31.01.2013

Im Wolken­ku­ckucks-heim der Hoch­h­aus­felder

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Zweifacher Gewinner: Für Scherbenpark von Bettina Blümner gab es den Drehbuch- und Darstellerinnenpreis

Wo sind die Wunden? – Das Festival Max-Ophüls-Preis zeigt den deutschen Film zwischen Kunstanspruch, Geldnot und Dilettantismus

Von Rüdiger Suchsland

»Shot on location in West-Berlin.« Das steht im Nachspann dieses Films aus dem Jahr 2012. Die provo­ka­tive Ironie in Dragan Wende West Berlin macht Sinn: Nach einer guten Dekade mit viel Ostalgie wendet sich das deutsche Kino nun den west­deut­schen Migra­ti­ons­hin­ter­gründen zu. In wenigen Wochen wird man das im Kino erleben, in der BRD-Tour-de-Force Quellen des Lebens, dem neuen Film von Oskar Roehler, dem bei der 34. Ausgabe des deutsch­spra­chigen »Festival Max-Ophüls-Preis« in Saar­brü­cken die dies­jäh­rige Werkschau gewidmet war. Aber auch die Filme junger Regis­seure unter­su­chen plötzlich explizit West­deut­sches: Lena Müller und Dragan von Petrovic erzählen in ihrem Debüt das Leben von Dragan und seinen Freunden, Jugo­slawen, die im West-Berlin der 70er und 80er Jahre von Türste­hern zu kleinen Fürsten des Nacht­le­bens wurden. Der jugo­sla­wi­sche Pass war »der beste der Welt«, denn man konnte die Mauer in beide Rich­tungen unbe­hel­ligt über­queren, konnte dealen und schmug­geln, was das Zeug hielt. Es gab Frauen, Drogen und Cham­pa­gner im Überfluss – aber ab 1990 war es mit dem Glück schnell vorbei. Heute arbeitet Dragan wieder als Türsteher in Wilmers­dorfer Puffs, und ist froh, wenn das Geld für Bier und Wodka reicht – aber immer noch trägt er weiße Slipper zum leicht beschmud­delten weißen Anzug, hält die Kippe lässig in der Linken; ein cooler Drifter »lost in tran­si­tion«.
Dragan Wende West Berlin, der am Samstag in Saar­brü­cken verdient den Doku­men­tar­film­preis gewann, ist eine spannende, sehr gelungene Archäo­logie des verges­senen Berlin des Kalten Kriegs in Zeiten des Tauwet­ters, und vergisst auch das Ost-Berliner Nacht­leben nicht, »Coco Loco« und Palace-Hotel, wo die Tran­sit­gäste sich austobten...
»Germany? Mausetot.« sagt er dann »Ich bau 'ne neue Mauer, 10 Meter höher. ... Der Geruch [im Osten] wird 100 Jahre bleiben.«

+ + +

Asphalt­stadt. Eine weitere zu wenig sichtbare Seite Berlins zeigt der vom Theater bekannte Nuran David Calis: Seinen Woyzeck hat er da gedreht, wo Berlin noch wie New York aussieht: Im Wedding im Sommer. Büchner meets Taxi Driver in diesem apoka­lyp­ti­schen Strudel aus Welt­un­ter­gangs­phan­tasie und Paranoia, und das im Stück viel verwen­dete Wort Moral bekommt plötzlich eine andere Bedeutung, wenn es in einen mosle­misch-funda­men­ta­lis­ti­schen Kontext gestellt wird. Tom Schilling spielt diesen »Woyzeck« der Asphalt­s­tädte als verschwitzten Gegenpol seines Oh Boy-Dandys, Nora von Wald­stät­tens Marie ist ein hilfloser Engel der Straße.

+ + +

Verhält­nis­mäßig­keit der Mittel. »Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstösst« – kein Gerin­gerer als Heinrich von Kleist schrieb dies, und gleich doppelt zitiert es Aron Lehmann, Student an der HFF Potsdam, in Kohlhaas oder Die Verhält­nis­mas­sig­keit der Mittel (Publi­kums­preis) – einem nicht weniger rasanten, nicht weniger origi­nellen Zugang zu einem klas­si­schen Stoff und eine der leider viel zu wenigen erwach­senen Komödien – nicht zu verwech­seln mit Klamotten – im deutschen Gegen­warts­kino. Lehmanns Film ist nicht etwa die text­ge­treue Kleist-Verfil­mung, die der Titel erwarten lässt. Doch dies ist eine geist­reiche Variation und Aktua­li­sie­rung des Kleist-Stoffes, die weit mehr mit dem Geist dieser klas­si­schen Geschichte um einen Einzelnen zu tun hat, der eine ihm wider­fah­rene Unge­rech­tig­keit nicht akzep­tieren will, und darüber vom sympa­thi­schen Idea­listen zum zornigen Wüterich wird, als manch brave Nacher­zäh­lung. Haupt­figur ist in diesem Fall der von Robert Gwisdeck intensiv gespielte Regisseur, dem am ersten Drehtag einer epischen Kleist-Verfil­mung die Finan­zie­rung platzt. Doch er dreht weiter, mit dem übrig geblie­benen Teil des Teams, ohne Geld und große Ausstat­tung, mit Hilfe einiger Dorf­be­wohner. In einer Mischung aus Terry Gilliams Fimka­tatstro­phen­doku Lost in La Mancha und Truffauts Ameri­ka­ni­scher Nacht gelingt Lehmann eine subtile Reflexion des deutschen Films in seiner gegen­wär­tigen Lage zwischen Kunst­an­spruch, Geldnot und Dilet­tan­tismus. Kohlhaas... ist sehr witzig, und nur gele­gent­lich zu albern, ohne aber Kleists Abgrün­dig­keit je zu verraten.

