Die Modrigen |
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Das Punktum, ein Blondschopf, blickt direkt in die Kamera | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Von Dunja Bialas
Ich nehme diesmal den Flieger nach Cannes. Klingt erstens schicker, als mit dem Nachtzug über Genua zu fahren und dann die Côte Azur an Monaco vorbei entlangzuzuckeln. Obwohl Genua immer einen tollen Kontrast gab: dunkle Gassen, zwielichtige Drogensüchtige, beginnender Overtourism. Die ÖBB, mit deren Nightjet ich immer unter den denkbar größten Umständen nach Cannes tuckelte, hat dieses Jahr den Zug eingestellt. Ob aber Flugzeug oder Nachtzug: Was den Nachtschlaf angeht, nimmt sich das nichts. Abflug in München um 6 Uhr 35, Aufstehen um 3 Uhr 30. Und weil ich am Abend vorher mich unbedingt noch mit Sylvain L’Espérance treffen wollte, der beim DOK.fest München seinen magischen L’archéologie de la lumière vorstellte und deshalb extra aus Québec angereist kam, bin ich erst nach Mitternacht ins Bett gekommen. B. schreibt mir: »Cannes ohne Schlafmangel ist ohnehin undenkbar.«
In Cannes schlafwandlerische Orientierung. Schon um 11 Uhr sitze ich in der Salle Agnès Varda, einem Behelfs- oder Bedarfskino, ein riesiger Kino-Container, dem dicke Schläuche Frischluft einhauchen. Mein erster Film ist der deutsche Wettbewerbsbeitrag, der erste Film seit dem Hype um Toni Erdmann, der es in die Compétition geschafft hat und noch dazu erst der zweite Film von Mascha Schilinksi, die 2017 mit Die Tochter debütierte, in dem sie die systemsprengende Kraft der damals erst neunjährigen Helena Zengel entdeckte.
Mascha Schilinski hatte schon im Dezember die Zusage für den Wettbewerb bekommen, wurde dem Film vorausgeschickt. Ein Beweis für das große Vertrauen in die Qualität des Films. Und dann geht es los, mit dem Film, nach dem man niemals mehr diesen Namen vergessen werden kann: Mascha Schilinski.
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Kellergeruch, Fluss-auf-der-Haut-Geruch, Nagellack. Das sind die olfaktorischen Top 3 von Nelly, die mit ihren Eltern und ihrer Schwester in die Altmark gezogen ist. Dort haben sie einen riesigen, ziemlich heruntergekommenen Gutshof erworben. Ohne es zu wissen, haben sie damit einen Pakt mit der Tiefe der Zeit geschlossen, und den Ereignissen, die sich in einem Jahrhundert dort zugetragen haben. Zumindest ist dies, wovon Mascha Schilinski in In die Sonne schauen erzählt, auf betörend sinnliche Weise, auch sehr komplex, denn sie nimmt nicht den einfachen, chronologischen Weg, nimmt erzählerische Verzweigungen und lässt die Zeitebenen aufeinanderprallen, sich berühren, sich verweben und wieder lösen. In die Sonne schauen, das ist tatsächlich ein flirrender Film, bei dem man sich immer wieder die Augen reiben muss, weil man dieser experimentellen Leichtigkeit, dem brutalen und melancholischen Clash von Momenten eines ganzen Jahrhunderts kaum glauben mag.
Ein alter Gutshof erzählt, könnte man sagen, so wie die Aufsätze in der Schule: Lass mal aus der Sicht der Objekte erzählen. Der ausladende Gutshof in der Altmark ist die Konstante der Erzählung, er ist der Schauplatz für vier Generationen verschiedener Familien, die dort am Vorabend des Ersten Weltkriegs, nach dem Zweiten Weltkrieg, in der DDR der Achtzigerjahre und in der Zeit, als die stadtflüchtigen, landromantischen Berliner sich in den verlassenen Häusern in der Altmark breitmachten, leben. In diesen vier historischen Zeiten wohnen sie in dem großen Gebäude mit Hof und Scheune und begegnen sich doch in einer Art Gleichzeitigkeit. Denn die dunklen Geschehnisse, die sich auf dem Hof zugetragen haben, wirken wie Geistergeschichten nach, die Menschen, die sie erlebten, sind Phantome, die die nächsten heimsuchen. Das teilt sich oft mit einem diffusen Drone-Sound mit oder durch die Mittel der Montage, in der die Zeiten ineinanderfließen. Wiederkehrende Bilder, oft Einzelbilder brechen als Flashes hinein. Baden im trüben Fluss, Tragen von steifen Trauerkleidern, Aale aus dem Fluss in der Wanne in der Küche, ein Aal beißt die Oma in die Hand, die Spiele der Kinder, auf den Bäumen zu Beginn des Jahrhunderts, in der Scheune zu Beginn des neuen Jahrtausends, die Leiter, auf die Fritz hochkletterte, und jetzt Nelly, alles ist da, bleibt, kommt plötzlich aus einer früheren Zeit hinein.
