15.05.2025

Deutsche Gespenster

Sound of Falling
Darüber wird noch viel zu reden sein: Mascha Schilinskis Sound of Falling
(Foto: Fabian Gamper/Studio Zentral)

Der Wahnsinn beginnt: Cannes eröffnet glamourös und italo-amerikanisch mit Robert De Niro, DiCaprio und Tarantino. Aber der Beginn des Wettbewerbs schlägt einen anderen Ton an: Mit dem erstaunlichen deutschen Wettbewerbsbeitrag – Cannes-Tagebuch, 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Only the valiant should create, only the daring should make films.«
– Frank Capra

»In jeder Epoche muß versucht werden, die Über­lie­fe­rung von neuem dem Konfor­mismus abzu­ge­winnen, der im Begriff steht, sie zu über­wäl­tigen. ...
Nur dem Geschichts­schreiber wohnt die Gabe bei, im Vergan­genen den Funken der Hoffnung anzu­fa­chen, der davon durch­drungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.«

– Walter Benjamin

Ça commence, la folie – der Wahnsinn beginnt. Es ist ein schöner Wahnsinn, toll im Wortsinn, ein Wahnsinn, den man nicht vermissen möchte, aber eben doch ein Wahnsinn, dieses Cannes. Und schon am ersten Tag konnte man das alles in Reinform erleben.

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Bei der Eröff­nungs­ver­an­stal­tung am Diens­tag­abend ist zunächst die ganze Leinwand erfüllt von einer einzigen Goldenen Palme in Nahgroß­auf­nahme. Um sie geht es, die nächsten 12 Tage. Alles andere ist nur ober­fläch­li­ches Marke­ting­ge­quat­sche, besonders die üblichen, jedes Jahr im Sensa­ti­onston vorge­tra­genen, angeb­li­chen »poli­ti­schen Debatten« um Cannes, die nach zwei Tagen, wenn das Festival erstmal läuft, komplett vergessen sind und hier keine Rolle mehr spielen. Dies ist nur gute Festival-PR und zielt besonders auf anglo­ame­ri­ka­ni­sche und deutsche Jour­na­listen, weil die Angst davor haben, am Ende noch über Kunst berichten zu müssen.
Pflicht­schuldig berichten dann auch Einzelne im deutschen Radio und erwecken den Eindruck, Cannes sei ein ach so »poli­ti­sches Festival«, also so eine Art zweite Berlinale. Das Gegenteil ist der Fall: Cannes ist kein poli­ti­sches Festival, sondern ein Kunst­fes­tival, das mit einer poli­ti­schen Haltung gemacht wird – der nämlich, dass die Kunst frei zu sein hat und im Gegensatz zu aller Politik keine Grenzen und Tabus kennt. Kennen darf.

Indem Cannes sich feiert, feiert es auch das Kino.

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Moderiert wurde die Eröffnung von Laurent Lafitte, einem fran­zö­si­schen Schau­spieler, den ich – unter uns gesagt – nicht kannte, weil er mir in seiner Neben­rolle in Paul Verhoe­vens Elle nicht aufge­fallen war.
Gleich in den ersten Sätzen widmete er die Eröff­nungs­ver­an­stal­tung der kürzlich verstor­benen Emilie Dequenne, Haupt­dar­stel­lerin im ersten Cannes-Gewinn der Dardennes-Brüder Rosetta.

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Vor einem Publikum, in dem ich Albert Serra und Alice Rohr­wa­cher sah, und von fern auch Fatih Akin, redete dieser Schau­spieler dann erstmal – über Schau­spieler. Und das ist in Frank­reich nicht auto­ma­tisch weniger anstren­gend als in Deutsch­land. »Schau­spieler«, verkün­dete Lafitte, »kennen das Kino besser als die Cineasten.« So so. »Schau­spieler als Welt­bürger. ... Sie sind ersetzbar, denn jedes Worter­greifen ist bei ihnen ein Risiko. Ein Schau­spieler, der für sich selbst redet, reduziert sich. Ein Regisseur erweitert sich.« Dann schnurrte er die Namen einiger großer Kino­dar­steller herunter: »Marlene Dietrich, James Stewart, Isabel Adjani« und andere, um am Schluß arg abrupt und depla­ziert Wolodymir Selenskyj zu nennen. Dafür gab es erkennbar wenig Applaus im Saal.

