26.04.2012

Wirklich sehens­wert

This ain't California
Rollbretter vor dem Berliner Fernsehturm:
This Ain’t California
von Marten Persiel

Unerlässliche Filmtipps zum 27. Internationalen Dokumentarfilmfestival München

Von Dunja Bialas

Wenn am 2. Mai zum 27. Mal das Dok.Fest in München eröffnet wird, beginnt wieder eine Woche der Entschei­dungen. Frei­nehmen oder lieber doch arbeiten gehen? In den Bier­garten oder lieber doch ins Kino und die Gele­gen­heit wahr­nehmen, Filme zu sehen, die man sonst nicht sehen kann? Lieber unter­halt­same Doku­men­tar­filme oder anspruchs­volles Politkino? Den Doku­men­tar­film­pu­risten raus­kehren oder einen Blick in die neue Reihe Dok.fiction wagen? – Artechock-Autorin Dunja Bialas arbeitet als Kuratorin beim Dok.fest München und hat für die Redaktion eine Auswahl der unbedingt sehens­werten Filme zusam­men­ge­stellt.

UNTERHALTSAME DOKUMENTARFILME

Doku­men­tar­film muss nicht anstren­gend sein! Hier drei Filme, die kurz­weilig, unter­haltsam und vergnüg­lich sind:

Zu schön, um wahr zu sein. In This Ain’t Cali­fornia lassen Regisseur Marten Persiel und sein Team das subver­sive Hobby des Roll­brett­fah­rens in der DDR wieder aufleben. Tolle Super-8-Aufnahmen erzählen von der coolen Zeit in den späten 70ern, frühen 80er Jahren, in denen die DDR von einem Zusam­men­halt von all jenen geprägt war, die etwas anderes von ihrem Leben wollten als Maloche.
Ein äußerst günstigen Umstand: Einer der Prot­ago­nisten hat in jungen Jahren eine Kamera geschenkt bekommen, und filmt seitdem unauf­hör­lich die Skate­board-Clique. Persiel hat dabei aber auch kräftig nach­ge­holfen und unter der Hand einige Aufnahmen nach­ge­stellt. Heraus­ge­kommen ist eine perfekte Doku­mentar-Camou­flage, die so tut, als wäre alles genauso und nicht anders gewesen. Aber ist das in der Erin­ne­rung nicht immer so? Ein Film über die faszi­nie­rende DDR-Zeit, als Skate­board­fahren noch ein poli­ti­sches Statement war. (Do. , 03.05., 22:30 Uhr, Atelier 1. Wieder­ho­lungen Sa., 05.05.,15:00 Uhr, ARRI und Di., 08.05., 21:30 Uhr, Atelier 1)

Eigent­lich darf man das ja nicht lustig finden. Wer aber Stanislav Mucha ein wenig kennt und weiß, dass er generell einen augen­zwin­kernden Blick auf die Welt richtet, kann bei Die Pfand­leiher großes Vergnügen haben. Hier erzählen Betreiber jener Waren­häuser, die so funk­tio­nieren, dass Waren hinein- und Geld hinaus­ge­tragen wird, von ihrem Metier. Außerdem auch viele Kunden über die Gründe ihres Geld­be­dürf­nisses. Ein Einblick in das verbor­gene Treiben der deutschen Bevöl­ke­rung, der zeigt: Es ist alles gar nicht so schlimm. Kommentar beim Sichten war: »Den Film darf ich meinem Kind nicht zeigen, das kommt noch auf dumme Gedanken!« (Spielzeug zu Geld!) (Fr., 04.05., 17:00 Uhr, ARRI. Wieder­ho­lung Sa., 05.05., 21:30 Uhr, Rio 2)

Können Sie sich noch an die Wahl zwischen Frucade vs. Eierlikör erinnern? – Nein, nicht? Dann haben Sie ihre Jugend nicht im ORF-Einzugs­be­reich verbracht! »Frucade oder Eierlikör?« war die legendäre Frage, mit der Kult-Talker Hermes Phettberg in den 90ern seine »Nette Leit Show« begann. Nach mehreren Schlag­an­fällen ist der heute 60-Jährige ein körper­li­ches Wrack. Will aber immer noch mit seiner Präsenz provo­zieren. Der Papst ist kein Jeansboy zeigt sein Leben zwischen Papier­sta­peln, Ekel­mo­menten und Stam­mel­sprüchen. Das ist natürlich eine Grat­wan­de­rung zwischen Ausge­stellt­werden und Exhi­bi­tio­nismus, aber bei Phettberg sollte man das alles auf keinen Fall ernst nehmen. (Fr., 04.05., 22:30 Uhr, Film­mu­seum. Wieder­ho­lung Mo., 07.05., 22:00 Uhr, Atelier 1)

POLIT-KINO

Eigent­lich ist ja alles politisch, auch und vor allem die Form, wie wir von Godard wissen. Seien wir aber mal etwas strenger und suchen im Dok.Fest-Programm nach Filmen mit einem aktuellen poli­ti­schen Anliegen.

