Wie andere Künstler in Öl oder Acryl arbeitet der Brite Andy
Goldsworthy in Zweigen und Ästen, Steinplatten und Kieseln,
Blättern und Blumen, Erde und Eis. Dass seine Arbeiten wieder
zerfallen, nimmt er dabei nicht nur in Kauf, sondern ist Teil
seines Kunstverständnisses. Was ihm bleibt, sind Photographien, die
er möglichst naturgetreu selbst anfertigt. Mehrere opulente
Bildbände legen Zeugnis davon ab. Jetzt hat Goldsworthy erstmals
erlaubt, dass man ihn und sein Schaffen über einen längeren
Zeitraum hinweg filmt. Und der Dokumentarfilmer Thomas
Riedelsheimer hat mit RIVERS AND TIDES diese Chance eindrucksvoll
genutzt.
Riedelsheimers Film führt uns in meist einsame Gegenden in
Kanada, Schottland, Frankreich und den USA. Einmal ist der
Dokumentarist mit Goldsworthy noch vor Sonnenaufgang am
winterlichen Strand. Der Land-Art-Künstler reibt immer wieder seine
klammen Hände aneinander, doch mit Handschuhen kann er nicht
arbeiten. Mit den Zähnen beißt er Eiszapfen auf die gewünschte
Länge zurecht, so dass er sie in sein Werk einbauen kann:
Schlangenlinien aus Eis, die scheinbar aus einem aufragenden
Felsstück wachsen. Und als die Sonne kommt, bescheint sie das Werk
genau in dem Winkel und mit dem Licht, die Goldsworthy sich
vorgestellt hat für seine Fotos. Ihr Licht durchdringt das fragile
Konstrukt und macht es zu einer weithin sichtbaren
Illumination.
Ein anderes Mal baut Goldsworthy - ebenfalls am Strand - einen
fast mannshohen Steinkegel, den er dem Meer schenken will. Als es
kurz vor der Vollendung in sich zusammenbricht, sinkt der Künstler
neben dem Steinhaufen enttäuscht zu Boden und mag es nicht wahr
haben. Eine Dokumentation des Menschen Goldsworthy, die in keinem
seiner Bücher vorkommt. "Das war jetzt das vierte Mal. Aber ich
weiß wieder ein bißchen mehr über das Wesen der Steine", sagt
er.
Natürlich hat er bald wieder weitergemacht. Und viele neue Ideen
gehabt. Es gibt kaum ein in der Natur auffindbares Material, das
der Brite nicht schon in eines seiner Werke integriert hat. Er
führt auf diese Weise einen Dialog mit der Natur, scheint oft
selbst erstaunt über seine von ihm geschaffenen neuen
Wirklichkeiten. Er begreift die Natur als Ort mysteriöser Kräfte,
denen er auf die Spur kommen will. Und ist jedes Mal erstaunt, dass
sie größer ist als unser Verstand.
Regisseur Thomas Riedelsheimer, der die Kamera selbst führt, hat
sowohl von der wilden Natur als auch von Goldworthys Werken
prächtige, fast rauschhafte Bilder eingefangen. Wenn es nötig ist,
erhebt sich die Kamera in luftige Höhe, um das Geschaffene
deutlicher heraus zu arbeiten. Sie schwebt über die Landschaft
hinweg, in der unvermittelt ein Kunstwerk auftaucht und
dokumentiert so z.B., wie eine von Goldsworthy konzipierte, 760
Meter lange Steinmauer sich der Landschaft anschmiegt, wie sie dann
immer üppigere Schlangenlinien beschreibt und wie sie dabei Respekt
vor den Bäumen bezeugt, die vor ihr da waren. Das alles zur
meditativen Musik von Fred Frith.
"Bewegung, Wandel, Licht, Wachstum und Zerfall sind das Herzblut
der Natur, der Energien, die ich versuche in meinen Arbeiten zu
erschließen", sagt der Künstler. Manche von seinen Aktionen sind so
kurzlebig - zum Beispiel wirft er Staub von zerriebenen knallroten
Steinen in den Wind, der flackert auf wie ein Feuer - dass der Film
als Mittel der Dokumentation der Photographie vorzuziehen ist.
Norbert Link
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