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Aber das Thema war gesetzt: Es sollte um Schau­spieler und ihr Enga­ge­ment gehen. Denn neben anderen in der Jury ist deren Präsi­dentin in diesem Jahr Juliette Binoche. Als Schau­spie­lerin wirklich entdeckt von Leos Carax, bei dem sie gleich in mehreren Filmen Haupt­rollen spielte, und so schön aussah, wie nie zuvor und nie danach, nicht »heilig«, nicht »rein«, sondern unschuldig.
Erwähnt wurden zu präch­tigen Film­aus­schnitten auch Kiaros­tami, Assayas, Denis, Dumont, Kies­lowski, Haneke, Cronen­berg – und schon vor allem Filme der 90er Jahre.

Als Juliette Binoche dann auf die Bühne trat, bekam sie Standing Ovations. Nach der Veran­stal­tung wunderten sich manche über das fashion-statement ihres weißen Abend­kleides, zu dem ein Stoffteil gehörte, das sie sich wie eine Nonnen­haube über die Haare gelegt hatte, so dass diese halb­ver­deckt waren. Über Geschmack, sagt man da gern, kann man nicht streiten. Wohl aber über poli­ti­schen Instinkt: Denn fast wirkte dieses an die Aga-Khan-Gattin »Begum« erinnende Outfit als zumindest gedan­ken­loser Affront gegen jene irani­schen und sonstigen isla­mi­schen Filme­ma­cher, die in ihren Werken und Stel­lung­nahmen die Freiheit der Frauen vertei­digen, ihr Haar unbedeckt zu lassen.
So meinte die Binoche das sicher nicht. Schlecht beraten war sie so oder so.

In ihrer Rede dankte sie dann dem Festival für das Vergnügen, mit den Mitglie­dern der Jury die Erfahrung zu teilen.
Dann wollte sie noch etwas Bedeu­tungs­volles, also Poli­ti­sches sagen, und nannte als erstes – immerhin – die Geiseln des 7. Oktober – »und alle Geiseln.« Dann erwähnte sie wie zum Ausgleich eine in Gaza getötete arabische Foto­grafin, um dann wieder auf das sichere Terrain einer cine­philen Sonn­tags­rede einzu­schwenken: »Das Kino öffnet das Fenster zum Leiden. ... Es hilft uns uns zu verändern ... In allen Teilen der Welt kämpfen die Künstler jeden Tag ... Die Kunst ist eine macht­volle Zeugin unserer Träume, unseres Lebens.«

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Frank Capra, dessen Zitat »Nur Tapfere sollten Filme machen« irgend­wann während der Eröffnung die Leinwand füllte, hat dazu etwas Tref­fendes gesagt: »I thought drama was when actors cried. But drama is when the audience cries.«

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Es folgten Erin­ne­rungen an David Lynch, einen weiteren Cannes-Stammgast. Man sah aus Wild at Heart Laura Dern und Nicholas Cage krei­schend eksta­tisch vor dem Sonnen­un­ter­gang. Das war schon damals, 1990, ein gewöh­nungs­be­dürf­tiger Expres­sio­nismus. Aber die Bilder haben stand­ge­halten. Und über die Jahre gewonnen über Worte und Geschichte.

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Dann folgte der Moment des Abends: Die Goldene Ehren­palme für Robert de Niro. Wer ehrte ihn? Leonardo DiCaprio. Standing Ovations zum zweiten Mal.

Und schon die Clips aus de Niros Filmo­gra­phie erin­nerten uns an diesen Archetyp, einen der Namen, wegen denen ich Kino in den 80er und 90er Jahren als unent­behr­li­ches Lebens­mittel erkannte.

Auch wurde klar, wie so eine Schau­spiel­bio­gra­phie sich entwi­ckelt: Es gibt diesen Moment, an dem einer zu sich selbst kommt. In den 80er Jahren war de Niro noch auf dem Weg; in den 2000er Jahren war er fertig; aber in den 90er Jahren wurde er fertig.

Entschei­dend für die Wirkung dieses Schau­spie­lers sind seine Blicke. De Niro hat Männ­lich­keit, und ich meine nicht nur ameri­ka­ni­sche Männ­lich­keit, neu definiert. Heute sieht er inzwi­schen wirklich fast schon so aus wie Martin Scorsese mit den weißen Haaren, die hinten etwas zu lang sind. Aber warum auch nicht?
Wie er sich mit dem Zeige­finger unter der Nase über den Lippen auf der Bühne entlang strich, das war unver­kennbar de Niro, ebenso diese Art, lässig und betont ungerührt, aber eben dann doch gerührt zu blicken.