Klingt ja irgendwie wie eine Ehre, mit einem »Spezi­al­flug« fliegen zu dürfen. Ist es aber nicht, sondern die allge­gen­wär­tige Drohung, die über den Asyl­be­wer­bern in einem Schweizer Lager in Vol Spécial schwebt. Wenn sie bei ihrer Abschie­bung nicht koope­rieren, werden sie in Hand­schellen zwangs­weise ausge­flogen, ohne Hilfe in dem Land, das sie einst ausge­spuckt hatte. Perfide ist die Nettig­keit der Sozi­al­ar­beiter zu den Asyl­be­wer­bern: Das ist die Perver­sion des Huma­nitären in einem unmensch­li­chen System. Ein Film von Altmeister Fernand Melgar (La Fort­er­esse). (So., 06.05., 14:00 Uhr, ARRI. Wieder­ho­lung Di., 08.05., 17:00 Uhr, Atelier 1)

Iran macht gerade viele Nega­tiv­schlag­zeilen. Bitter ist die Zensur, sind die Maulkörbe, die gegen die intel­lek­tu­elle und künst­le­ri­sche Elite verhängt werden. Jafar Panahi, der mit seinem Spielfilm Offside 2006 den Silbernen Bären gewann, wurde Ende 2010 mit einem 20-jährigen Berufs­verbot verhängt. Unter Haus­ar­rest hat er einen Film gedreht, den er nicht machen durfte. This is not a Film zeigt, wie ein Filme­ma­cher aus dem buchs­täb­li­chen Nichts heraus einen großar­tigen Film darüber macht, keine Filme mehr drehen zu dürfen. Unfassbar. (Fr., 04.05., 19:00 Uhr, Film­mu­seum. Wieder­ho­lung So., 06.05., 16:30 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek im Gasteig)

Im Holly­wood­kino kämpfen immer die Guten gegen die Bösen, und das Gute obsiegt. In der Wirk­lich­keit aber ist das nicht immer so einfach. Wer sind die Guten, wer die Bösen? Von einem, der zwischen die Fronten geraten ist, erzählt Rechokim – The Colla­bo­rator and His Family. Vom israe­li­schen Geheim­dienst in den paläs­ti­nen­si­schen Gebieten als Spion einge­setzt, muss El-Akel jetzt in Tel Aviv wohnen, bevor in seiner Heimat seine Identität aufge­deckt werden kann. In Israel aber hat er als Kolla­bo­ra­teur keinen guten Status. Er wohnt in einem Verschlag auf einem Dach, seine Familie kommt ihn heimlich besuchen. Auch sein Sohn wurde schon vom Geheim­dienst ange­spro­chen. Es gibt kein Entkommen vor der Geschichte, die sich wieder­holt. (Do., 03.05., 18:00 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek im Gasteig. Wieder­ho­lung So., 06.05., 19:30 Uhr, Atelier 1)

ETHNO-LOOK

Doku­men­tar­film ist ja im ethno­lo­gi­schen Film behei­matet. Man denke nur an Robert Flaherty, an Jean Rouch. Aber auch die nach­kom­mende Gene­ra­tion bringt Glanz­stücke hervor, die keines­wegs verstaubt sind, auch wenn hier viel Staub aufge­wir­belt wird.

Straßenbau! heißt es mitten in der Sahel-Wüste im Tschad. Im Nirgendwo von Sand und Staub wird großes Geschütz aufge­fahren, um die Wüste zu planieren. Das alles obliegt einer fran­zö­si­schen Baufirma, die sich aus den fran­zö­sisch­spra­chigen Nach­bar­län­dern Arbeiter geholt hat, um ein absurdes Bauvor­haben zu reali­sieren. Die Nomaden der Wüste, die noch nie eine Straße brauchten, um sich in der Weite des Landes zurecht­zu­finden, sehen ungläubig dem Treiben zu. Habiter/Construire erzählt in atem­be­rau­benden Bildern vom Zusam­men­prall der Kulturen in einer kleiner werdenden Welt.
(Sa., 05.05., 18:30 Uhr, Rio 2. Wieder­ho­lung Mo., 07.05., Rio 2)

LAWINEN DER ERINNERUNG

Doku­men­tar­film befragt Zeit­zeugen, geht in die Archive, kramt alte Aufnahmen hervor und strickt das alles zu packenden Lehr­s­tü­cken über unsere eigene Vergan­gen­heit. Gleich zwei Größen des deutschen Films sind mit ihren jüngsten Werken beim Dok.fest vertreten.

