78. Filmfestspiele Cannes 2025
Robert de Niro is waiting... |
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Vermischt zu viele Themen: Ari Asters Eddington | ||
(Foto: A24 Film) |
»Are you talking to me?«
– Travis Bickle in »Taxi Driver«»People are starin' and followin' me
This is my only escape from it all
Watchin′ a film or a face on the wall«
– Bananarama, Robert de Niro is waiting
Wie in jedem Jahr gibt es auch 2025 ganz viele Kritikerspiegel, wo wir unsere klarerweise hochdifferenzierten Einschätzungen eines Films ganz unbillig vereinfachen, vereindeutigen und auf Sternchen und Zahlen und Kreuze und Schlagworte wie »stark«, »zwiespältig« und »lauwarm« reduzieren. Dabei könnte man allein darüber, was »zwiespältig« überhaupt heißt, ob das etwas Gutes oder Schlechtes ist und ob nicht jeder Film am Ende ein »zwiespältig« verdient, eine ganze Tagebuchfolge schreiben. Ab und zu werde ich hier noch erzählen, was für Sterne so im legendären »Jury Grid« von Screendaily vergeben werden, der vor allem für die angelsächsische Welt eine Art heiliger Stuhl ist – auch weil die meisten Teilnehmer etwa so alt wie der Papst sind. Oder wir schauen, wie die französischen Kritiker auf »Le Film francais« die Filme in Wettbewerb und Nebensektionen einschätzen.
Auf zwei Kritiker-Spiegel möchte ich aber jetzt gesondert hinweisen, weil ich selber dort mitmache. Im einen Fall auch gemeinsam mit der artechock-Kollegin Dunja Bialas bei den geschätzten Konkurrenten von critic.de. Hier kann man die Wertungen von uns und anderen in einem relativ groben Raster nachschauen. Etwas feingetunter, nämlich von 0 bis 5 inklusive Zwischennoten, ist das Raster bei der versammelten Luxemburger Filmkritik, die mich dankenswerterweise in diesem Jahr eingeladen hat, bei ihrem Kritikerspiegel mitzumachen, der den schönen Namen trägt »Le Mur des Étoiles«. Man kann ihn unter dieser Facebook-Adresse nachschauen.
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Versuchen wir mal über Stars zu reden. Angeblich kommt das Kino ja ohne sie gar nicht aus. Für manche sind sie »das Herz des Kinos« und in jedem Fall gibt es ziemlich viele, mitunter auch ernstzunehmende Kollegen aus der Filmkritik, die sich vor allem als Star-Reporter verstehen. Sie melden dann aus Cannes komische Dinge wie, »die Stardichte« sei in diesem Jahr besonders groß, oder »die Stars stehen Schlange« (was sie, wenn sie wirkliche Stars sind, nie tun), und glauben, es sei lobenswert, dass das Festival es angeblich geschafft hat, »in diesem Jahr« »ganz besonders viele Stars« nach Cannes zu holen. Die gemeinten Stars sind meistens die Amerikaner, aber das ist nur das erste Problem. Denn tatsächlich liegt solchen Kommentaren eine totale Fehleinschätzung zugrunde; die leider durch ihre Wiederholung auch noch in den Köpfen des Publikums eingepflanzt wird.
Stars sind Mittel und nicht Zwecke; sie sind die Instrumente und nicht die Partitur; sie sind nicht der Inhalt, sondern sie sind leere Hüllen. Nur wenn sie sehr gute Schauspieler sind, dann sind sie nicht ganz so leere Hüllen, dann geben sie dem, was sie spielen und verkörpern sollen, tatsächlich etwas hinzu.
Stars sind genau dafür da, dass die breite Masse auf sie hereinfällt, sie sind dazu da, dass man in Boulevardmedien und zunehmend auch in den boulevardisierten Qualitätsmedien vermeiden kann, über Filme, das heißt über eine filmische Form, über den Stil und über die Geschichten, über die Inhalte zu reden.
Trotzdem ist das doch irgendwie alles in Ordnung so; es gibt keinen Grund, darüber zu lästern. Reduktion von Komplexität ist die Aufgabe. Es ist sogar die Aufgabe der
Filmkritik. Denn auch wir brechen natürlich sehr komplizierte Sachen runter.
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Einer der größten aller Stars war hier. Und auch wenn die Cannes-Masterclass mit Robert de Niro nicht halb so gut war, wie man sie sich zuvor vorgestellt hatte, weil es hier gar nicht um das Lebenswerk von de Niro ging und kaum um seine Schauspielkunst, und weil natürlich bei solchen Ereignissen Geheimnisse am Ende sowieso wider alle Hoffnungen nicht enthüllt werden, so können wir jetzt doch sagen: Wir sind einmal mit Robert de Niro im gleichen Raum gewesen.