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Einen Moment hielt er die Palme in der Hand, wusste aber wohl nicht recht, was er damit jetzt sollte. Und dann gab de Niro die Palme einfach zurück an DiCaprio, um seine Rede zu halten. Der stellt sie dann auf dem Tisch ab, tritt zurück, de Niro setzt seine Lese­brille auf, redet ein bisschen fran­zö­sisch, dankt »unendlich« dafür, dass Cannes eine Community kreiert, erzählt, wie er zum aller­ersten Mal hierher kam, und beschwört »L’esprit de Cannes«.

Dann kam de Niro auf »The philis­tine president«. Gemeint ist nicht, wie Google glaubt, der paläs­ti­nen­si­sche Präsident, sondern der US-ameri­ka­ni­sche, ein Philister, vulgo: Banause. »Das ist nicht ein ameri­ka­ni­sches Problem.« »Wir sind bedroht von den Auto­kraten und den Faschisten dieser Welt.«
»Demo­kratie, das Wort möchte ich betonen: wir müssen die Demo­kratie vertei­digen. Die Künste sind die Essenz der Demo­kratie. Liberté égalité frater­nité«

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Das konnte auch Quentin Tarantino nicht mehr toppen. Er kam, und wieder Standing Ovations. Ganz schnell schreit er dann das Festival als »eröffnet« und schmeißt das Mikrofon auf den Boden.
Und schon ist alles vorbei – zack zack zack – werden die Sponsoren einge­blendet, es gibt ein Foto und aus ist es.

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Wenn man diese Öffnung sieht, dann weiß man, warum man hier ist. Das Festival ist ein profaner Tempel, wo man das Kino schützt.

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Zum nach­fol­genden Eröff­nungs­film gibt es nichts zu sagen. Um so mehr aber über den ersten Wett­be­werbs­film. Er kommt ausge­rechnet aus Deutsch­land – nach Jahr­zehnten, die nur vor neun Jahren von Maren Ade und gele­gent­li­chen Wim-Wenders-Auftritten unter­bro­chen waren,

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A Star Is Born möchte man ausrufen, begeis­tert nach diesem besten deutschen Cannes-Wett­be­werbs-Film seit Jahr­zehnten. Ein Film, der Kunst ist, weil er etwas will, ohne einen betonten Kunst­willen vor sich herzu­tragen, oder, noch schlimmer – sich in irgend­welche zeit­geist­las­tigen Diskurs­spiel­chen einzu­preisen. Der anknüpft an das Autoren­kino.

Über Mascha Schi­lin­skis Sound of Falling – so der inter­na­tio­nale Titel, der mir besser gefällt, als der deutsche, etwas esote­risch ange­hauchte In die Sonne schauen – wird noch viel zu reden sein, auch in diesen Tagen.

Auf die Schnelle gesagt: Die deutsch-fran­zö­si­sche Regis­seurin (von der ich dummer­weise vorher noch nie etwas gehört hatte) erzählt in ihrem zweiten Spielfilm vor allem von Müttern und Töchtern, die alle in einem Haus im Nordosten Deutsch­lands leben, auf vier Zeit­ebenen: Im Kaiser­reich, zu Beginn des Ersten Welt­kriegs; während des Zweiten; in der DDR; in der Gegenwart.

Wir sehen vor allem Töchter mit Todes­ge­danken, mindes­tens zwei Tode­s­phan­ta­sien sieht man in diesem Film, Momente, wo Töchter ihren Tod herbei­träumen, um Mütter zu bestrafen, und auch andere Nahtod­erleb­nisse begegnen einem hier. Aber auch sexuelles Begehren, das sich auf die Onkel richtet, verbotene Lieb­schaften.

Es ist auch ein Horror­film und eine Gespens­ter­ge­schichte. Die Gespenster, das ist nicht einfach nur der Faschismus und die Folgen davon. Alles reicht weiter zurück, mindes­tens in jene Zeit, in der auch Das weiße Band spielte, ein Film, an den man unwei­ger­lich denken muss, bei dieser agra­ri­schen geschlos­senen Gesell­schaft, diesen Some­wheres einer früheren Zeit.

Dies ist ein Film über kollek­tives Unbe­wusstes, über schwer greif­bares Körper- und Land­schafts­ge­dächtnis. Über eine ungreif­bare Präsenz.
Dabei keine Esoterik, eher Romantik und (Früh-)Roman­ti­sche Ästhetik, auch im frag­men­ta­ri­schen Erzählen dieses a-chro­no­lo­gi­schen, im 4:3-Format gedrehten, ausge­zeich­neten Films.