78. Filmfestspiele Cannes 2025
Die Upcycler |
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Perfekte Mimikri: Richard Linklaters Nouvelle Vague | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Richard Linklater) |
Von Dunja Bialas
Auf der »Terrasse des Journalistes« steht ein Mann am Geländer und dehnt die Achillesferse. Es ist einer von dem immensen Einlasspersonal, das Cannes überall aufgestellt hat. Bevor man die Terrasse überhaupt betreten kann, muss man fünf Kontrollen über sich ergehen lassen. Badge scannen, Badge zeigen, Tasche aufmachen und reinsehen lassen, Körper scannen – élevez vos bras –, wieder den Badge zeigen. Die Kontrolleure tragen schwarze Anzüge, Krawatte und eine kleine goldene Palme als Anstecknadel, immer wird man von ihnen freundlich begrüßt, was die Kontrollen erträglich macht, man grüßt zurück und rauscht durch.
Es schlägt wirklich aufs Gemüt, sagt der Kontrolleur, der gerade sein Bein auf der Terrasse gestreckt hat, wenn man so allein hier herumsteht. Hier oben nimmt sich keiner mehr Zeit für einen Gruß, alle wollen nur zu ihren Interviewterminen oder zum Podcasten, wie zum Beispiel wir zur Aufnahme von »Framing«, dem Podcast von critic.de.
700 Leute beschäftigt Cannes während der Festivalzeit, es ist eine riesige, perfekt geölte Maschine, ohne Pannen und kaum Verzögerungen. Die kommen höchstens daher, weil es lange Standing Ovations gibt, oder Thierry Frémaux bei der Begrüßung in Plauderlaune kommt. Die Wächter am Einlass zum Palais du Festival erzählen gerne kleine Anekdoten.
Überhaupt kann man in der Schlange gut den Gesprächen der anderen lauschen. Hinter mir zwei deutsche Journalisten, die sich noch etwas ratlos über Richard Linklaters Nouvelle Vague unterhalten, den sie gerade gesehen haben. »Godard muss doch schon 90 sein!«, sagt der eine. Er hat attestierten Suizid begangen, weist ihn der andere dezent auf seine Wissenslücke hin. »Kann man denn den Film verstehen, wenn man Außer Atem nicht kennt? Wer kennt denn den heute noch?« Ich entferne mich schnell.
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Linklaters Film unternimmt in Nouvelle Vague, der im Wettbewerb läuft, ein filmisches Mimikri der Sechzigerjahre-Ästhetik. Zu Beginn zittert der Bildstand, als würde eine 16mm-Kopie vorgeführt, während des Films gibt es Überblendzeichen für den Vorführer. Alles ist die perfekte Illusion einer zum Mythos erhobenen Zeit, des Beginns der Nouvelle Vague, und mehr noch, der Anfänge von JLG als Filmemacher, als ihm eine narzisstische Kränkung drohte. Seine Kollegen der »Cahiers du Cinéma« hatten alle schon einen Film realisiert, er selbst konnte nur einen Kurzfilm vorweisen. François Truffaut feierte in Cannes 1959 mit Les quatre cents coups einen Triumph, während Godards Absicht, die Filmsprache zu revolutionieren, noch reine Theorie war. In Cannes (wohin er mit gestohlenem Geld aus der Redaktionskasse reist) findet er dann für sein Debut À bout de souffle (1959) in Georges de Beauregard einen Produzenten, der zum maßgeblichen Produzenten der Nouvelle Vague werden sollte. Allerdings muss ihn Godard (Guillaume Marbeck) aber erst einmal erziehen. Linklater erzählt uns von den filmischen Provokationen, von der minimalistischen Drehweise Godards, er erzählt uns von den technischen Dialogen zwischen Godard und seinem Kameramann Raoul Coutard, einem ehemaligen Reporter des Algerienkriegs, den er engagierte, weil er ohne Studio, ohne künstliches Licht, in der natürlichen Umgebung und mitten in der Stadt Paris ohne Absperrungen drehen wollte. Tatsächlich ein unerhörtes Vorgehen damals. Mit Jean Seberg (Zoey Deutch) kommt die amerikanische Welt von Hollywood in das Nouvelle-Vague-Universum hinein. An ihr hat sich Godard in seinen Filmen gerieben, sie gibt auf vielen Ebenen den Konterpart, Seberg ist große Produktionen gewohnt, hat so auch ein produktionstechnisches Klassenbewusstsein, was sie auf das Godard'sche Handmade Movie herabblicken lässt – um am Ende (natürlich) das Projekt und Jean-Paul Belmondo (Aubry Dullin in seinem Kinodebüt) voll und ganz anzunehmen.
