27.10.2016

Dem Medium ein Medium

Stories of our Lives
Die Kino-Überraschung des Frühjahrs: Der Schamane und die Schlange

Die 16. Tage des Ethnologischen Films zeigen, was Filme für Musik und Message tun können

Von Natascha Gerold

»I Have No Ever­y­thing Here« hat zwar nicht gewonnen. Trotzdem hat das Album für eine kleine Sensation gesorgt. Denn seine Songs haben es immerhin bis nach Los Angeles geschafft, zur dies­jäh­rigen Nomi­nie­rung für den Grammy in der Kategorie Weltmusik. Das wäre an sich noch nicht weiter erstaun­lich, wären die Musiker keine Verur­teilten aus dem Hoch­si­cher­heits­ge­fängnis in Zomba, einer Stadt im südlichen Malawi. 14 Inhaf­tierte und zwei Wachleute nahmen »I Have No Ever­y­thing Here« dort in einem Behelfs­studio auf. Mit der außer­ge­wöhn­li­chen Meldung über dieses »Zomba Prison Project« streifte Malawi, das bitter­arme Land im südöst­li­chen Afrika, der Schein­werfer einer inter­na­tio­nalen Öffent­lich­keit – wenn auch nur für den Bruchteil eines Aufmerk­sam­keits­mo­ments.

Ich töne, also bin ich – es gibt kaum einen nach­drück­li­cheren Beweis mensch­li­cher Existenz als Musik. Warum sonst kreist Chuck Berry’s »Johnny B. Good« zusammen mit Edda Moser als »Königin der Nacht« in der Voyager-Kapsel durch den Orbit? Musik machen heißt, sich mit dem zu zeigen, was man hat, was einen umgibt und umtreibt. Erst recht, wenn die eigenen Lebens­um­s­tände widrig sind. Die 16. Tage des Ethno­lo­gi­schen Films zeigen die, die sich zeigen – mit sechs Doku­men­tar­filmen über Musiker und ihre Kunst. Nicht selten kommen ihre Macher aus Deutsch­land – einem west­li­chen Kultur­kreis also – und bringen von ihren Reisen aufmerk­same sensible Beob­ach­tungen mit, bei denen es weniger um Hörgenüsse als um univer­sell verbin­dende Dinge geht, die Musik trans­por­tieren kann. Dabei schafft sie nicht nur Brücken quer über Konti­nente, sondern auch zeitliche, sie wirkt iden­ti­täts­stif­tend und bewahrt die eigene Herkunft, indem sie sie in die Gegenwart holt.

Eindrucks­voll verdeut­licht dies der Eröff­nungs­film Karuna Grand Show (Fr. 28.10., 17 und 19 Uhr) von Wolfram Seipp und Sebastian Hirt, der bei den 16. Tagen des Ethno­lo­gi­schen Films seine Münchner Premiere hat. Die beiden Filme­ma­cher begleiten eine Gruppe tibe­ti­scher behin­derter Jugend­li­cher auf ihrer 4000 Kilometer langen »Karuna Grand Show« von Süd- nach Nord­in­dien zum Dalai Lama. Gemeinsam mit ihnen treten bekannte Künstler auf, die – nach ihrer Flucht aus Tibet auf der ganzen Welt verstreut – auf Bitte des Karuna-Heim­lei­ters für diese Tour mit Auftritten in tibe­ti­schen Kolonien ohne Gage zusam­men­ge­kommen sind.