+ + +

Idea­lismus und innere Wider­sprüche. Wie bei diesem, so fiel bei vielen Filmen eine neue Lust am Impro­vi­sieren auf. Mitunter ist diese auch schierem Geld­mangel geschuldet: Das gilt für Freiland vom Berliner Moritz Laube, ein origi­neller Versuch, sich dem poli­ti­schen Themen­feld rund um »Occupy«, Piraten und Krisen­dia­gnose anzu­nehmen. Ein geschei­terter Lehrer und ein Krisen-Wander­pre­diger gründen irgendwo südlich vor den Toren Berlins einen eigenen Gegen-Staat um der Krise zu trotzen. Schnell finden sich dort allerlei schräge Typen und Geschei­terte ein, noch schneller implo­diert der Idea­lismus – mag dies nun am Ende an der vom Dorf­bür­ger­meister einge­schleusten blonden Spionin liegen oder an den bekannten »inneren Wider­sprüchen« namens Unter­ver­sor­gung und Repro­duk­ti­ons­krise. Freiland, den man auch als späte DDR-Parodie verstehen kann, funk­tio­niert gut als Satire, verschenkt aller­dings den Ernst seines Stoffs, weil dem Zuschauer keine Gele­gen­heit bleibt, sich auf die Figuren einzu­lassen und mit ihren Ideen zu sympa­thi­sieren. Er verrät daher die Utopie, von der er handeln möchte.

+ + +

Kapi­ta­lismus in Schwaben. Ein Kalb wird geboren. Schwer ist das Handwerk der Geburts­helfer, mit aller Kraft, mit Schweiß, Seilen und einer Winde gehen Vater und Sohn zu zweit zur Sache und bringen alles schließ­lich zu einem Happy End: Eine präch­tiges neues Lebewesen wird im Stroh getrocknet, Musik setzt ein, Hof und Feld sind sonnen­um­schienen... Das Glück dieses Anfangs täuscht aber, jeden­falls zum Teil. Denn diese hervor­ra­gend gelungene, viel­schich­tige Lang­zeit­studie über zwei Bauern im Kreis Sigma­ringen, zeichnet das Landleben keines­wegs als Idylle: Harte Arbeit ist es heute, ein Bauer zu sein, und ob sie belohnt wird, ist keines­wegs sicher. Denn sinkende Preise, Druck der indus­tri­ellen Konkur­renz, und die Macht der Büro­kratie machen den Bauern zu schaffen.
»Schwä­bisch mit Unter­ti­teln« stand in der Ankün­di­gung zu dem Film Sauacker, der jetzt auf dem wich­tigsten Schau­fenster des deutsch­spra­chigen Kino­nach­wuchs', im Doku­men­tar­film­wett­be­werb seine Urauf­füh­rung erlebte. Seit 1725 hat die Familie Kienle ihren Hof in Laiz im Kreis Sigma­ringen, Sohn Philipp soll den Hof bald in zehnter Gene­ra­tion über­nehmen. Aber noch ist Vater Konrad am Ruder. Mit viel Geduld, Sensi­bi­lität und spürbarer Sympathie zu seinem Gegen­stand gelingt dem Regisseur Tobias Müller, der selbst in Sigma­ringen geboren und aufge­wachsen ist, in seinem unge­wöhn­li­chen Heimat­film das Portrait einer Familie, wie einer Lebens­weise. Und so wird der Zuschauer zum Zeugen von Dialogen wie diesen: »Man muss auch mal ein Tal durch­stehen.« sagt Vater Konrad »Du bist nur im Tal.« antwortet der Sohn; »heute einen Hof zu halten, ist 'ne Kunst« erklärt der Vater, und verlangt, das der Sohn seiner Erfahrung vertraut. Aber die Mutter ermuntert Philipp: »Du musst deinen eigenen Weg gehen.« Der Sohn muss nebenbei arbeiten, und auch der Vater verdient sich etwas dazu – als Zeitungs­aus­träger der »Schwä­bi­schen Zeitung«. Ihr Verhältnis ist konflikt­reich, aber doch von großem Respekt und Liebe geprägt. Und Philipp opfert viel, um den Hof zu halten, und schließ­lich weiter­zu­führen: Sogar als ihn irgend­wann die Freundin Manu, die doch so gut zu ihm passt, dann irgend­wann verlässt, erschüt­tert ihn das nicht in seinem Entschluss.
Sauacker erzählt zugleich eine univer­sale Geschichte vom Kapi­ta­lismus auf dem Land, der Macht­ergrei­fung der Betriebs­wirt­schaftler und Banker – letzterer vergleicht im Film sein Verhältnis zu »seinen« Bauern mit dem Verhältnis der Bauern zu ihren Milch­kühen –, vom häss­li­chen Gesicht der heutigen Land­wirt­schaft: Die Politik sagt, was gefördert wird; was gefördert wird, macht der Bauer. Wenn es überall nur Mono­kultur gibt, steigt der Para­si­ten­druck, und es gibt immer mehr Chemie und Insek­ti­zide. Das macht der Boden nicht lange mit. »Das ist praktisch Ausbeu­tung.« resümiert Philipp bitter, »Einfach nur: Kohle machen. Da muss ich mitziehen – ob ich das will, oder nicht.«