Dominik Graf hat in Lawinen der Erin­ne­rung den kürzlich verstor­benen Filme­ma­cher und Autor Oliver Storz (»Die Frei­bad­clique«) nach seinen Erin­ne­rungen befragt. (Do., 03.05., 17:00 Uhr, ARRI. Wieder­ho­lung So., 06.05., 17:00 Uhr , Atelier 1)

Werner Herzog ist in Into the Abyss in die Todes­zellen gegangen und hat in seiner unnach­ahm­li­chen Art zum Tode Verur­teilte nach ihrer Erin­ne­rung an die Taten, die sie begangen haben, befragt. Dazu montiert er Poli­zei­vi­deos und State­ments von den Über­le­benden der Opfer. Ein beklem­mender Sog. (So., 06.05., 11:30 Uhr, ARRI)

Manchmal aber muss man die Erin­ne­rungen auch in Revision schicken. Oft sind sie nämlich trüge­risch. Philip Scheffner geht in Revision einem Mordfall nach, der 20 Jahre her ist und bei dem an der damaligen EU-Grenze zwischen Deutsch­land und Polen auf myste­riöse Weise zwei Roma erschossen wurden. Die Inter­viewten verwi­ckeln sich in der Abwehr der tatsäch­li­chen Ereig­nisse in offen­sicht­liche Wider­sprüche. Ein span­nender Doku­men­tar­film-Krimi! (Do., 03.05., 21:00 Uhr, Rio 2. Wieder­ho­lung Sa., 05.05., 16:00 Uhr, Film­mu­seum)

WAS SIE NOCH NIE GESEHEN HABEN

Verbor­gene Welten, Dinge, von denen man nichts wusste: Doku­men­tar­film beleuchtet Facetten der Wirk­lich­keit, von denen wir nichts ahnten.

Auf das liebe Vieh gekommen sind die beiden Frauen in Women With Cows. Sie sind schon betagt und wohnen gewis­ser­maßen mit ihren Kühen zusammen. Das alles ist sehr liebevoll und wunder­schön gefilmt, auch wenn man in manchen Szenen den Kuhstall förmlich riecht. (Fr., 04.05., 19:00 Uhr, City 3. Wieder­ho­lung So., 06.05., 18:00 Uhr, Rio 2)

Live-Rollen­spiele geben sich die Prot­ago­nisten in Fairytale – Die Herren der Spiele. Am tollsten ist das Spiel als Zombies: In einem Abbruch-Haus treffen sich blutüber­strömte Gestalten, um eine Familie zu erschre­cken, die gerade eine Land­partie macht. Arrrgh! Ein Film über die Lust, sich zu verkleiden, der sich mit seinen perfekten Kostü­mie­rungen in nichts hinter Herr der Ringe und Co. verste­cken muss. (Sa., 05.05., 20:00 Uhr, ARRI. Wieder­ho­lung Mo., 07.05., 21:30 Uhr, Rio 2)

FORMVOLLENDETE FILME

Doku­men­tar­film kann auch schön sein. Eine Augen­weide. Form­voll­endete Film­kunst­stücke. Dabei, daran darf erinnert werden, sind sie aber nie L’Art pour l’art, sondern immer auch politisch, in der Form, die sie sich bewusst wählen. Dem würde Godard unbedingt zustimmen.

In schnee­be­deckte Land­schaften eintau­chen, dabei aber nie die Herde aus dem Blick verlieren. Der Schweizer Film Hiver nomade gehört zum doku­men­ta­ri­schen Subgenre der Schäf­chen­filme und ist nicht nur wunder­schön anzusehen. Er erzählt vom Unter­fangen, in einer urba­ni­sierten Land­schaft Schäfer zu sein, einem Beruf, der nicht umsonst einen wichtigen Platz in der Lyrik einge­nommen hat. (Sa., 05.05., 16:00 Uhr, Rio 2. Wieder­ho­lung Mo., 07.05., 17:00 Uhr, ARRI)

Wie kann man erzählen über einen, der blind geworden ist, aber als Schrift­steller gewis­ser­maße wieder sehend geworden ist? Martin Otter ist für seinen ersten Film Váng Bóng – The Absence of Shadow nach Vietnam gereist und hat sich dort die unglaub­liche Lebens­ge­schichte des Dichters Váng Bóng erzählen lassen. Seinen Film hat er in einneh­mendem Schwarz­weiß gedreht, immer wieder lässt er die Stille zu, und das Bild verschwinden. Poetisch und betörend. (Sa., 05.05., 15:30 Uhr, Pina­ko­thek der Moderne. Wieder­ho­lung Mi., 09.05., 22:00 Uhr, Film­mu­seum)

Vom Leben mit seinen Kindern in Argen­ti­nien erzählt der mit Preisen ausge­zeich­nete polnische Kame­ra­mann und Regisseur Wojciech Starón in Argen­ti­nian Lesson. Dicht ist er an seinen Prot­ago­nisten dran, fast wie in einem ausge­klü­gelten Spielfilm erleben wir die Drama­turgie des Lebens, in der sich die Kinder in der fremden Welt ihren Platz erkämpfen. (So., 06.05., 14:00 Uhr, Film­mu­seum. Wieder­ho­lung Mo., 07.05., 22:00 Uhr City 3)