Ein nihilistisches Jahrhundert spannt sich so assoziativ und bildmächtig auf – Schilinski dreht im Academy-Format, ihre Aufnahmen tragen starke Kontraste, oft sieht man viel Filmkorn, gewollte, flirrende Unschärfe der Bilder in entrückten Momenten. Eine Patina legt sich über den ganzen Film, gefilmt wurde mit einem Filter, der nötig wird, wenn man in die Sonne schaut.
Erzählt wird aus der Perspektive der Kinder, der Mädchen, der heranwachsenden Frauen. Die erste Generation lebt um 1910 auf dem Gutshof, wir sehen das Gesinde beim Schuften, die Gutsherren vergreifen sich an den sterilisierten Mägden, damit es keine Bastarde gibt. Die kleine Alma erzählt aus dem Off, was sie erlebt. Die kleine Hanna Heckt spielt sie, auch sie wieder eine Neunjährige mit strohblondem Haar, allein ihr leuchtender Schopf ist das Punktum, das in den dunklen Gemäuern heraussticht.
Ihr Ernst ist überwältigend. Es ist ausgeschlossen, dass die kleine Alma mit ihrem Interesse an einer Daguerreotypie, die sie im Salon findet, Roland Barthes’ »Die helle Kammer« nicht gelesen hat, oder dass sie Antonionis Blow Up nicht kennt. Immer und immer wieder kehrt sie zu der eigenartigen Ablichtung zurück, auf der ein Mädchen zu sehen ist, das ihr ähnlich sieht, das nicht sie ist, aber so heißt wie sie. Und im Hintergrund eine verwaschene Gestalt, die sich bewegt hat, gerade aus dem Bild fliehen will, wie dies in den Achtzigerjahren Angelika (Lena Urzendowsky) machen wird, eine Jugendliche, als der Gutshof in der DDR liegt. Noch so eine suggestive, Äquivalenzen und Unheimlichkeiten schaffende Montage-Bravour von Schilinski.
Die Daguerreotypie folgt dem Brauch der Totenbilder, nimmt also buchstäblich, was Barthes über die Fotografie gesagt hat: Dass man beim Betrachten immer ein Stück seiner eigenen Vergänglichkeit gewärtigt, dass man dem Tod bei der Arbeit zusieht. Als die Magd Lia stirbt, erlebt man, wie sie für das letzte Bild hergerichtet wird: Ihre Augenlider werden hochgeklappt und festgenäht, es soll aussehen, als könnte sie noch blicken, sie wird aufs Kanapee platziert, die Gutsherrenfamilie setzt sich vorsichtig um die Tote herum. Eine Erstarrung des Lebens in der Fotografie – und im Tod.
Die Aufnahme ist so etwas wie das Zentrum des Films, falls es bei diesem Film voller Deleuze’scher Flucht- und Verbindungslinien so eines überhaupt gibt, immer wieder kehrt Schilinski zu ihr und zur hellblonden Alma zurück, die mit ihrem Blick auch die Leinwand durchbricht. Es ist, als würde sie mehr wissen als der Film, als die Zuschauer, als sei ein anderer Blick auf sie gerichtet, der Blick des Kameramanns Fabian Gamper womöglich, der auch Sandra Wollners thematisch und ästhetisch verwandten The Trouble with Being Born fotografiert hat, was aber profan wäre. Oder der Blick einer Heimsuchung, was in der performten Magie des Films wahrscheinlicher ist.
Der Tod ist in diesem Film immer schon da, alle Generationen tragen die Sehnsucht zum Tode in sich, und auch der internationale Verleihtitel Sound of Falling spielt auf eine der vielen Todesarten ab. Die Kinder spielen ihn, buchstäblich (sie spielen »Krieg« oder »den Letzten holt der Sensenmann«) oder auch mit ihm (eine Zigarette in der Scheune), sie gehen in den Fluss, zum Schwimmen, tauchen unter und nicht mehr auf – und dann doch – oder gehen tatsächlich ins modrige Wasser. Schilinskis Film hieß im Arbeitstitel The Doctor Says I’ll Be Alright, But I’m Feelin Blue, er ist melancholisch und wirkt sogar ein wenig depressiv, wirft einen düsteren Blick auf die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern, wenn er Sex nur mit Gewalt denken kann, als Übergriff oder gnadenloses Spiel. Blümchen gibt es in dieser rauen, hoffnungslosen Bauernlandschaft nicht, egal welcher Generation die Menschen entstammen. Nur blutende Füße, die sich an den harten Stacheln des Strohs und der Zeitgeschichte wundgelaufen haben.
Ein großartiger Auftakt. Flirrend, betörend, schwer zu fassen. Ein Film zum Nochmalsehen, Nochmalentdecken.