19.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Die Upcycler

Nouvelle Vague
Perfekte Mimikri: Richard Linklaters Nouvelle Vague
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Richard Linklater)

Wenn dem Kino die Stoffe ausgehen, kann man auch erzählen, wie große Kunstwerke entstehen. Richard Linklaters »Nouvelle Vague« im Wettbewerb, Stéphane Demoustiers »L’inconnu de la Grande Arche« in Un certain regard

Von Dunja Bialas

Auf der »Terrasse des Jour­na­listes« steht ein Mann am Geländer und dehnt die Achil­les­ferse. Es ist einer von dem immensen Einlass­per­sonal, das Cannes überall aufge­stellt hat. Bevor man die Terrasse überhaupt betreten kann, muss man fünf Kontrollen über sich ergehen lassen. Badge scannen, Badge zeigen, Tasche aufmachen und reinsehen lassen, Körper scannen – élevez vos bras –, wieder den Badge zeigen. Die Kontrol­leure tragen schwarze Anzüge, Krawatte und eine kleine goldene Palme als Ansteck­nadel, immer wird man von ihnen freund­lich begrüßt, was die Kontrollen erträg­lich macht, man grüßt zurück und rauscht durch.

Es schlägt wirklich aufs Gemüt, sagt der Kontrol­leur, der gerade sein Bein auf der Terrasse gestreckt hat, wenn man so allein hier herum­steht. Hier oben nimmt sich keiner mehr Zeit für einen Gruß, alle wollen nur zu ihren Inter­view­ter­minen oder zum Podcasten, wie zum Beispiel wir zur Aufnahme von »Framing«, dem Podcast von critic.de.

700 Leute beschäf­tigt Cannes während der Festi­val­zeit, es ist eine riesige, perfekt geölte Maschine, ohne Pannen und kaum Verzö­ge­rungen. Die kommen höchstens daher, weil es lange Standing Ovations gibt, oder Thierry Frémaux bei der Begrüßung in Plau­der­laune kommt. Die Wächter am Einlass zum Palais du Festival erzählen gerne kleine Anekdoten.

Überhaupt kann man in der Schlange gut den Gesprächen der anderen lauschen. Hinter mir zwei deutsche Jour­na­listen, die sich noch etwas ratlos über Richard Link­la­ters Nouvelle Vague unter­halten, den sie gerade gesehen haben. »Godard muss doch schon 90 sein!«, sagt der eine. Er hat attes­tierten Suizid begangen, weist ihn der andere dezent auf seine Wissens­lücke hin. »Kann man denn den Film verstehen, wenn man Außer Atem nicht kennt? Wer kennt denn den heute noch?« Ich entferne mich schnell.

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Link­la­ters Film unter­nimmt in Nouvelle Vague, der im Wett­be­werb läuft, ein filmi­sches Mimikri der Sech­zi­ger­jahre-Ästhetik. Zu Beginn zittert der Bildstand, als würde eine 16mm-Kopie vorge­führt, während des Films gibt es Über­blend­zei­chen für den Vorführer. Alles ist die perfekte Illusion einer zum Mythos erhobenen Zeit, des Beginns der Nouvelle Vague, und mehr noch, der Anfänge von JLG als Filme­ma­cher, als ihm eine narziss­ti­sche Kränkung drohte. Seine Kollegen der »Cahiers du Cinéma« hatten alle schon einen Film reali­siert, er selbst konnte nur einen Kurzfilm vorweisen. François Truffaut feierte in Cannes 1959 mit Les quatre cents coups einen Triumph, während Godards Absicht, die Film­sprache zu revo­lu­tio­nieren, noch reine Theorie war. In Cannes (wohin er mit gestoh­lenem Geld aus der Redak­ti­ons­kasse reist) findet er dann für sein Debut À bout de souffle (1959) in Georges de Beau­re­gard einen Produ­zenten, der zum maßgeb­li­chen Produ­zenten der Nouvelle Vague werden sollte. Aller­dings muss ihn Godard (Guillaume Marbeck) aber erst einmal erziehen. Linklater erzählt uns von den filmi­schen Provo­ka­tionen, von der mini­ma­lis­ti­schen Drehweise Godards, er erzählt uns von den tech­ni­schen Dialogen zwischen Godard und seinem Kame­ra­mann Raoul Coutard, einem ehema­ligen Reporter des Alge­ri­en­kriegs, den er enga­gierte, weil er ohne Studio, ohne künst­li­ches Licht, in der natür­li­chen Umgebung und mitten in der Stadt Paris ohne Absper­rungen drehen wollte. Tatsäch­lich ein uner­hörtes Vorgehen damals. Mit Jean Seberg (Zoey Deutch) kommt die ameri­ka­ni­sche Welt von Hollywood in das Nouvelle-Vague-Universum hinein. An ihr hat sich Godard in seinen Filmen gerieben, sie gibt auf vielen Ebenen den Konter­part, Seberg ist große Produk­tionen gewohnt, hat so auch ein produk­ti­ons­tech­ni­sches Klas­sen­be­wusst­sein, was sie auf das Godard'sche Handmade Movie herab­bli­cken lässt – um am Ende (natürlich) das Projekt und Jean-Paul Belmondo (Aubry Dullin in seinem Kinodebüt) voll und ganz anzu­nehmen.