Der Weg zurück zu Familien und heimat­li­chen Wurzeln ist für die Exil-Tibeter nach wie vor keine Option – umso kraft­voller scheint die Erin­ne­rung an das Heimat­land in ihrer Musik aufbe­wahrt. Was diese Menschen in Asien mit uner­schüt­ter­liche Beharr­lich­keit prak­ti­zieren, entlud sich einst in Nord­eu­ropa mit eruptiver Wucht: Sumé – The Sound of a Revo­lu­tion (Di. 01.11., 19 Uhr) von Inuk Silis Høegh, erzählt die unglaub­liche Geschichte grön­län­di­scher Studenten, die 1973 die Band Sumé gründeten und von Kopen­hagen aus Miss­stände in der Heimat wie Alko­ho­lismus und mangelnde Bildungs­an­ge­bote anpran­gerten und die dänische Verwal­tung dafür verant­wort­lich machten – das alles mit fetzigem Rock in ihrer Mutter­sprache. Im Debüt des grön­län­di­schen Doku­men­tar­fil­mers Silis Høegh erinnern sich die ehema­ligen Band­mit­glieder an die Zeiten des Aufruhrs und Wach­rüt­telns, zu denen sie auf drei Alben den Sound­track lieferten.

Eine Nation kommt nicht zur Ruhe: Derzeit zeichnet sich die Entsen­dung deutscher Sanitär- und Kampf­hub­schrau­bern nach Nord-Mali ab, um die lokale Mission der UN zeitlich befristet zu unter­s­tützen, wie es hieß. Isla­mis­ti­sche Rebellen haben in dem west­afri­ka­ni­schen Land, in dem mehr als 300 verschie­dene Haupteth­nien behei­matet sind, unter anderem zahl­reiche Kultur­schätze zerstört, die Lage bleibt auch für Musiker bedroh­lich. Was es bedeutet, unter derar­tigen Umständen seiner Passion zu folgen, hat Lutz Gregor in Mali Blues (So. 30.10., 19 Uhr) fest­ge­halten und vier malische Musiker porträ­tiert. Er zeigt die Wiege des Blues, der einst von den Sklaven aus Mali auf die Baum­woll­felder Nord­ame­rikas mitge­nommen wurde, als Füllhorn unter­schied­lichster musi­ka­li­scher Stil­rich­tungen und Tradi­tionen, ohne das Elend des krisen- und terror­ge­schüt­telten Landes zu übersehen, das Fana­tismus und Korrup­tion verur­sacht haben.

Mali hat nicht nur den Blues, sondern auch eine rege Rapper-Szene. Die wundere sich mitunter, so Gregor im Interview mit WDR 3, über US-ameri­ka­ni­sche Musi­ker­kol­legen, die sich, statt soziale Probleme gemeinsam anzugehen, offenbar lieber im Sprech­ge­sang gegen­seitig bekämpften. Auch wenn sich die Mitglieder der legen­dären New Yorker Hip-Hopper von „A Tribe Called Quest“ nie derartig dissten: Schmerz­haft waren ihre Ausein­an­der­set­zungen allemal. Das belegt Michael Rapaports Film Beats Rhymes & Life: The Travels of a Tribe Called Quest (Mo. 31.10., 19 Uhr), der ihren kome­ten­haften Aufstieg Ende der 1990er-Jahre, die Reunion-Tour und die unter­schied­li­chen musi­ka­li­schen Vorstel­lungen vor allem der Mitglieder Q-Tip und des im März dieses Jahres verstor­benen Phife Dawg doku­men­tiert. Manchmal eint Musik eben nicht, sondern besiegelt auch das Ende eines gemein­samen Weges.

Gleich­wohl sich im Iran poli­ti­sche Entspan­nung und ein mitunter libe­ra­lerer Umgang mit Kultur­schaf­fenden bemerkbar macht: Der weite Weg zur Kunst­frei­heit ist noch immer steinig, vor allem für die junge Gene­ra­tion, die sich von west­li­chen künst­le­ri­schen Darstel­lungs­formen begeis­tern lässt. In Raving Iran (Do. 03.11., 19 Uhr) nimmt Susanne Regina Meures den Zuschauer mit auf die atemlose Achter­bahn­fahrt zweier Techno-DJs, die sich für ihre Profes­sion sämtliche Verbote igno­rieren. Der Film gewährt erstaun­liche Einblicke in die florie­rende und verbotene Party­szene Teherans und offenbart in seinem Verlauf drama­ti­sche Lebens­ent­schei­dungen der beiden Prot­ago­nisten.

