04.05.2017

DOK.disrupt

Dream Empire
Mit Eleganz und Sinn fürs richtige Timing: Dream Empire

Im Spannungsfeld von politischen Krisen, medialer Manipulation und Fake News zeigt sich die besondere Relevanz des DOK.fest-Jahrgangs 2017. Los ging es mit dem Eröffnungsfilm Dream Empire, der vom völlig entgrenzten Bauboom aus dem Nichts entstandener chinesischer Metropolen handelt.

Von Chris Schinke

Der Begriff Disrup­tion beschreibt auf tech­no­lo­gi­scher Ebene eine Inno­va­tion, so umfassend, dass sie in der Lage ist, bestehende Tech­no­lo­gien, Produkte und alther­ge­brachte Dienst­leis­tungen voll­s­tändig vom Markt zu verdrängen. Nicht erst seit dem vergan­genen Krisen­jahr haben wir uns angewöhnt, den Begriff auch auf die Sphäre des poli­ti­schen Diskurses anzu­wenden. Denn nach einer Reihe disrup­tiver Momente, stehen einst nicht hinter­frag­bare Selbst­ver­s­tänd­lich­keiten wie Zivil­ge­sell­schaft und die Demo­kratie als solche unter Beschuss. Egal, ob es sich um den Brexit, Wahl­er­folge rechts­po­pu­lis­ti­scher Bewe­gungen oder um auto­ritäre Macht­ver­schie­bungen handelt. Selbst­ver­s­tänd­lich haben diese poli­ti­schen Ereig­nisse Einfluss auf die künst­le­ri­sche Produk­tion. Dass der Doku­men­tar­film dabei zuver­lässig das ausge­präg­teste Sensorium für die unmit­tel­bare Erfassung unserer Gegenwart hat, zeigt auch dieser, mitt­ler­weile 32. Jahrgang des DOK.fest München – er verweist aber zum Glück auch auf Perspek­tiven, die bestrebt sind, den bedrü­ckenden Ist-Zustand zu über­kommen.

Drei High­lights des DOK.fest 2017 – Es darf geträumt werden

Denn viele der 157 Beiträge des dies­jäh­rigen Doku­men­tar­film-Jahrgangs handeln von der Tran­szen­denz und davon, sich an einen anderen Ort als den der Wirk­lich­keit zu träumen. Besonders eindrück­lich tut dies der fran­zö­si­sche Film Swagger des Regis­seurs Olivier Babinet. Er spielt an einem jener berüch­tigten Pariser Vororte, der nicht erst in Zeiten des allge­gen­wär­tigen Ausnah­me­zu­standes als Hort für poli­ti­sche Insta­bi­lität gilt. Die von Babinet porträ­tierten Jugend­li­chen wollen darin aber nicht dem Klischee­bild entspre­chen, das die weiße Mehr­heits­ge­sell­schaft von ihnen hat. Da ist zum Beispiel Régis. Der Junge ist eine richtige Type, und das ist noch unter­trieben. Régis ist vielmehr ein Fashion-Ereignis. Angetan mit Fliege, snobby Pollunder und gerne auch mit Pelz­mantel, setzt der Heran­wach­sende deutliche Gegen­ak­zente zum in der Banlieue vorherr­schenden Sneaker- und Hoodie-Style. Das beschert ihm freilich nicht nur Bewun­derer. Über Kritik und Angriffe ist der Junge aber erhaben und träumt selbst davon, ein berühmter Mode­schöpfer wie Alexander McQueen zu sein, der die ameri­ka­ni­sche First Lady Michelle Obama einkleiden darf. Andere der Kinder haben auch Träume: Archi­tekten und Chirurgen wären sie gerne, oder beschei­dener: einfach einmal von den Bullys in der Schule in Ruhe gelassen zu werden. Alpträume haben die Kids nämlich auch. Sie speisen sich aus einer Wirk­lich­keit der ständig durch­ex­er­zierten Poli­zei­ak­tion in der Pariser Vorstadt. Einer der Jungen imagi­niert schließ­lich eine Luft- und Boden­razzia, durch­ge­führt nicht von Menschen in Uniform, sondern von Robotern und Militär­drohnen. Babinet verleiht diesem Szenario eigent­lich nicht als Science-Fiction-Dystopie filmi­schen Ausdruck, sondern nur als konse­quent zu Ende gedachte Verlän­ge­rung unserer Gegenwart. Der Regisseur und sein Film wissen: brechen kann man Menschen auf unendlich viele Weisen, richtig kaputt machen kann man sie nur, wenn man ihnen ihre Träume raubt.

