18.05.2025

Die Verlorenen

Sirât
Die Freaks und Sergi López
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Oliver Laxe)

Oliver Laxe’ »Sirât« im Wettbewerb von Cannes ist eine explosive Dystopie von einer Welt im Kriegszustand

Von Dunja Bialas

Arbeiten mit den Füßen im Sand. Im Rücken des »Village du Festival« direkt an der Rivière, wo die Welt­ver­triebe ihre Stände aufgebaut haben, finden sich ein paar nieder­schwel­lige Sitz­mög­lich­keiten, da hat man das Meer vor Augen, wo die Yachten liegen. Viel­leicht sollte ich in dieser anstren­genden Haltung und an diesem Ort über Sirât schreiben, eine Mad Max-Version im Wett­be­werb von Cannes, von Oliver Laxe. Den Reichtum vor Augen, in einer gebückten Haltung.

»Sirât« bedeutet im Arabi­schen so viel wie »Brücke, dünn wie ein Haar und scharf wie ein Messer«. Diesen schmalen Grat nehmen die Prot­ago­nisten des Road­mo­vies, eine Gruppe von Rowdys mit schweren Trucks, denen sich ein Vater mit Sohn im silber­far­benen Mittel­klasse-Van ange­schlossen hat, um vor einem Bürger­krieg zu fliehen. Sie gelangen dabei immer tiefer in die nord­afri­ka­ni­sche Wüste.

Zunächst aber tauchen wir ein in eine Ausstei­ger­com­mu­nity, die in der Wüste einen Rave wie einen Pries­ter­dienst abhält. Mit den Vorbe­rei­tungen fängt der Film an. Im großen Close-up schieben sich dicke Stecker in die Vers­tärker, plug, plug, bevor die Schalter umgelegt werden, und es losgeht, wumm, wumm, wumm, selbst im Palais du Festival dröhnt es. Dann zuckende Körper, es wird barfuß im Sand getanzt, bald sind alle bedeckt von dem gelben Staub, wumm, wumm, wumm. Man muss an die Trypps denken des Ameri­ka­ners Ben Russell, der die Tanzenden als rituelles Rudel begreifbar machte, als eine Zusam­men­kunft im Dienste des heid­ni­schen Gottes Elek­tro­ni­sche Musik. Laxe’ Rave geht die ganze Nacht und einen Tag lang, geschlafen wird bei den wummernden Bässen, wo auch immer man einen Platz gefunden hat.

Ein zugleich groß­ar­tiger wie kleiner, fast doku­men­ta­ri­scher Auftakt, der Sirât von Beginn an in seiner Narra­ti­vität von den anderen Arthouse-Titeln im Wett­be­werb unter­scheidet. Diesen betritt Oliver Laxe als kein Unbe­kannter. 2016 begann er in der Semaine de la Critique mit Mimósas, der viel von Sirât vorweg­nimmt – eine Wüsten­land­schaft, die Durch­que­rung von unweg­samem Gelände im Maultier-Tross. Dann kam O que arde (Fire Will Come) in der Cannes-Sektion »Un certain regard«, wo die grüne Land­schaft Galiciens Feuer fängt. Meine erste Begegnung mit Oliver Laxe geschah, als ihn Ben Rivers (der andere Ben…) besetzte, für seinen Film mit dem über­langen Titel The Sky Trembles and the Earth is Afraid and the Two Eyes are not Brothers. Laxe spielte darin einen rituellen Schamanen, der sich in der marok­ka­ni­schen Wüste auf einen hallu­zi­no­genen Trip begibt, das ist seitdem das Bild, das ihn begleitet; mit dem Argen­ti­nier Santiago Fillol, seinem Dreh­buch­autor, hat er sich die narra­tiven Sugges­tionen des Doku­men­ta­ri­schen erhalten.

Er hat die Rowdys respek­tive Raver mit Laien besetzt, wie der Film selbst viel exis­ten­ti­elles Sein erzählt und wenig vom Schein: Da sind Steff (Stefania Gadda), Josh mit einem Holzbein (Joshua Liam Herderson), Bigui mit Armstumpf (Richard Bellamy), Jade mit Gesicht­stattoo (Jade Oukid). Sie sind die Freaks der Schau­stel­lerei, Josh trägt einmal ein T-Shirt mit dem Titel von Tod Browning. Und dann kommt doch noch eine Spiel­film­hand­lung hinein, in Gestalt von Sergi López, der allein durch seinen gut genährten Mittel­klasse-Körper, der in einem Jeanshemd steckt, für viel Erhei­te­rung sorgt, als er das Szenario der ausge­mer­gelten Hippies und tran­cenden Ausge­flippten betritt. Er ist Luis, der mit seinem acht­jäh­rigen Sohn Esteban nach der halb­wüch­sigen Tochter sucht, wie ein Fami­li­en­vater, der sein Kind aus einer Sekte heraus­holen will – auch er wird vom Zugriff des tragisch Kontin­genten nicht verschont bleiben.

Laxe baut weitere Asso­zia­ti­ons­brü­cken. Die gigan­ti­sche Laut­spre­cher­wand, die sich in der Wüste vor den zuckenden Körper der Raver aufbaut, lässt auch an Chantal Akermans Leinwand-Instal­la­tion »Une voix dans le désert« denken. Wenn die Trucks im Eiltempo im Konvoi die Ebene durch­queren, Sand und Staub aufwir­beln, denkt man natürlich an George Millers Mad Max mit seinen furiosen Wüsten­durch­que­rungen. Und schließ­lich an Henri-Georges Clouzots Le salaire de la peur (Lohn der Angst), wenn es mit großer Vorsicht und Fahr­prä­zi­sion die Serpen­tinen entlang­geht, sich der Abgrund unter den Rädern auftut, die Steine vom Weg losge­schlagen werden. Und sogar an Kelly Reichardts Meek’s Cutoff. Denn die Abzwei­gung, die der Konvoi nimmt, ist ein Irrweg, ein way of no return. Uner­bitt­lich geht es ins Nirwana der gewalt­vollen Existenz.

Die Realität kann nur über das Imaginäre, über die Asso­zia­ti­ons­brü­cken verlassen werden, bisweilen auch in der Radi­ka­lität der Ereig­nisse, ange­sichts derer man sich kurz Luft verschafft, wenn man verblüfft auflacht. Aber immer nur in Momenten, die Figuren werden uner­bitt­lich von den exis­ten­ti­ellen Fängen der kriegs­ge­plagten Gegenwart eingeholt. Laxe’ Sirât hält eine bittere Moral über die dysto­pi­sche Existenz bereit, die die Menschen an den archai­schen Abgrund ihrer Seele bringt. Am Schluss des Films rast ein über­voller Güterzug mit nord­afri­ka­ni­schen Flücht­lingen durch die leer­ge­fegte Wüsten­land­schaft, darunter die Rowdys und Sergi López. Sie sind die einzigen Weißen, die die Gewalt und die Folgen des Bürger­kriegs erlitten haben.

Ein huma­nis­ti­scher Appell für Empathie, letztlich.