr­ge­nommen, den ich kuratiert habe, wie sind die Filme ange­kommen, die ich program­miert habe? – Viel­leicht war es zum Beispiel nicht gut, Khodor­kovsky als einzige inves­ti­ga­tive Doku­men­ta­tion ins Rennen um den 10.000-Euro-Telepool-Preis zu schicken, da er, ange­sichts der Jury­be­set­zung, genau der Filmer­war­tung entspro­chen hat, die ich bei den Juroren vermute. Auch dass mit ihm wieder eine BR-Produk­tion gewonnen hat, wurmt mich ein wenig. Aber gut, so bleibt das Geld wenigs­tens im Haus. Und es war natürlich auch klar ein Programm­po­li­tikum, zwei BR-Produk­tionen ins Rennen zu schicken (mit El Bulli, der den FFF-Preis gewann). Bitte mich nicht falsch verstehen: Ich finde Khodor­kovsky einen ganz großar­tigen Film! Puh!

Wegen puh! und allerlei Gefahren, die lauern, wenn die Macher laut zu denken beginnen, gibt es eben die Kritiker. Die dürfen dann an Stelle von einem selbst denken, können öffent­lich abwägen, Bilanz ziehen, andere Wege andenken. Deshalb ist das ja so toll, Kritiker zu sein. Und am schlimmsten sind die Filme­ma­cher, die bei jedem Verriss laut rufen: »Selber besser machen! Verkappter Film­re­gis­seur, geschei­terter HFF-Bewerber!« Also, ein Kritiker darf sagen, was er denkt, dazu ist er da. Dazu gibt es das Recht auf freie Äußerung. Und den unab­hän­gigen Jour­na­lismus.

Im Fall des erwähnten Artikels, über­schrieben mit »Aus jeder Schublade etwas«, dachte ich unwill­kür­lich: Rainer Gansera hat schlechte Laune bekommen, als er das »Begleit­heft« durch­blät­terte und sich nicht auskannte. Hat in mieser Stimmung in seine Tasten gehauen. Konnte weder Konzept noch Kohärenz im Programm finden und stellte durch die neue Programm­sek­tion »Forum« eine »schu­li­sche Selbst­be­zo­gen­heit« fest, die im nächsten Jahr durch den Umzug in das HFF-Gebäude jedermann direkt vor Augen geführt werde. In seinem mit einem großen Foto geschmückten Vier­spalter erwähnte Gansera gerade mal vier Filme, die bis auf eine Ausnahme (der »eindring­liche« Over Your Cities Grass Will Grow von Sophie Fiennes, ein gran­dioser Film aus dem – Achtung, jetzt kommt’s – inter­na­tio­nalen Wett­be­werb) nicht unbedingt für den doku­men­ta­ri­schen Höhenflug stehen, eher für doku­men­ta­ri­sche Anord­nungen, um etwas zu zeigen, sichtbar zu machen.

Ein Festi­val­ver­riss also noch bevor das Dok.Fest begonnen hatte, der das seltsame Gefühl hinter­ließ, dass da jemand abrechnet, viel­leicht gar nicht mit dem, um den es vorder­gründig geht, sondern einfach nur insgesamt und überhaupt, so wenig Einlas­sungs­be­reit­schaft und Reflexion konnte man da ausmachen. Leider, was durch diese Verbal­watsch'n ausblieb, war echte Kritik. Echte Kritik, eine, die Denk­an­s­töße gibt, eine, die so vorge­bracht wird, dass man sie annehmen kann. Die den Kriti­sierten auf andere, viel­leicht bessere Ideen bringt. Inhalt­lich kann ich nur sagen: Es wundert mich, dass Gansera Sponsel ein wahlloses Hinein­greifen in Schub­laden und Konzept­lo­sig­keit vorwirft, und gleich­zeitig das »Best of«-Prinzip, vor allem seiner Vorgänger, hochhält, das ja per se eben auch noch lange kein Konzept ist. Und ja, richtig: Wie schade, dass auf dem Dok.Fest nur vier Filme von Klaus Wilden­hahn zu sehen waren und nicht mehr. Aber »schwacher Abklatsch« des Leipziger Doku­men­tar­film­fes­ti­vals, das Wilden­hahn auch nur eine Hommage mit einigen wenigen Filmen widmete? Viel­leicht hätte an dieser Stelle nicht nur recher­chiert werden sollen, sondern auch mal über Budget­ver­hält­nisse nach­ge­dacht werden müssen. »Retro« in »Dok.retro« ist übrigens mehr ein Label als die Abkürzung für »Retro­spek­tive«, aber das nur nebenbei.

Was so verwun­dert an dem Ganzen, und damit komme ich zur Befan­gen­heit des Kritikers zurück: Gansera hat ein ausführ­li­ches Gespräch mit Sponsel geführt, das eigent­lich Grundlage für den Artikel hätte sein sollen. Heraus­ge­kommen ist ein Pamphlet gegen das neue Dok.fest, das nur eines bewirkte: Soli­da­ritäts­be­kun­dungen und Schul­ter­schlüsse mit dem Leiter. Und Fremd­schämen für den Kritiker, Ratlo­sig­keit, Kopf­schüt­teln.