Einen Traum hatte auch mal die ameri­ka­ni­sche Welt­raum­behörde, schnell wurde er zum Staats­ziel: Es sollten die Sowjets beim Wett­rennen ins Weltall über­flü­gelt werden. Was später in Form der Mond­lan­dung klappen sollte, sah anfangs gar nicht so gut für die US-Wissen­schaft aus. Während es die Russen hinbe­kamen, den Satel­liten Sputnik 1 in eine geosta­ti­onäre Umlauf­bahn zu feuern, crashte eine NASA-Rakete nach der anderen, bei dem Versuch einen stabilen Orbit zu erreichen. Neue Ideen mussten also her. Und da begab es sich, dass die Rede laut wurde, von einem ominösen Welt­raum­pro­gramm. Und zwar wo es keiner wirklich vermutete: im Jugo­sla­wien unter dem dikta­to­ri­schen Staats­chef Josip Broz Tito. Zahl­reiche Mythen rankten sich um das Geheim­pro­gramm, ein Unter­nehmen, das seinen physi­schen Sitz tief im Innern eines Berges im heutigen Kroatien hatte. Unter Kennedy kauften die Ameri­kaner schließ­lich das sagen­um­wo­bene Rake­ten­pro­gramm. Mit im Paket: 26 jugo­sla­wi­sche Wissen­schaftler, die in ihrem Heimat­land kurzum für tot erklärt wurden, um fortan exklusiv für die NASA zu arbeiten. Einer von ihnen ist Ivan Pavic. 50 Jahre nach seiner Inkognito-Einwan­de­rung in die Verei­nigten Staaten begibt er sich zum ersten Mal zurück in die alte Heimat, um seine Tochter, die ihn ebenso für tot oder verschollen hält, zu treffen. Der ganze Deal, der zunächst nur wie eine hübsche Anekdote der Weltraum-Geschichts­schrei­bung anmutete, barg in Wirk­lich­keit reichlich geopo­li­ti­schen Zündstoff. Schließ­lich durfte die kommu­nis­ti­sche Führung in Moskau nichts von dem Manöver mitbe­kommen, was zur Folge hatte, dass die Abwick­lung des Deals holly­woodreif über Marokko erfolgte, von wo aus das astro­no­misch-ballis­ti­sche Gerät seinen Seeweg nach Houston, Texas nahm. Die Ameri­kaner waren glücklich über das zuge­kaufte Know-How, Tito sanierte so über Jahr­zehnte den jugo­sla­wi­schen Staats­haus­halt. Aller­dings nur vorüber­ge­hend. Schnell fanden die Amis nämlich heraus, dass der Einkauf der Balkan-Wiss­chen­schaftler eine Mogel­pa­ckung war – die Höchst­leis­tung der Südo­st­eu­ropäer bestand nämlich lediglich in einem Rake­ten­start mit Schwein­chen an Bord, der einst irgendwo in der Adria versandet war. All das und noch viel mehr erklärt uns der Philosoph und Psycho­ana­ly­tiker Slavoj Žižek in Andrej Vircs ebenso virtuoser wie aber­wit­ziger Doku­men­ta­tion Houston, We Have a Problem!. Ach ja, und das Schwein­chen hat übrigens überlebt.

Ob die Jugend­li­chen in Michal Marczaks All These Sleepless Nights tatsäch­lich noch Träume haben, weiß man gar nicht so genau. Sie driften ein wenig antriebslos durch die Straßen der polni­schen Haupt­stadt und scheinen doch stets auf der Suche zu sein. Auf der Suche nach dem nächsten Kick, dem nächsten High, dem nächsten One Night Stand. Die Prot­ago­nisten Kris und Michal spielen sich dabei selbst, wobei der Akzent auf ihrem Spiel liegt, denn All These Sleepless Nights operiert an der Naht­stelle von Fiktio­na­lität und Wirk­lich­keit, einem Terrain, das der Doku­men­tar­film seit einigen Jahren verstärkt auslotet – im Falle von Michal Marczaks auf dem Film­fes­tival in Sundance prämierter Arbeit geschieht dies in künst­le­risch überaus frucht­barer Form. Den beiden Kunst­stu­denten folgt der Zuschauer in ihrem Alltag im gerade sehr ange­sagten Warschau, einer Stadt, die an einer eben­sol­chen Zeiten­wende zu stehen scheint, wie das Leben der Hipster-Prot­ago­nisten, die sie in All These Sleepless Nights beher­bergt. Es ist ein einziger Taumel, der sich hier darbietet und in gewissen Momenten an den erzäh­le­ri­schen Sog von Sebastian Schippers viel­ge­lobten Victoria erinnert, nur noch unver­stellter, brutaler und direkter aus dem echten Leben gegriffen. Vorsicht, Warschauer Nächte sind lang.

