19.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Robert de Niro is waiting...

Ari Aster Eddington
Vermischt zu viele Themen: Ari Asters Eddington
(Foto: A24 Film)

Reduktion von Komplexität: Kritikerspiegel und Stars sind Mittel und nicht Zwecke; außerdem ein erster Eindruck von Eddington – Cannes-Tagebuch, 02. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Are you talking to me?«
– Travis Bickle in »Taxi Driver«

»People are starin' and followin' me
This is my only escape from it all
Watchin′ a film or a face on the wall«

– Bana­n­a­rama, Robert de Niro is waiting

Wie in jedem Jahr gibt es auch 2025 ganz viele Kriti­ker­spiegel, wo wir unsere klarer­weise hoch­dif­fe­ren­zierten Einschät­zungen eines Films ganz unbillig verein­fa­chen, verein­deu­tigen und auf Sternchen und Zahlen und Kreuze und Schlag­worte wie »stark«, »zwie­spältig« und »lauwarm« redu­zieren. Dabei könnte man allein darüber, was »zwie­spältig« überhaupt heißt, ob das etwas Gutes oder Schlechtes ist und ob nicht jeder Film am Ende ein »zwie­spältig« verdient, eine ganze Tage­buch­folge schreiben. Ab und zu werde ich hier noch erzählen, was für Sterne so im legen­dären »Jury Grid« von Screen­daily vergeben werden, der vor allem für die angelsäch­si­sche Welt eine Art heiliger Stuhl ist – auch weil die meisten Teil­nehmer etwa so alt wie der Papst sind. Oder wir schauen, wie die fran­zö­si­schen Kritiker auf »Le Film francais« die Filme in Wett­be­werb und Nebensek­tionen einschätzen.

Auf zwei Kritiker-Spiegel möchte ich aber jetzt gesondert hinweisen, weil ich selber dort mitmache. Im einen Fall auch gemeinsam mit der artechock-Kollegin Dunja Bialas bei den geschätzten Konkur­renten von critic.de. Hier kann man die Wertungen von uns und anderen in einem relativ groben Raster nach­schauen. Etwas fein­get­unter, nämlich von 0 bis 5 inklusive Zwischen­noten, ist das Raster bei der versam­melten Luxem­burger Film­kritik, die mich dankens­wer­ter­weise in diesem Jahr einge­laden hat, bei ihrem Kriti­ker­spiegel mitzu­ma­chen, der den schönen Namen trägt »Le Mur des Étoiles«. Man kann ihn unter dieser Facebook-Adresse nach­schauen.

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Versuchen wir mal über Stars zu reden. Angeblich kommt das Kino ja ohne sie gar nicht aus. Für manche sind sie »das Herz des Kinos« und in jedem Fall gibt es ziemlich viele, mitunter auch ernst­zu­neh­mende Kollegen aus der Film­kritik, die sich vor allem als Star-Reporter verstehen. Sie melden dann aus Cannes komische Dinge wie, »die Star­dichte« sei in diesem Jahr besonders groß, oder »die Stars stehen Schlange« (was sie, wenn sie wirkliche Stars sind, nie tun), und glauben, es sei lobens­wert, dass das Festival es angeblich geschafft hat, »in diesem Jahr« »ganz besonders viele Stars« nach Cannes zu holen. Die gemeinten Stars sind meistens die Ameri­kaner, aber das ist nur das erste Problem. Denn tatsäch­lich liegt solchen Kommen­taren eine totale Fehlein­schät­zung zugrunde; die leider durch ihre Wieder­ho­lung auch noch in den Köpfen des Publikums einge­pflanzt wird.

Stars sind Mittel und nicht Zwecke; sie sind die Instru­mente und nicht die Partitur; sie sind nicht der Inhalt, sondern sie sind leere Hüllen. Nur wenn sie sehr gute Schau­spieler sind, dann sind sie nicht ganz so leere Hüllen, dann geben sie dem, was sie spielen und verkör­pern sollen, tatsäch­lich etwas hinzu.

Stars sind genau dafür da, dass die breite Masse auf sie herein­fällt, sie sind dazu da, dass man in Boule­vard­me­dien und zunehmend auch in den boule­var­di­sierten Quali­täts­me­dien vermeiden kann, über Filme, das heißt über eine filmische Form, über den Stil und über die Geschichten, über die Inhalte zu reden.
Trotzdem ist das doch irgendwie alles in Ordnung so; es gibt keinen Grund, darüber zu lästern. Reduktion von Komple­xität ist die Aufgabe. Es ist sogar die Aufgabe der Film­kritik. Denn auch wir brechen natürlich sehr kompli­zierte Sachen runter.

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Einer der größten aller Stars war hier. Und auch wenn die Cannes-Master­class mit Robert de Niro nicht halb so gut war, wie man sie sich zuvor vorge­stellt hatte, weil es hier gar nicht um das Lebens­werk von de Niro ging und kaum um seine Schau­spiel­kunst, und weil natürlich bei solchen Ereig­nissen Geheim­nisse am Ende sowieso wider alle Hoff­nungen nicht enthüllt werden, so können wir jetzt doch sagen: Wir sind einmal mit Robert de Niro im gleichen Raum gewesen.