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Die Kleidung einer Figur auch im Alltag zu tragen, würde helfen, meinte er immerhin, nach Tips gefragt. Und: Ein anderer Gang wirke oft Wunder. Das Problem nur: Auch wenn wir alle diese Tips beherzigen, werden wir damit kein bisschen mehr de Niro. Darum nehmen wir seinen dritten Ratschlag: »Was immer Sie sich an typischen Handlungsweisen für eine Rolle angewöhnen, Sie müssen es sofort wieder vergessen. Sonst wird es zu offensichtlich. Lernen Sie, um zu vergessen.«
Das tun wir, Robert!
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Robert De Niro hat die Kunst des Agierens vor der Kamera neu definiert. Er repräsentiert weit mehr als Robert Redford oder Al Pacino die Revolution, die mit der künstlerischen Explosion des »New Hollywood Cinema« Anfang der 1970er-Jahre einherging. Erfindungsgabe und Improvisation sind seine Geheimnisse. »Man muss ihn nur machen lassen, er wird einen immer überraschen«, sagte einmal Martin Scorsese. Mit Scorseses frühem Mafiafilm Hexenkessel begann eine ikonische Zusammenarbeit. Sogar sein Hang zur Selbstparodie machte seine Psychogramme seelisch entgleister, verrückter, neurotischer, einsamer Männer noch glaubwürdiger. Robert De Niro ist ein Mann mit vielen Gesichtern, voller Ambivalenz, mit einem schiefen Grinsen als Markenzeichen.
Alles in allem ist kaum ein Kollege ein Darsteller so moderner Männer und so universaler Männlichkeit wie er.
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Das erste Wochenende gehört traditionsgemäß bei den Filmfestspielen in Cannes den Amerikanern. Wes Anderson, Richard Linklater, dazu kommen wir noch. Kristen Stewart hat einen eigenen Film gemacht. Der interessanteste Film über Amerika war aber Eddington vom bisher als Horrorregisseur bekannten Ari Aster (Midsommar).
Eddington ist ein bisschen albern, und ein bisschen zynisch, aber beides auf hohem Niveau, und manchmal besser, weil weniger selbstgefällig als die Coen-Brüder. Und weil der Humor hier noch schwärzer ist, oft genug dann aber doch auch ein bisschen flacher. Es handelt sich jedenfalls um einen Film mit unangenehmem, schwer greifbarem Humor, der sich keinem seiner Charaktere oder Themen vollständig verschreibt.
Das Ganze spielt im Jahr 2020 irgendwo in New Mexico. Es beginnt mit einem Obdachlosen, der die Welt verflucht; ein Vogel fällt vom Himmel und irgendeine offensichtlich ziemlich böse Fabrik wird hier in diesem gottverlassenen Nest mitten in der Wüste gebaut. Es gibt Proteste dagegen. Gleichzeitig regiert die Corona-Pandemie die Nachrichten und das Leben.
Zwei Polizeibezirke streiten sich über Maskenregeln, lauter Leute wollen Ämter. Als erzählerisches Gerüst im Zentrum
dient der Konflikt zwischen dem örtlichen Sheriff (eine schöne Performance von Joaquin Phoenix, der Übergänge zwischen Tonlagen meisterhaft beherrscht) und dem Bürgermeister (Pedro Pascal), der sich jedoch immer wieder verliert, um die zuvor genannten thematischen Stränge aufzugreifen. Dabei findet der Film nie wirklich zu dem Roten Faden, den er gelegentlich zu suchen scheint.
Eddington ist ein zeitgenössischer Western (zwischen No Country for Old Men von den Coens und dem existenziellen Nihilismus von Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia von Peckinpah), dystopische Fabel und politische Farce, es ist sehr bewusste Provokation von linksliberaler Wokeness und Cancel-Culture und es ist eine grundsätzliche Metapher für den alltäglichen Wahnsinn in den USA, einem auch im Film komplett durchgeknallten Land.
Das offensichtliche Problem von Ari Asters neuem Werk ist trotzdem leider, dass es tatsächlich zu viele Themen miteinander vermischt. Man kann sie aufzählen: Die Post-Truth-Gesellschaft, Verschwörungstheorien, Corona-Skepsis, der Streit um Masken, die kriminellen Umtriebe großer Tech-Konzerne unter dem Deckmantel ökologischer Nachhaltigkeit, struktureller Rassismus, White Guilt, Waffennarrheit, die Black Lives Matter-Proteste und ihre Irrtümer, das Spannungsverhältnis zwischen lokalen Autoritäten und indigenen Gemeinschaften, soziale Ungleichheiten und sexueller Missbrauch… All das wird hier in einen Mixer geworfen – das Ergebnis ist ein illusionsloses Gemisch, das die filmische wie philosophische Postmoderne auf die Spitze treibt und jede moralische Gewissheit opfert.