Linklater betreibt höchstens insofern Arbeit an dem Mythos Godard, als er der Amerikanerin das letzte Wort überlässt. Er wird aber auch nicht hagiographisch, Godard ist bei ihm ein arroganter Snob, der mit Zitaten um sich wirft und seine Umgebung immer wieder vor den Kopf stößt, aber eine Vision vom Kino hat. Bis zum Schluss des Films haben wir alle wichtigen Punkte der Entstehungsgeschichte von À bout de souffle durchlaufen.
Warum hat Linklater diesen, zugegeben sehr unterhaltsamen Film gemacht? Vielleicht ist es übertrieben, dies als parasitäres Filmschaffen zu bezeichnen, vielleicht sollte man es lieber etwas abgemildert Secondhand Movie, Upcycling nennen. Sein Film ist ein »Making of Breathless«, das er aber viel generalisierender Nouvelle vague nennt, auch weil viele der maßgeblichen Nouvelle-Vague-Protagonisten auftauchen – mit Namenseinblendung, für die man dankbar ist. Am Schluss gibt es dann noch eine Texttafel, die uns erklärt, was für ein Meisterwerk À bout de souffle wurde.
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Ist das Upcycling, das Genre »Making of große Kunstwerke« jetzt das neue Biopic? Wenn die origniären Stoffe ausgehen, wenn die Kulturwelt und die Welt generell von einer wehmütigen Nostalgie-Welle erfasst wird – weißt du noch damals, als alles begann, wie verrückt alles war? –, bleiben wenigstens die Backstage-Momente (Like A Complete Unknown), »behind the scenes« (The Fog of War) und das Making of (Nouvelle Vague).
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Das kann auch in die völlige Belanglosigkeit führen, was auf Linklaters Filmperfektion sicherlich nicht zutrifft. Ein Beispiel für die Überflüssigkeit dieses womöglich neuen Genres konnte in der Reihe »Un certain regard« bei Stéphane Demoustiers L’Inconnu de la Grande Arche gesehen werden, der die Vorgeschichte des Pariser Monuments Grande Arche erzählt, das 1989 zum zweihundertjährigen Jubiläum der französischen Revolution eröffnet wurde. Entworfen hat ihn the complete unknown architect Johan Otto von Spreckelsen, ein Däne. Das Making of geht hier vom Entwurf über die Materialwahl, über die Auseinandersetzungen des von Spreckelsen (Claes Bang) mit den bürokratischen Vorschriften und dem ausführenden Architekten Paul Andreau (Swann Arlaud), bis zum Tod des Architekten (was hätte Peter Greenaway aus diesem Stoff gemacht…).
Der Film ist durch und durch braves Qualitätskino, und dass sich Xavier Dolan in der Rolle des Bürokraten Subilon hierhin verirrt hat, ist bedenklich. Weder hat der Film eine ästhetische Idee, wie Linklater, noch verfolgt er irgendeinen narrativen Ansatz. Das ist einfach nur brav abgefilmt und könnte viele Filme von der Stange nach sich ziehen – wenn es nicht so stinklangweilig wäre. Als Bildungsbürgertum-Fernsehen aber taugt der Film allemal.
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Noch ein Blick behind the scenes. Im Debussy-Kino, wo die großen Pressevorführungen zu den Filmpremieren stattfinden, wird viel geklatscht. Nach dem Film als Applaus-Barometer dafür, wie die Filme bei der Presse ankommen, vor dem Film rituell. Wenn am Ende des immer gleichen Festivaltrailers, in dem eine Himmelsleiter erklommen wird, das Festival-de-Cannes-Logo erscheint, wird begeistert applaudiert. Und meist ruft nach dem Trailer einer aus dem dunklen Saal: »Raoul!« Nach der Linklater-Vorführung gibt es dafür frenetischen Applaus.