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Die Kleidung einer Figur auch im Alltag zu tragen, würde helfen, meinte er immerhin, nach Tips gefragt. Und: Ein anderer Gang wirke oft Wunder. Das Problem nur: Auch wenn wir alle diese Tips beher­zigen, werden wir damit kein bisschen mehr de Niro. Darum nehmen wir seinen dritten Ratschlag: »Was immer Sie sich an typischen Hand­lungs­weisen für eine Rolle ange­wöhnen, Sie müssen es sofort wieder vergessen. Sonst wird es zu offen­sicht­lich. Lernen Sie, um zu vergessen.«

Das tun wir, Robert!

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Robert De Niro hat die Kunst des Agierens vor der Kamera neu definiert. Er reprä­sen­tiert weit mehr als Robert Redford oder Al Pacino die Revo­lu­tion, die mit der künst­le­ri­schen Explosion des »New Hollywood Cinema« Anfang der 1970er-Jahre einher­ging. Erfin­dungs­gabe und Impro­vi­sa­tion sind seine Geheim­nisse. »Man muss ihn nur machen lassen, er wird einen immer über­ra­schen«, sagte einmal Martin Scorsese. Mit Scorseses frühem Mafiafilm Hexen­kessel begann eine ikonische Zusam­men­ar­beit. Sogar sein Hang zur Selbst­par­odie machte seine Psycho­gramme seelisch entgleister, verrückter, neuro­ti­scher, einsamer Männer noch glaub­wür­diger. Robert De Niro ist ein Mann mit vielen Gesich­tern, voller Ambi­va­lenz, mit einem schiefen Grinsen als Marken­zei­chen.

Alles in allem ist kaum ein Kollege ein Darsteller so moderner Männer und so univer­saler Männ­lich­keit wie er.

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Das erste Wochen­ende gehört tradi­ti­ons­gemäß bei den Film­fest­spielen in Cannes den Ameri­ka­nern. Wes Anderson, Richard Linklater, dazu kommen wir noch. Kristen Stewart hat einen eigenen Film gemacht. Der inter­es­san­teste Film über Amerika war aber Eddington vom bisher als Horror­re­gis­seur bekannten Ari Aster (Midsommar).

Eddington ist ein bisschen albern, und ein bisschen zynisch, aber beides auf hohem Niveau, und manchmal besser, weil weniger selbst­ge­fällig als die Coen-Brüder. Und weil der Humor hier noch schwärzer ist, oft genug dann aber doch auch ein bisschen flacher. Es handelt sich jeden­falls um einen Film mit unan­ge­nehmem, schwer greif­barem Humor, der sich keinem seiner Charak­tere oder Themen volls­tändig verschreibt.

Das Ganze spielt im Jahr 2020 irgendwo in New Mexico. Es beginnt mit einem Obdach­losen, der die Welt verflucht; ein Vogel fällt vom Himmel und irgend­eine offen­sicht­lich ziemlich böse Fabrik wird hier in diesem gott­ver­las­senen Nest mitten in der Wüste gebaut. Es gibt Proteste dagegen. Gleich­zeitig regiert die Corona-Pandemie die Nach­richten und das Leben.
Zwei Poli­zei­be­zirke streiten sich über Masken­re­geln, lauter Leute wollen Ämter. Als erzäh­le­ri­sches Gerüst im Zentrum dient der Konflikt zwischen dem örtlichen Sheriff (eine schöne Perfor­mance von Joaquin Phoenix, der Übergänge zwischen Tonlagen meis­ter­haft beherrscht) und dem Bürger­meister (Pedro Pascal), der sich jedoch immer wieder verliert, um die zuvor genannten thema­ti­schen Stränge aufzu­greifen. Dabei findet der Film nie wirklich zu dem Roten Faden, den er gele­gent­lich zu suchen scheint.

Eddington ist ein zeit­genös­si­scher Western (zwischen No Country for Old Men von den Coens und dem exis­ten­zi­ellen Nihi­lismus von Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia von Peckinpah), dysto­pi­sche Fabel und poli­ti­sche Farce, es ist sehr bewusste Provo­ka­tion von links­li­be­raler Wokeness und Cancel-Culture und es ist eine grund­sätz­liche Metapher für den alltäg­li­chen Wahnsinn in den USA, einem auch im Film komplett durch­ge­knallten Land.

Das offen­sicht­liche Problem von Ari Asters neuem Werk ist trotzdem leider, dass es tatsäch­lich zu viele Themen mitein­ander vermischt. Man kann sie aufzählen: Die Post-Truth-Gesell­schaft, Verschwörungs­theo­rien, Corona-Skepsis, der Streit um Masken, die krimi­nellen Umtriebe großer Tech-Konzerne unter dem Deck­mantel ökolo­gi­scher Nach­hal­tig­keit, struk­tu­reller Rassismus, White Guilt, Waffen­narr­heit, die Black Lives Matter-Proteste und ihre Irrtümer, das Span­nungs­ver­hältnis zwischen lokalen Auto­ri­täten und indigenen Gemein­schaften, soziale Ungleich­heiten und sexueller Miss­brauch… All das wird hier in einen Mixer geworfen – das Ergebnis ist ein illu­si­ons­loses Gemisch, das die filmische wie philo­so­phi­sche Post­mo­derne auf die Spitze treibt und jede mora­li­sche Gewiss­heit opfert.