16.05.2025

Die Modrigen

In die Sonne schauen
Das Punktum, ein Blondschopf, blickt direkt in die Kamera
(Foto: Neue Visionen)

Mascha Schilinksis »In die Sonne schauen« ist der erste deutsche Film im Wettbewerb von Cannes seit »Toni Erdmann«. Er zeichnet ein nihilistisches Jahrhundert deutscher Geschichte nach – und ist ein ergreifend ästhetisches und sinnliches Werk

Von Dunja Bialas

Ich nehme diesmal den Flieger nach Cannes. Klingt erstens schicker, als mit dem Nachtzug über Genua zu fahren und dann die Côte Azur an Monaco vorbei entlang­zu­zu­ckeln. Obwohl Genua immer einen tollen Kontrast gab: dunkle Gassen, zwie­lich­tige Drogen­süch­tige, begin­nender Over­tou­rism. Die ÖBB, mit deren Nightjet ich immer unter den denkbar größten Umständen nach Cannes tuckelte, hat dieses Jahr den Zug einge­stellt. Ob aber Flugzeug oder Nachtzug: Was den Nacht­schlaf angeht, nimmt sich das nichts. Abflug in München um 6 Uhr 35, Aufstehen um 3 Uhr 30. Und weil ich am Abend vorher mich unbedingt noch mit Sylvain L’Espérance treffen wollte, der beim DOK.fest München seinen magischen L’archéo­logie de la lumière vorstellte und deshalb extra aus Québec angereist kam, bin ich erst nach Mitter­nacht ins Bett gekommen. B. schreibt mir: »Cannes ohne Schlaf­mangel ist ohnehin undenkbar.«

In Cannes schlaf­wand­le­ri­sche Orien­tie­rung. Schon um 11 Uhr sitze ich in der Salle Agnès Varda, einem Behelfs- oder Bedarfs­kino, ein riesiger Kino-Container, dem dicke Schläuche Frisch­luft einhau­chen. Mein erster Film ist der deutsche Wett­be­werbs­bei­trag, der erste Film seit dem Hype um Toni Erdmann, der es in die Compé­ti­tion geschafft hat und noch dazu erst der zweite Film von Mascha Schi­linksi, die 2017 mit Die Tochter debü­tierte, in dem sie die system­spren­gende Kraft der damals erst neun­jäh­rigen Helena Zengel entdeckte.

Mascha Schi­linski hatte schon im Dezember die Zusage für den Wett­be­werb bekommen, wurde dem Film voraus­ge­schickt. Ein Beweis für das große Vertrauen in die Qualität des Films. Und dann geht es los, mit dem Film, nach dem man niemals mehr diesen Namen vergessen werden kann: Mascha Schi­linski.

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Keller­ge­ruch, Fluss-auf-der-Haut-Geruch, Nagellack. Das sind die olfak­to­ri­schen Top 3 von Nelly, die mit ihren Eltern und ihrer Schwester in die Altmark gezogen ist. Dort haben sie einen riesigen, ziemlich herun­ter­ge­kom­menen Gutshof erworben. Ohne es zu wissen, haben sie damit einen Pakt mit der Tiefe der Zeit geschlossen, und den Ereig­nissen, die sich in einem Jahr­hun­dert dort zuge­tragen haben. Zumindest ist dies, wovon Mascha Schi­linski in In die Sonne schauen erzählt, auf betörend sinnliche Weise, auch sehr komplex, denn sie nimmt nicht den einfachen, chro­no­lo­gi­schen Weg, nimmt erzäh­le­ri­sche Verzwei­gungen und lässt die Zeit­ebenen aufein­an­der­prallen, sich berühren, sich verweben und wieder lösen. In die Sonne schauen, das ist tatsäch­lich ein flir­render Film, bei dem man sich immer wieder die Augen reiben muss, weil man dieser expe­ri­men­tellen Leich­tig­keit, dem brutalen und melan­cho­li­schen Clash von Momenten eines ganzen Jahr­hun­derts kaum glauben mag.

Ein alter Gutshof erzählt, könnte man sagen, so wie die Aufsätze in der Schule: Lass mal aus der Sicht der Objekte erzählen. Der ausla­dende Gutshof in der Altmark ist die Konstante der Erzählung, er ist der Schau­platz für vier Gene­ra­tionen verschie­dener Familien, die dort am Vorabend des Ersten Welt­kriegs, nach dem Zweiten Weltkrieg, in der DDR der Acht­zi­ger­jahre und in der Zeit, als die stadt­flüch­tigen, landro­man­ti­schen Berliner sich in den verlas­senen Häusern in der Altmark breit­machten, leben. In diesen vier histo­ri­schen Zeiten wohnen sie in dem großen Gebäude mit Hof und Scheune und begegnen sich doch in einer Art Gleich­zei­tig­keit. Denn die dunklen Gescheh­nisse, die sich auf dem Hof zuge­tragen haben, wirken wie Geis­ter­ge­schichten nach, die Menschen, die sie erlebten, sind Phantome, die die nächsten heim­su­chen. Das teilt sich oft mit einem diffusen Drone-Sound mit oder durch die Mittel der Montage, in der die Zeiten inein­an­der­fließen. Wieder­keh­rende Bilder, oft Einzel­bilder brechen als Flashes hinein. Baden im trüben Fluss, Tragen von steifen Trau­er­klei­dern, Aale aus dem Fluss in der Wanne in der Küche, ein Aal beißt die Oma in die Hand, die Spiele der Kinder, auf den Bäumen zu Beginn des Jahr­hun­derts, in der Scheune zu Beginn des neuen Jahr­tau­sends, die Leiter, auf die Fritz hoch­klet­terte, und jetzt Nelly, alles ist da, bleibt, kommt plötzlich aus einer früheren Zeit hinein.

