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23.04.1998
 
 
   
 

Reality-Movies
Das 13. Internationale Dokumentarfilmfestival

 
     
 
 
 
 

Dokumentarfilme haben es nicht leicht in den fixen 90ern. Wer will sich schon in Zeiten von Infotainment und TV-Zapping eineinhalb Stunden lang mit dem Tagesablauf von ­beispielweise- einer Bäuerin in Kirgisien beschäftigen, oder das fünfeinhalbstündige Portrait einer afrikanischen Hauptstadt über sich ergehen lassen ? Dokumentarfilme können stinklangweilig sein, aber auch ungemein spannend. Und weil ­man möchte es kaum glauben- auch Dokumentarfilmer daran interessiert sind, nicht nur jene 5 Hardcorefans im Programmkino zu erreichen, die sich sowieso einfach alles anschauen, sondern ein breiteres Publikum zu gewinnen, haben die allermeisten von ihnen längst jene gepflegte Langeweile und andere Stilmittel des Schulfunks abgelegt, die noch vor Jahren die meisten Dokumentarfilme geprägt hatten. Kein Zweifel: Nach langen Jahren des Dahinsichens erlebt der Dokumentarfilm derzeit einen Boom ­ in vergleichsweise bescheidenem Rahmen zwar, aber unverkennbar.

Wie spannend Dokumentarfilme sein können, läßt sich in der kommenden Woche in München verfolgen. Hier findet zum 13.Mal das "Internationale Dokumentarfilmfestival" statt, mit 150 Filmen eines der größten Europas, und neben Amsterdam und Marseille das wichtigste des Kontinents. Ein reiches, vielfältiges Themenspektrum prägt das Programm. Zur Eröffnung wird "The Big One" gezeigt, ein Doku-Road-Movie, das auf einer Reise durch die USA die kleinen Wahrheiten hinter dem großen Wunder des Kapitalismus entdeckt. Sehr sehenswert im Internationalen Programm ist auch "War Zone", ein besonders provokatives Projekt: Mit versteckter Kamera beschreibt Maggie Hadleigh-West die alltäglichen Belästigungen, denen Frauen in der Männerwelt ausgesetzt sind.

Im Wettbewerb und der Internationalen Reiche laufen nahezu alle wichtigen Produktionen des vergangenen Jahres. 23 Produktionen sind im Wettbewerb zu sehen, sie wetteifern gleich um zwei Preise: den mit 20.000 DM dotierten Preis des Bayerischen Rundfunk und den Preis für den "besonderen Dokumentarfilm (5.000 DM). Zu den Wettbewerb-Highlights dürfte auch "A Place called Chiapas" gehören, der vom brüchigen Frieden in der rebellischen Südprovinz Mexicos erzählt, sowie "Blue Note", eine Geschichte des Modern Jazz.

Besonders interessant zu werden versprechen zwei biographische Einblicke in sehr verschiedene Formen von Macho-Heldentum: Jean Labib schildert in "Yves Montand ­ 'Tu vois, je n'ai pas oublié...'" wie der Schauspieler/Sänger sein Leben zwischen Frauen, Filmen und politischem Engagement auf die Reihe bekam ­ ein Märchen aus dem vergehenden 20.Jahrhundert. Postheroischer ist da "Wild Man Blues". Barbara Kopple begleitete Woody Allan während einer Europatournee seiner Jazzband. Hier stimmt der Werbespruch: Woody Allen wie er noch nie zu sehen war. Eine abgrundtiefe Selbstentblößung, oder vielleicht auch nur eine andere Art von Heroismus.

Die Reihe "Neue Filme aus Bayern" stellt traditionell das Schaffen der hiesigen Regisseure vor. Hier kann man viele engagierte Projekte entdecken. Beispielsweise "Münchner Freiheit", der auch schon auf der Berlinale gezeigt wurde. Hier beobachtet der Münchner Regisseur Harald Rumpf das Leben von 6 Münchner Obdachlosen über einen Zeitraum von 12 Jahren.

Aber dies alles kommt in Kino, oder wird in den nächsten zwei Jahren auf arte zu sehen sein. Eine ­notfalls auch lange- Reise wert ist das Festival aber in jedem Fall wegen der diesjährigen Retrospektive. Sie widmet sich dem cubanischen Dokumentarfilm seit der Revolution. Der Titel "Jenseits der Inselmythen" zeigt die Absicht der Veranstalter, mit all jenen Vorurteilen aufzuräumen, durch die die cubanische Realität zwischen verklärter "Zuckerinsel" einerseits und "komunistischer Hölle" andererseits aus dem Blick gerät. Vierzig Jahre cubanischer Dokumentarfilm sprechen da eine andere Sprache: Sie zeugen von einer reichen und toleranten Filmkultur, die zwischen Avantgarde und Realismus, Sozialkritik und Propaganda für viele Facetten Platz läßt. Fast 70 Filme werden in der nächsten Woche gezeigt werden, darunter auch Werke bekannter Spielfilmregisseure wie Tomás Gutiérrez Alea, Humberto Solas und Octavio Cortázar.

Es paßt ganz gut zur Möglichkeit, mit Vorurteilen aufzuräumen, daß das diesjährige Motto "Schauprozesse" heißt. Denn natürlich soll man das vor allem hintersinnig verstehen: es geht nicht um irgendwelche Abrechnungen und Vergangenheitsbewältigungen, sondern um diejenigen Prozesse, die sich in den Zuschauerköpfen ereignen.

Rüdiger Suchsland

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