Deutsche und europäi­sche Zustände: Weitere High­lights auf dem DOK.fest

In seiner Fokus­reihe DOK.euro.vision eröffnet das dies­jäh­rige Doku­men­tar­film­fest eine Perspek­tive auf die ungewisse Zukunft Europas. Exem­pla­risch geschieht dies in Greek Winter, der den Alltag einer grie­chi­schen Klein­un­ter­nehmer-Familie in Zeiten europäi­scher Auste­ritäts­po­litik doku­men­tiert. Darin kämpfen Bruder und Schwester um das Überleben ihres Heizöl­be­triebes. In dem strau­chelnden Land wirken die beiden nicht nur unter­neh­me­risch, sondern gezwun­ge­ner­maßen auch seel­sor­ge­risch. Brex­i­tannia beschäf­tigt sich damit, was nach der längst beant­wor­teten Frage nach »Remain or Leave« bleibt. Und der türkische Beitrag AH gibt den Menschen ein Gesicht, über die im Zuge der Bericht­erstat­tung über terro­ris­ti­sche Attentate zu selten gespro­chen wird – die Opfer. Sie berichten hier von einem der grau­samsten Anschläge der letzten Jahre in der Türkei. Dieser trug sich 2015 bei der Kund­ge­bung Oppo­si­tio­neller in Ankara zu, bei dem mehr als 100 Menschen ihr Leben verloren. Die Über­le­benden machen der amtie­renden türki­schen Regierung und den ermit­telnden Behörden einen schweren Vorwurf, den man erst nicht glauben mag, der sich aber durch zahl­reiche Zeugen­aus­sagen in Mustafa Ünlüs erschüt­terndem Dokument erhärtet.
Deutschen Zuständen der Gegenwart widmet sich die filmische Essay­do­ku­men­ta­tion 6 Jahre, 7 Monate, 16 Tage – Die Morde des NSU. Auch hier findet sich Poli­zei­ar­beit im Fokus der Recherche. Genauer gesagt eine Ermitt­lungs­hy­po­these, die davon ausging, dass die Anschlags­welle, der vor allem türkischs­täm­mige Mitbürger zum Opfer fielen, im Bereich der Auslän­der­kri­mi­na­lität ange­sie­delt gewesen sei. Was natürlich ein Riesen­un­sinn war. Heute wissen wir das alles – meinen wir zumindest. Was wir wirklich wissen und an welchen Stellen wir gerade erst begonnen haben die entschei­denden Fragen zu stellen, davon handelt Sobo Swobod­niks 6 Jahre, 7 Monate, 16 Tage – Die Morde des NSU.
Kein Thema bewegte die deutsche Öffent­lich­keit in den vergan­genen Jahren mehr als die Flücht­lings­krise. Dem Komplex nähern sich in diesem DOK.fest-Jahrgang vor allem zwei Arbeiten: Zum einen Auf dünnem Eis – Die Asyl­ent­scheider, der sich mit den Menschen befasst, die über das Schicksal hier Ange­kom­mener befinden. Diese so genannten Entscheider verhan­delten im Jahr 2016 700.000 Asyl­an­träge. Sandra Budes­heimer Film blickt hinter die Kulissen des Bundes­amtes für Migration und begleitet vier Verfahren zwischen Hoffnung und tiefer mensch­li­cher Verzweif­lung. Von der behörd­li­chen zur poli­zei­li­chen Praxis führt uns Depor­ta­tion Class und zeigt die brutale Realität voll­zo­gener Abschie­bungen. „Wir setzen geltendes Recht um!“ ist hier der Tenor. Die psycho­lo­gi­schen Defor­ma­tionen Welt­po­li­ti­scher Krisen sind viel­fältig.
Der Flucht­ur­sache Nummer eins, dem Krieg, spürt schließ­lich  Nowhere to Hide nach. Das Jahr 2011 ist für den jungen Iraker Nori eigent­lich eines der Hoffnung. Es ist die Zeit des US-Trup­pen­ab­zugs und das Land des Kran­ken­pfle­gers steht vor dem Aufbruch, die Menschen freuen sich über ihre zurück­ge­won­nene Freiheit. Sie währt nicht lange. Noris Video­auf­zeich­nungen zeigen den sukzes­siven Zerfall einer Nation, die von Inter­es­sen­kon­flikten und terro­ris­ti­schen Gräu­el­taten Jahr um Jahr weiter zerrieben wird. Am Ende ist Nori selbst, gemeinsam mit seiner Familie auf der Flucht.
So erzählt das DOK.fest in diesem Jahr konse­quen­ter­weise auch vom Scheitern der Träume. Dazu passt in ökono­mi­scher Hinsicht auch der Eröff­nungs­film, Dream Empire. Mit Eleganz und Sinn fürs richtige Timing nähert sich David Boren­steins Festi­val­bei­trag dem chine­si­schen Immo­bi­lien- und Bauboom, der ganze Metro­polen aus dem Nichts entstehen lässt, the Chinese Dream quasi. Dass die in Schwin­de­leile aus dem Boden gestampften Glit­zer­fas­saden in Wirk­lich­keit gehörig am Bröckeln sind und welche Rolle wir Westler in diesem Speku­la­tions-Trep­pen­witz noch spielen, davon weiß  Dream Empire auch überaus unter­haltsam zu berichten. Die Wirk­lich­keit, das heißt, das was ist, zu filmen, bedeutet nämlich auch immer, auf das zu verweisen, was nicht der Fall ist, auf das, was sein könnte. In dieser Hoffnung besteht die große Kraft unserer Zeit.

32. DOK.fest München, 03.-14.05.2017, diverse Spiel­stätten. Das DOK.fest ist eine Veran­stal­tung der Filmstadt München e.V. und wird u.a. gefördert vom Kultur­re­ferat der Landes­haupt­stadt München.