Krautrock – Eigent­lich eine wenig schmei­chel­hafte Bezeich­nung für deutsche Gruppen, die vor allem in den 1970er-Jahren populär waren. Ironi­scher­weise waren es vor allem jene Musiker aus diesem unserem Sauer­kraut­land, die stets und überall auf der Welt auf der Suche nach neuen Tönen und Impulsen waren. Eines der besten Beispiele ist die Gruppe Embryo, die sich mit großer Entde­cker­lust und ausran­giertem Kreis­spar­kas­senbus vor fast 40 Jahren über den Landweg von Deutsch­land aus nach Indien aufmachte. Wo sich die Gele­gen­heit ergab und Einhei­mi­sche mitmachten, wurden künst­le­ri­sche Stopps eingelegt, was nicht immer so einfach war. Mit auf die Walz ging damals Werner Penzel, seine Vaga­bun­den­ka­ra­wane (Fr. 04.11., 19 Uhr) ist ein heraus­ra­gendes Zeit­do­ku­ment, für den Kultu­ren­treff to go fanden er und sein Team mal erstaun­lich humor­volle, mal fast schon entrückt-traum­hafte Bilder. Und so wie Embryo für die Musik, lebt auch Penzel nach wie vor für den Film: Die ethno­lo­gi­sche Reihe zeigt außerdem sein neuestes Werk Zen for Nothing (Mi. 02.11., 19 Uhr), in dem der Wahl­ja­paner Penzel den Aufent­halt der Schweizer Schau­spie­lerin Sabine Timoteo im buddhis­ti­sches Kloster Antaiji porträ­tiert und die wohl meist­ge­stellte Frage der west­li­chen Welt »Bringt das was?« auf den Prüfstand stellt.

Auch Spiel­filme finden bei den 16. Ethno­lo­gi­schen Filmtagen ihren Platz. Sinni­ger­weise spielt in allen die Natur eine wichtige, wenn nicht die Haupt­rolle. Lee Tamahori plat­zierte die Romeo-und-Julia-Geschichte seiner Maori-Saga Mahana (Sa. 05.11., 19 Uhr) vor die Kulisse der Ostküste Neusee­lands, was ihr einen Hauch von Western und noch mehr Dramatik verleiht. In Nomaden des Himmels (Sa. 29.10., 19 Uhr) macht eines Tages ein Meteo­ro­loge aus der Fremde Halt bei Pfer­de­züch­tern im kirgi­si­schen Hoch­ge­birge. Natur und Technik, Tradition und Moderne sind die Antago­nis­ten­paare in diesem Liebes­drama von Mirlan Abdy­ka­ly­kovs. Und wer die Kino-Über­ra­schung des Frühjahrs Der Schamane und die Schlange – Eine Reise auf dem Amazonas (So. 06.11., 19 Uhr) von Ciro Guerra verpasst hat, bekommt jetzt noch einmal die Gele­gen­heit, das opulente, oscar­no­mi­nierte Amazonas-Abenteuer in Schwarz­weiß auf der großen Leinwand zu erleben. Die Geschichte des Einge­bo­renen Kara­ma­kate, der auf der Suche nach Über­le­benden seines Stammes ist und zwei auslän­di­schen Forschern bei der Suche nach einer seltenen Pflanze helfen soll, verfilmte der Kolum­bianer in enger Zusam­men­ar­beit mit den Cubeo und Wanano, zweier indigener Amazonas-Ethnien. Vor Dreh­be­ginn verbrachte ein echter Schamane eine Nacht im Urwald, um diesem »behutsam das Film­pro­jekt zu erläutern«, erzählte Guerra der New York Times. Eine Vorbe­din­gung, die von ihm respek­tiert und akzep­tiert wurde: »Wenn sich der Urwald gegen dich richtet, wirst du krank, es passieren Unfälle, alles Mögliche kann passieren – das haben uns die Menschen der Amazonas-Stämme sehr deutlich gemacht.«

16. Tage des Ethno­lo­gi­schen Films vom 28. Oktober bis 6. November 2016
KIM-Kino im Einstein, Einstein­straße 42