Die Verlorenen |
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Die Freaks und Sergi López | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Oliver Laxe) |
Von Dunja Bialas
Arbeiten mit den Füßen im Sand. Im Rücken des »Village du Festival« direkt an der Rivière, wo die Weltvertriebe ihre Stände aufgebaut haben, finden sich ein paar niederschwellige Sitzmöglichkeiten, da hat man das Meer vor Augen, wo die Yachten liegen. Vielleicht sollte ich in dieser anstrengenden Haltung und an diesem Ort über Sirât schreiben, eine Mad Max-Version im Wettbewerb von Cannes, von Oliver Laxe. Den Reichtum vor Augen, in einer gebückten Haltung.
»Sirât« bedeutet im Arabischen so viel wie »Brücke, dünn wie ein Haar und scharf wie ein Messer«. Diesen schmalen Grat nehmen die Protagonisten des Roadmovies, eine Gruppe von Rowdys mit schweren Trucks, denen sich ein Vater mit Sohn im silberfarbenen Mittelklasse-Van angeschlossen hat, um vor einem Bürgerkrieg zu fliehen. Sie gelangen dabei immer tiefer in die nordafrikanische Wüste.
Zunächst aber tauchen wir ein in eine Aussteigercommunity, die in der Wüste einen Rave wie einen Priesterdienst abhält. Mit den Vorbereitungen fängt der Film an. Im großen Close-up schieben sich dicke Stecker in die Verstärker, plug, plug, bevor die Schalter umgelegt werden, und es losgeht, wumm, wumm, wumm, selbst im Palais du Festival dröhnt es. Dann zuckende Körper, es wird barfuß im Sand getanzt, bald sind alle bedeckt von dem gelben Staub, wumm, wumm, wumm. Man muss an die Trypps denken des Amerikaners Ben Russell, der die Tanzenden als rituelles Rudel begreifbar machte, als eine Zusammenkunft im Dienste des heidnischen Gottes Elektronische Musik. Laxe’ Rave geht die ganze Nacht und einen Tag lang, geschlafen wird bei den wummernden Bässen, wo auch immer man einen Platz gefunden hat.
Ein zugleich großartiger wie kleiner, fast dokumentarischer Auftakt, der Sirât von Beginn an in seiner Narrativität von den anderen Arthouse-Titeln im Wettbewerb unterscheidet. Diesen betritt Oliver Laxe als kein Unbekannter. 2016 begann er in der Semaine de la Critique mit Mimósas, der viel von Sirât vorwegnimmt – eine Wüstenlandschaft, die Durchquerung von unwegsamem Gelände im Maultier-Tross. Dann kam O que arde (Fire Will Come) in der Cannes-Sektion »Un certain regard«, wo die grüne Landschaft Galiciens Feuer fängt. Meine erste Begegnung mit Oliver Laxe geschah, als ihn Ben Rivers (der andere Ben…) besetzte, für seinen Film mit dem überlangen Titel The Sky Trembles and the Earth is Afraid and the Two Eyes are not Brothers. Laxe spielte darin einen rituellen Schamanen, der sich in der marokkanischen Wüste auf einen halluzinogenen Trip begibt, das ist seitdem das Bild, das ihn begleitet; mit dem Argentinier Santiago Fillol, seinem Drehbuchautor, hat er sich die narrativen Suggestionen des Dokumentarischen erhalten.
Er hat die Rowdys respektive Raver mit Laien besetzt, wie der Film selbst viel existentielles Sein erzählt und wenig vom Schein: Da sind Steff (Stefania Gadda), Josh mit einem Holzbein (Joshua Liam Herderson), Bigui mit Armstumpf (Richard Bellamy), Jade mit Gesichtstattoo (Jade Oukid). Sie sind die Freaks der Schaustellerei, Josh trägt einmal ein T-Shirt mit dem Titel von Tod Browning. Und dann kommt doch noch eine Spielfilmhandlung hinein, in Gestalt von Sergi López, der allein durch seinen gut genährten Mittelklasse-Körper, der in einem Jeanshemd steckt, für viel Erheiterung sorgt, als er das Szenario der ausgemergelten Hippies und trancenden Ausgeflippten betritt. Er ist Luis, der mit seinem achtjährigen Sohn Esteban nach der halbwüchsigen Tochter sucht, wie ein Familienvater, der sein Kind aus einer Sekte herausholen will – auch er wird vom Zugriff des tragisch Kontingenten nicht verschont bleiben.
Laxe baut weitere Assoziationsbrücken. Die gigantische Lautsprecherwand, die sich in der Wüste vor den zuckenden Körper der Raver aufbaut, lässt auch an Chantal Akermans Leinwand-Installation »Une voix dans le désert« denken. Wenn die Trucks im Eiltempo im Konvoi die Ebene durchqueren, Sand und Staub aufwirbeln, denkt man natürlich an George Millers Mad Max mit seinen furiosen Wüstendurchquerungen. Und schließlich an Henri-Georges Clouzots Le salaire de la peur (Lohn der Angst), wenn es mit großer Vorsicht und Fahrpräzision die Serpentinen entlanggeht, sich der Abgrund unter den Rädern auftut, die Steine vom Weg losgeschlagen werden. Und sogar an Kelly Reichardts Meek’s Cutoff. Denn die Abzweigung, die der Konvoi nimmt, ist ein Irrweg, ein way of no return. Unerbittlich geht es ins Nirwana der gewaltvollen Existenz.
Die Realität kann nur über das Imaginäre, über die Assoziationsbrücken verlassen werden, bisweilen auch in der Radikalität der Ereignisse, angesichts derer man sich kurz Luft verschafft, wenn man verblüfft auflacht. Aber immer nur in Momenten, die Figuren werden unerbittlich von den existentiellen Fängen der kriegsgeplagten Gegenwart eingeholt. Laxe’ Sirât hält eine bittere Moral über die dystopische Existenz bereit, die die Menschen an den archaischen Abgrund ihrer Seele bringt. Am Schluss des Films rast ein übervoller Güterzug mit nordafrikanischen Flüchtlingen durch die leergefegte Wüstenlandschaft, darunter die Rowdys und Sergi López. Sie sind die einzigen Weißen, die die Gewalt und die Folgen des Bürgerkriegs erlitten haben.
Ein humanistischer Appell für Empathie, letztlich.