Deutsche Gespenster |
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Darüber wird noch viel zu reden sein: Mascha Schilinskis Sound of Falling | ||
(Foto: Fabian Gamper/Studio Zentral) |
»Only the valiant should create, only the daring should make films.«
– Frank Capra»In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. ...
Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.«
– Walter Benjamin
Ça commence, la folie – der Wahnsinn beginnt. Es ist ein schöner Wahnsinn, toll im Wortsinn, ein Wahnsinn, den man nicht vermissen möchte, aber eben doch ein Wahnsinn, dieses Cannes. Und schon am ersten Tag konnte man das alles in Reinform erleben.
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Bei der Eröffnungsveranstaltung am Dienstagabend ist zunächst die ganze Leinwand erfüllt von einer einzigen Goldenen Palme in Nahgroßaufnahme. Um sie geht es, die nächsten 12 Tage. Alles andere ist nur oberflächliches Marketinggequatsche, besonders die üblichen, jedes Jahr im Sensationston vorgetragenen, angeblichen »politischen Debatten« um Cannes, die nach zwei Tagen, wenn das Festival erstmal läuft, komplett vergessen sind und hier keine Rolle mehr spielen. Dies
ist nur gute Festival-PR und zielt besonders auf angloamerikanische und deutsche Journalisten, weil die Angst davor haben, am Ende noch über Kunst berichten zu müssen.
Pflichtschuldig berichten dann auch Einzelne im deutschen Radio und erwecken den Eindruck, Cannes sei ein ach so »politisches Festival«, also so eine Art zweite Berlinale. Das Gegenteil ist der Fall: Cannes ist kein politisches Festival, sondern ein Kunstfestival, das mit einer politischen Haltung gemacht wird
– der nämlich, dass die Kunst frei zu sein hat und im Gegensatz zu aller Politik keine Grenzen und Tabus kennt. Kennen darf.
Indem Cannes sich feiert, feiert es auch das Kino.
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Moderiert wurde die Eröffnung von Laurent Lafitte, einem französischen Schauspieler, den ich – unter uns gesagt – nicht kannte, weil er mir in seiner Nebenrolle in Paul Verhoevens Elle nicht aufgefallen war.
Gleich in den ersten Sätzen widmete er die Eröffnungsveranstaltung der kürzlich verstorbenen Emilie Dequenne, Hauptdarstellerin im ersten Cannes-Gewinn der Dardennes-Brüder Rosetta.
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Vor einem Publikum, in dem ich Albert Serra und Alice Rohrwacher sah, und von fern auch Fatih Akin, redete dieser Schauspieler dann erstmal – über Schauspieler. Und das ist in Frankreich nicht automatisch weniger anstrengend als in Deutschland. »Schauspieler«, verkündete Lafitte, »kennen das Kino besser als die Cineasten.« So so. »Schauspieler als Weltbürger. ... Sie sind ersetzbar, denn jedes Wortergreifen ist bei ihnen ein Risiko. Ein Schauspieler, der für sich selbst redet, reduziert sich. Ein Regisseur erweitert sich.« Dann schnurrte er die Namen einiger großer Kinodarsteller herunter: »Marlene Dietrich, James Stewart, Isabel Adjani« und andere, um am Schluß arg abrupt und deplaziert Wolodymir Selenskyj zu nennen. Dafür gab es erkennbar wenig Applaus im Saal.
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Aber das Thema war gesetzt: Es sollte um Schauspieler und ihr Engagement gehen. Denn neben anderen in der Jury ist deren Präsidentin in diesem Jahr Juliette Binoche. Als Schauspielerin wirklich entdeckt von Leos Carax, bei dem sie gleich in mehreren Filmen Hauptrollen spielte, und so schön aussah, wie nie zuvor und nie danach, nicht »heilig«, nicht »rein«, sondern unschuldig.
Erwähnt wurden zu prächtigen Filmausschnitten auch Kiarostami, Assayas, Denis, Dumont, Kieslowski,
Haneke, Cronenberg – und schon vor allem Filme der 90er Jahre.
