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Willkommen in Las Vegas!
Das zwölfte Münchner Dokumentarfilmfestival bleibt für die Zuschauer ein Glücksspiel

  24.04.1997
 
 
 
 

Jedes Jahr das gleiche Spiel: Viele Filmfreunde haben genug von den austauschbaren, atavistischen Machwerken der kalifornischen Traumfabrik. Noch einmal die „Nackte Kanone", Teil 17, noch einmal „Batman", Version, 7,5? Nein, dann doch lieber zum zwölften Münchner Dokumentarfilmfestival (25.04-4.05.). Es lebe die Realität! Schluß mit den eskapistischen Eskapaden! Wenn man dann aber das Festival-Programm durchblättert, fühlt man sich regelrecht erschlagen von der unüberschaubaren Fülle des Materials. 135 Filme buhlen um die Gunst der Cineasten. Was soll man sich ansehen, was nicht? Tja, normalerweise hält man sich in solchen Fällen an die Vorauswahl der Presse, aber auch die ist eindeutig überfordert. Kein Journalist hat vor Festival-Beginn die Möglichkeit, alle Filme zu sehen, und wenn er die Möglichkeit hätte, fehlte ihm die Zeit. Allein das Motto des Festivals, „Streunen in Raum und in der Zeit", ist an Beliebigkeit kaum zu überbieten. Überdies sind die Filme im Programm nicht nach Themenbereichen geordnet, sondern nach den Kinos, in denen sie laufen. Das Festival bleibt also auch in diesem Jahr recht unübersichtlich; die Veranstalter unterscheiden nur zwischen „Internationalem Programm", „Neue Filme aus Bayern" und „Werkschau des St. Petersburger Dokumentarfilmstudios". Noch Fragen? Willkommen zum großen Roulette-Spiel! Nichts schützt die Gemeinde der Film-Hasardeure vor der Gefahr, im Festivalbüro (Ignaz-Günther-Haus, St.Jakobs-Platz, 1. Stock, Tel 089-26 2 25) eine Niete zu ziehen, - abgesehen natürlich von unseren Artechock-Tips:

Einer der Höhepunkte des Festivals ist MEMORIA (siehe auch Filmkritik), ein Film über italienische Zeitzeugen des Holocausts. Memoria-Regisseur Ruggero Gabbai hat sich zum Ziel gesetzt, die Erfahrungen der italienischen Überlebenden des Holocausts zu dokumentieren, bevor ihre Erinnerungen für die Nachwelt verloren sind. Insofern ähnelt sein Projekt Spielbergs Shoa-Dokumentation, die aus dem Spielfilm „Schindlers Liste" hervorging, Memoria setzt den 8500 italienische Juden, die zwischen 1943 und 1945 in Vernichtungslager deportiert wurden, ein Denkmal. Etwa 800 von ihnen überlebten. 93 sind heute noch am Leben und waren bereit, vor der Kamera von ihren Eindrücken zu berichten. Dabei ist ein Dokumentarfilm entstanden, der mit hoher Sensibilität die Opfer zu Wort kommen läßt, ohne ihnen in ihrem Schmerz zu nahe zu treten. Memoria ist deshalb so herausragend, weil Gabbai den Zuschauer mit historischen Details verschont, die man lieber in Geschichtsbüchern nachliest. Weitere Filme zum Thema: „Schwarze Sonne -Mythologische Hintergründe des Nationalsozialismus" (Deutschland 1997), und „Exil Shanghai", ein Film über europäische Juden in China, der wegen seiner Länge (über vier Stunden) allerdings nur Marathon-Cineasten anzuraten ist.

Unser zweiter Tip: DECKNAME ‘DENNIS’, eine grandiose Satire über die bizarren Eigenheiten der Deutschen. Thomas Frickels Films gehört zu den Dokumentationen des Festivals, die sich mit aktuellen, politischen Entwicklungen auseinandersetzen. Frickels raffinierte Idee: Er zeigt Deutschland aus der Sicht eines Amerikaners, der sich im Auftrag des Geheimdienstes mit der Stimmung in Deutschland vertraut machen soll. Da sich die deutschen Filmemacher als amerikanisches Kamerateam ausgeben, antworten die Befragten mit verblüffender Leutseligkeit. Wir erfahren zum Beispiel, daß der erste GRÜNE ein Gartenzwerg war, daß es in Deutschland vier Kuckucksuhren-Besitzer gibt, von denen jeder behauptet, seine Uhr sei die größte der Welt, daß in Leipzig Mielkes Goldfisch namens „Klassenfeind" für 250 Mark versteigert wurde, daß man in einer deutschen Gastwirtschaft vier Meter Wurst bestellen kann, daß die NPD vom Vierten Reich, die Schlesier von der Heimat und die Burschenschaften von Ehre, Freundschaft und Vaterland träumen. Einer der Höhepunkte des Films: Der Chef der Autofahrerpartei behauptet allen Ernstes: „Wir haben hier in Deutschland KZs für Autofahrer, der Autofahrer ist der moderne Jude." Der amerikanische Reporter versteht die Welt nicht mehr, denn die Deutschen, so seine Schlußfolgerung, fahren Auto, nicht um sich fortzubewegen, sondern um für ihre Bürgerrechte einzutreten, sie fahren Rad, um sich für Bäume einzusetzen. „Die Deutschen essen nicht, um satt zu werden, sondern um zu zeigen, daß sie was vom Essen verstehen." Augenzwinkernd zeigt Frickel die monströs-groteske Absurdität des deutschen Alltags.

Übrigens: Auch von den restlichen 133 Filmen sind sicher einige sehenswert. Nur welche das sind, das müßt ihr schon selbst rausfinden. Da hilft nur das in zahlreichen Tierversuchen getestete „Trial-and-Error"-Verfahren.

Dominik Eichmann

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