Ein nihi­lis­ti­sches Jahr­hun­dert spannt sich so asso­ziativ und bild­mächtig auf – Schi­linski dreht im Academy-Format, ihre Aufnahmen tragen starke Kontraste, oft sieht man viel Filmkorn, gewollte, flirrende Unschärfe der Bilder in entrückten Momenten. Eine Patina legt sich über den ganzen Film, gefilmt wurde mit einem Filter, der nötig wird, wenn man in die Sonne schaut.

Erzählt wird aus der Perspek­tive der Kinder, der Mädchen, der heran­wach­senden Frauen. Die erste Gene­ra­tion lebt um 1910 auf dem Gutshof, wir sehen das Gesinde beim Schuften, die Guts­herren vergreifen sich an den steri­li­sierten Mägden, damit es keine Bastarde gibt. Die kleine Alma erzählt aus dem Off, was sie erlebt. Die kleine Hanna Heckt spielt sie, auch sie wieder eine Neun­jäh­rige mit stroh­blondem Haar, allein ihr leuch­tender Schopf ist das Punktum, das in den dunklen Gemäuern heraus­sticht.

Ihr Ernst ist über­wäl­ti­gend. Es ist ausge­schlossen, dass die kleine Alma mit ihrem Interesse an einer Daguer­reo­typie, die sie im Salon findet, Roland Barthes’ »Die helle Kammer« nicht gelesen hat, oder dass sie Anto­nionis Blow Up nicht kennt. Immer und immer wieder kehrt sie zu der eigen­ar­tigen Ablich­tung zurück, auf der ein Mädchen zu sehen ist, das ihr ähnlich sieht, das nicht sie ist, aber so heißt wie sie. Und im Hinter­grund eine verwa­schene Gestalt, die sich bewegt hat, gerade aus dem Bild fliehen will, wie dies in den Acht­zi­ger­jahren Angelika (Lena Urzen­dowsky) machen wird, eine Jugend­liche, als der Gutshof in der DDR liegt. Noch so eine sugges­tive, Äqui­va­lenzen und Unheim­lich­keiten schaf­fende Montage-Bravour von Schi­linski.

Die Daguer­reo­typie folgt dem Brauch der Toten­bilder, nimmt also buchs­täb­lich, was Barthes über die Foto­grafie gesagt hat: Dass man beim Betrachten immer ein Stück seiner eigenen Vergäng­lich­keit gewärtigt, dass man dem Tod bei der Arbeit zusieht. Als die Magd Lia stirbt, erlebt man, wie sie für das letzte Bild herge­richtet wird: Ihre Augen­lider werden hoch­ge­klappt und fest­genäht, es soll aussehen, als könnte sie noch blicken, sie wird aufs Kanapee platziert, die Guts­her­ren­fa­milie setzt sich vorsichtig um die Tote herum. Eine Erstar­rung des Lebens in der Foto­grafie – und im Tod.

Die Aufnahme ist so etwas wie das Zentrum des Films, falls es bei diesem Film voller Deleuze’scher Flucht- und Verbin­dungs­li­nien so eines überhaupt gibt, immer wieder kehrt Schi­linski zu ihr und zur hell­blonden Alma zurück, die mit ihrem Blick auch die Leinwand durch­bricht. Es ist, als würde sie mehr wissen als der Film, als die Zuschauer, als sei ein anderer Blick auf sie gerichtet, der Blick des Kame­ra­manns Fabian Gamper womöglich, der auch Sandra Wollners thema­tisch und ästhe­tisch verwandten The Trouble with Being Born foto­gra­fiert hat, was aber profan wäre. Oder der Blick einer Heim­su­chung, was in der performten Magie des Films wahr­schein­li­cher ist.

Der Tod ist in diesem Film immer schon da, alle Gene­ra­tionen tragen die Sehnsucht zum Tode in sich, und auch der inter­na­tio­nale Verleih­titel Sound of Falling spielt auf eine der vielen Todes­arten ab. Die Kinder spielen ihn, buchs­täb­lich (sie spielen »Krieg« oder »den Letzten holt der Sensen­mann«) oder auch mit ihm (eine Zigarette in der Scheune), sie gehen in den Fluss, zum Schwimmen, tauchen unter und nicht mehr auf – und dann doch – oder gehen tatsäch­lich ins modrige Wasser. Schi­lin­skis Film hieß im Arbeits­titel The Doctor Says I’ll Be Alright, But I’m Feelin Blue, er ist melan­cho­lisch und wirkt sogar ein wenig depressiv, wirft einen düsteren Blick auf die Verhält­nisse zwischen den Geschlech­tern, wenn er Sex nur mit Gewalt denken kann, als Übergriff oder gnaden­loses Spiel. Blümchen gibt es in dieser rauen, hoff­nungs­losen Bauern­land­schaft nicht, egal welcher Gene­ra­tion die Menschen entstammen. Nur blutende Füße, die sich an den harten Stacheln des Strohs und der Zeit­ge­schichte wund­ge­laufen haben.

Ein groß­ar­tiger Auftakt. Flirrend, betörend, schwer zu fassen. Ein Film zum Noch­mal­sehen, Noch­malent­de­cken.