Als Juliette Binoche dann auf die Bühne trat, bekam sie Standing Ovations. Nach der Veranstaltung wunderten sich manche über das fashion-statement ihres weißen Abendkleides, zu dem ein Stoffteil gehörte, das sie sich wie eine Nonnenhaube über die Haare gelegt hatte, so dass diese halbverdeckt waren. Über Geschmack, sagt man da gern, kann man nicht streiten. Wohl aber über politischen Instinkt: Denn fast wirkte dieses an die Aga-Khan-Gattin »Begum« erinnende Outfit als zumindest
gedankenloser Affront gegen jene iranischen und sonstigen islamischen Filmemacher, die in ihren Werken und Stellungnahmen die Freiheit der Frauen verteidigen, ihr Haar unbedeckt zu lassen.
So meinte die Binoche das sicher nicht. Schlecht beraten war sie so oder so.
In ihrer Rede dankte sie dann dem Festival für das Vergnügen, mit den Mitgliedern der Jury die Erfahrung zu teilen.
Dann wollte sie noch etwas Bedeutungsvolles, also Politisches sagen, und nannte als erstes – immerhin – die Geiseln des 7. Oktober – »und alle Geiseln.« Dann erwähnte sie wie zum Ausgleich eine in Gaza getötete arabische Fotografin, um dann wieder auf das sichere Terrain einer cinephilen Sonntagsrede einzuschwenken: »Das Kino öffnet das Fenster
zum Leiden. ... Es hilft uns uns zu verändern ... In allen Teilen der Welt kämpfen die Künstler jeden Tag ... Die Kunst ist eine machtvolle Zeugin unserer Träume, unseres Lebens.«
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Frank Capra, dessen Zitat »Nur Tapfere sollten Filme machen« irgendwann während der Eröffnung die Leinwand füllte, hat dazu etwas Treffendes gesagt: »I thought drama was when actors cried. But drama is when the audience cries.«
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Es folgten Erinnerungen an David Lynch, einen weiteren Cannes-Stammgast. Man sah aus Wild at Heart Laura Dern und Nicholas Cage kreischend ekstatisch vor dem Sonnenuntergang. Das war schon damals, 1990, ein gewöhnungsbedürftiger Expressionismus. Aber die Bilder haben standgehalten. Und über die Jahre gewonnen über Worte und Geschichte.
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Dann folgte der Moment des Abends: Die Goldene Ehrenpalme für Robert de Niro. Wer ehrte ihn? Leonardo DiCaprio. Standing Ovations zum zweiten Mal.
Und schon die Clips aus de Niros Filmographie erinnerten uns an diesen Archetyp, einen der Namen, wegen denen ich Kino in den 80er und 90er Jahren als unentbehrliches Lebensmittel erkannte.
Auch wurde klar, wie so eine Schauspielbiographie sich entwickelt: Es gibt diesen Moment, an dem einer zu sich selbst kommt. In den 80er Jahren war de Niro noch auf dem Weg; in den 2000er Jahren war er fertig; aber in den 90er Jahren wurde er fertig.
Entscheidend für die Wirkung dieses Schauspielers sind seine Blicke. De Niro hat Männlichkeit, und ich meine nicht nur amerikanische Männlichkeit, neu definiert. Heute sieht er inzwischen wirklich fast schon so aus wie Martin Scorsese mit den weißen Haaren, die hinten etwas zu lang sind. Aber warum auch nicht?
Wie er sich mit dem Zeigefinger unter der Nase über den Lippen auf der Bühne entlang strich, das war unverkennbar de Niro, ebenso diese Art, lässig und betont
ungerührt, aber eben dann doch gerührt zu blicken.