Linklater betreibt höchstens insofern Arbeit an dem Mythos Godard, als er der Ameri­ka­nerin das letzte Wort überlässt. Er wird aber auch nicht hagio­gra­phisch, Godard ist bei ihm ein arro­ganter Snob, der mit Zitaten um sich wirft und seine Umgebung immer wieder vor den Kopf stößt, aber eine Vision vom Kino hat. Bis zum Schluss des Films haben wir alle wichtigen Punkte der Entste­hungs­ge­schichte von À bout de souffle durch­laufen.

Warum hat Linklater diesen, zugegeben sehr unter­halt­samen Film gemacht? Viel­leicht ist es über­trieben, dies als para­si­täres Film­schaffen zu bezeichnen, viel­leicht sollte man es lieber etwas abge­mil­dert Second­hand Movie, Upcycling nennen. Sein Film ist ein »Making of Breathless«, das er aber viel gene­ra­li­sie­render Nouvelle vague nennt, auch weil viele der maßgeb­li­chen Nouvelle-Vague-Prot­ago­nisten auftau­chen – mit Namens­ein­blen­dung, für die man dankbar ist. Am Schluss gibt es dann noch eine Texttafel, die uns erklärt, was für ein Meis­ter­werk À bout de souffle wurde.

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Ist das Upcycling, das Genre »Making of große Kunst­werke« jetzt das neue Biopic? Wenn die orig­niären Stoffe ausgehen, wenn die Kultur­welt und die Welt generell von einer wehmü­tigen Nostalgie-Welle erfasst wird – weißt du noch damals, als alles begann, wie verrückt alles war? –, bleiben wenigs­tens die Backstage-Momente (Like A Complete Unknown), »behind the scenes« (The Fog of War) und das Making of (Nouvelle Vague).

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Das kann auch in die völlige Belang­lo­sig­keit führen, was auf Link­la­ters Film­per­fek­tion sicher­lich nicht zutrifft. Ein Beispiel für die Über­flüs­sig­keit dieses womöglich neuen Genres konnte in der Reihe »Un certain regard« bei Stéphane Demoustiers L’Inconnu de la Grande Arche gesehen werden, der die Vorge­schichte des Pariser Monuments Grande Arche erzählt, das 1989 zum zwei­hun­dert­jäh­rigen Jubiläum der fran­zö­si­schen Revo­lu­tion eröffnet wurde. Entworfen hat ihn the complete unknown architect Johan Otto von Spre­ckelsen, ein Däne. Das Making of geht hier vom Entwurf über die Mate­ri­al­wahl, über die Ausein­an­der­set­zungen des von Spre­ckelsen (Claes Bang) mit den büro­kra­ti­schen Vorschriften und dem ausfüh­renden Archi­tekten Paul Andreau (Swann Arlaud), bis zum Tod des Archi­tekten (was hätte Peter Greenaway aus diesem Stoff gemacht…).

Der Film ist durch und durch braves Quali­täts­kino, und dass sich Xavier Dolan in der Rolle des Büro­kraten Subilon hierhin verirrt hat, ist bedenk­lich. Weder hat der Film eine ästhe­ti­sche Idee, wie Linklater, noch verfolgt er irgend­einen narra­tiven Ansatz. Das ist einfach nur brav abgefilmt und könnte viele Filme von der Stange nach sich ziehen – wenn es nicht so stink­lang­weilig wäre. Als Bildungs­bür­gertum-Fernsehen aber taugt der Film allemal.

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Noch ein Blick behind the scenes. Im Debussy-Kino, wo die großen Pres­se­vor­füh­rungen zu den Film­pre­mieren statt­finden, wird viel geklatscht. Nach dem Film als Applaus-Barometer dafür, wie die Filme bei der Presse ankommen, vor dem Film rituell. Wenn am Ende des immer gleichen Festi­val­trai­lers, in dem eine Himmels­leiter erklommen wird, das Festival-de-Cannes-Logo erscheint, wird begeis­tert applau­diert. Und meist ruft nach dem Trailer einer aus dem dunklen Saal: »Raoul!« Nach der Linklater-Vorfüh­rung gibt es dafür frene­ti­schen Applaus.