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03.05.2001
 
 
   
 

Größer als unser Verstand
RIVERS AND TIDES - eine verheißungsvolle Eröffnung des Münchner Dokumentarfilmfests

 
Land-Art von Andy Goldsworthy
     
 
 
 
 

Wie andere Künstler in Öl oder Acryl arbeitet der Brite Andy Goldsworthy in Zweigen und Ästen, Steinplatten und Kieseln, Blättern und Blumen, Erde und Eis. Dass seine Arbeiten wieder zerfallen, nimmt er dabei nicht nur in Kauf, sondern ist Teil seines Kunstverständnisses. Was ihm bleibt, sind Photographien, die er möglichst naturgetreu selbst anfertigt. Mehrere opulente Bildbände legen Zeugnis davon ab. Jetzt hat Goldsworthy erstmals erlaubt, dass man ihn und sein Schaffen über einen längeren Zeitraum hinweg filmt. Und der Dokumentarfilmer Thomas Riedelsheimer hat mit RIVERS AND TIDES diese Chance eindrucksvoll genutzt.

Riedelsheimers Film führt uns in meist einsame Gegenden in Kanada, Schottland, Frankreich und den USA. Einmal ist der Dokumentarist mit Goldsworthy noch vor Sonnenaufgang am winterlichen Strand. Der Land-Art-Künstler reibt immer wieder seine klammen Hände aneinander, doch mit Handschuhen kann er nicht arbeiten. Mit den Zähnen beißt er Eiszapfen auf die gewünschte Länge zurecht, so dass er sie in sein Werk einbauen kann: Schlangenlinien aus Eis, die scheinbar aus einem aufragenden Felsstück wachsen. Und als die Sonne kommt, bescheint sie das Werk genau in dem Winkel und mit dem Licht, die Goldsworthy sich vorgestellt hat für seine Fotos. Ihr Licht durchdringt das fragile Konstrukt und macht es zu einer weithin sichtbaren Illumination.

Ein anderes Mal baut Goldsworthy - ebenfalls am Strand - einen fast mannshohen Steinkegel, den er dem Meer schenken will. Als es kurz vor der Vollendung in sich zusammenbricht, sinkt der Künstler neben dem Steinhaufen enttäuscht zu Boden und mag es nicht wahr haben. Eine Dokumentation des Menschen Goldsworthy, die in keinem seiner Bücher vorkommt. "Das war jetzt das vierte Mal. Aber ich weiß wieder ein bißchen mehr über das Wesen der Steine", sagt er.

Natürlich hat er bald wieder weitergemacht. Und viele neue Ideen gehabt. Es gibt kaum ein in der Natur auffindbares Material, das der Brite nicht schon in eines seiner Werke integriert hat. Er führt auf diese Weise einen Dialog mit der Natur, scheint oft selbst erstaunt über seine von ihm geschaffenen neuen Wirklichkeiten. Er begreift die Natur als Ort mysteriöser Kräfte, denen er auf die Spur kommen will. Und ist jedes Mal erstaunt, dass sie größer ist als unser Verstand.

Regisseur Thomas Riedelsheimer, der die Kamera selbst führt, hat sowohl von der wilden Natur als auch von Goldworthys Werken prächtige, fast rauschhafte Bilder eingefangen. Wenn es nötig ist, erhebt sich die Kamera in luftige Höhe, um das Geschaffene deutlicher heraus zu arbeiten. Sie schwebt über die Landschaft hinweg, in der unvermittelt ein Kunstwerk auftaucht und dokumentiert so z.B., wie eine von Goldsworthy konzipierte, 760 Meter lange Steinmauer sich der Landschaft anschmiegt, wie sie dann immer üppigere Schlangenlinien beschreibt und wie sie dabei Respekt vor den Bäumen bezeugt, die vor ihr da waren. Das alles zur meditativen Musik von Fred Frith.

"Bewegung, Wandel, Licht, Wachstum und Zerfall sind das Herzblut der Natur, der Energien, die ich versuche in meinen Arbeiten zu erschließen", sagt der Künstler. Manche von seinen Aktionen sind so kurzlebig - zum Beispiel wirft er Staub von zerriebenen knallroten Steinen in den Wind, der flackert auf wie ein Feuer - dass der Film als Mittel der Dokumentation der Photographie vorzuziehen ist.

Norbert Link

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