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Einen Moment hielt er die Palme in der Hand, wusste aber wohl nicht recht, was er damit jetzt sollte. Und dann gab de Niro die Palme einfach zurück an DiCaprio, um seine Rede zu halten. Der stellt sie dann auf dem Tisch ab, tritt zurück, de Niro setzt seine Lesebrille auf, redet ein bisschen französisch, dankt »unendlich« dafür, dass Cannes eine Community kreiert, erzählt, wie er zum allerersten Mal hierher kam, und beschwört »L’esprit de Cannes«.
Dann kam de Niro auf »The philistine president«. Gemeint ist nicht, wie Google glaubt, der palästinensische Präsident, sondern der US-amerikanische, ein Philister, vulgo: Banause. »Das ist nicht ein amerikanisches Problem.« »Wir sind bedroht von den Autokraten und den Faschisten dieser Welt.«
»Demokratie, das Wort möchte ich betonen: wir müssen die Demokratie verteidigen. Die Künste sind die Essenz der Demokratie. Liberté égalité fraternité«
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Das konnte auch Quentin Tarantino nicht mehr toppen. Er kam, und wieder Standing Ovations. Ganz schnell schreit er dann das Festival als »eröffnet« und schmeißt das Mikrofon auf den Boden.
Und schon ist alles vorbei – zack zack zack – werden die Sponsoren eingeblendet, es gibt ein Foto und aus ist es.
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Wenn man diese Öffnung sieht, dann weiß man, warum man hier ist. Das Festival ist ein profaner Tempel, wo man das Kino schützt.
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Zum nachfolgenden Eröffnungsfilm gibt es nichts zu sagen. Um so mehr aber über den ersten Wettbewerbsfilm. Er kommt ausgerechnet aus Deutschland – nach Jahrzehnten, die nur vor neun Jahren von Maren Ade und gelegentlichen Wim-Wenders-Auftritten unterbrochen waren,
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A Star Is Born möchte man ausrufen, begeistert nach diesem besten deutschen Cannes-Wettbewerbs-Film seit Jahrzehnten. Ein Film, der Kunst ist, weil er etwas will, ohne einen betonten Kunstwillen vor sich herzutragen, oder, noch schlimmer – sich in irgendwelche zeitgeistlastigen Diskursspielchen einzupreisen. Der anknüpft an das Autorenkino.
Über Mascha Schilinskis Sound of Falling – so der internationale Titel, der mir besser gefällt, als der deutsche, etwas esoterisch angehauchte In die Sonne schauen – wird noch viel zu reden sein, auch in diesen Tagen.
Auf die Schnelle gesagt: Die deutsch-französische Regisseurin (von der ich dummerweise vorher noch nie etwas gehört hatte) erzählt in ihrem zweiten Spielfilm vor allem von Müttern und Töchtern, die alle in einem Haus im Nordosten Deutschlands leben, auf vier Zeitebenen: Im Kaiserreich, zu Beginn des Ersten Weltkriegs; während des Zweiten; in der DDR; in der Gegenwart.
Wir sehen vor allem Töchter mit Todesgedanken, mindestens zwei Todesphantasien sieht man in diesem Film, Momente, wo Töchter ihren Tod herbeiträumen, um Mütter zu bestrafen, und auch andere Nahtoderlebnisse begegnen einem hier. Aber auch sexuelles Begehren, das sich auf die Onkel richtet, verbotene Liebschaften.
Es ist auch ein Horrorfilm und eine Gespenstergeschichte. Die Gespenster, das ist nicht einfach nur der Faschismus und die Folgen davon. Alles reicht weiter zurück, mindestens in jene Zeit, in der auch Das weiße Band spielte, ein Film, an den man unweigerlich denken muss, bei dieser agrarischen geschlossenen Gesellschaft, diesen Somewheres einer früheren Zeit.
Dies ist ein Film über kollektives Unbewusstes, über schwer greifbares Körper- und Landschaftsgedächtnis. Über eine ungreifbare Präsenz.
Dabei keine Esoterik, eher Romantik und (Früh-)Romantische Ästhetik, auch im fragmentarischen Erzählen dieses a-chronologischen, im 4:3-Format gedrehten, ausgezeichneten Films.