+ + +

Little Lost Girl. Vor allem eine sehr gelungene Regie zeichnet Scher­ben­park aus, das Spiel­film­debüt der Berli­nerin Bettina Blümner, die 2007 bereits mit dem Doku­men­tar­film Prin­zes­sin­nenbad beacht­li­chen Erfolg hatte. Jasna Fritzi Bauer spielt die so verlorene, wie begabte 17-jährige Sascha, die ohne Mutter in brüchigen Verhält­nissen und anonymen Vorstadt-Hoch­h­aus­fel­dern im Stutt­garter Umland aufwächst. Auf die Anmache eines Nach­bar­fle­gels: »Wenn Du nicht bald ein bisschen netter bist, mach ich Dir das Leben zur Hölle.« antwortet sie: »Zu spät. Is schon.« Sie lernt einen Jour­na­listen und dessen Sohn kennen, die gleich­falls ihr Kreuz zu tragen haben, sich aber rührend um Sascha kümmern, und ihr neue Lebens­per­spek­tiven öffnen. Scher­ben­park war einer der über­ra­genden Filme des Wett­be­werbs. Neben dem Preis für die beste Darstel­lerin gewann er auch den Dreh­buch­preis, obwohl hier gerade nicht seine Stärke liegt: Was in Alina Bronskys Roman­vor­lage funk­tio­niert, wirkt auf der Leinwand zu überladen und konstru­iert. Das beste an ihm ist sein facet­ten­rei­ches Bild urbanen Lebens und das Portrait eines jungen Mädchens mit vielen Eigen­schaften.

+ + +

Da fällt auch der schönste Satz des Festivals: »Ich brauch' kein Mathe mehr... Ich bin schwanger.«

+ + +

Zuviel, zuviel. Lust an Klassik, Interesse für die Provinz – dies sind einige der aktuellen Tendenzen des deutschen Kinos, so, wie es sich in Saar­brü­cken darstellte. Es gibt auch, wie gesagt, unglaub­lich viel Impro­vi­sie­rerei. Das wird mit der zeit redundant, das ist oft nur Klischee von Schau­spie­lerei, und manchmal nur Geld­mangel.
Generell über­zeugten die deutschen Filme in Saar­brü­cken häufig visuell, in Insze­nie­rung, Kamera und Schnitt, während die Dreh­bücher oft deutliche Schwächen aufwiesen: Den Filmen fehlt der große Bogen, der Blick in die Tiefe der Gesell­schaft, die Relevanz. Oft überwiegt plumpe Emotio­na­li­sie­rung, Poli­ti­sches wirkt immer zu vorge­dacht und durch­de­kli­niert. Auch ein Büchner-Drehbuch funk­tio­niert nur noch, wenn man es in einem Milieu arabi­scher Einwan­derer ansiedelt; Auch Unpo­li­ti­sches ist jeden­falls über­frachtet: Immer zuviel, zuviel. Aber wenn man auf Reduktion setzt, dann wird es wieder schnell irrele­vant. Viel­leicht braucht der deutsche Film endlich die Einfüh­rung von Dreh­buch­coa­ches, von Drama­turgen, die kein eigenes Interesse haben, nicht auch noch Autor sein wollen, sondern einen Blick von Außen, fremd, neugierig, auf die Stoffe werfen.
Ande­rer­seits gilt natürlich auch hier: Viele Köche verderben den Brei. Zu den Regis­seuren, den Autoren, den Produ­zenten, von denen ja keiner mehr bloßer Geld­be­schaffer sein will – Pfui Teufel! –, sondern bitte­schön »Auto­ren­pro­du­zent«, Mitschreiber, Mitcaster, Mitre­gis­seur, treten dann noch die Redak­teure der Fern­seh­an­stalten, gleich zwei oder drei am besten, die wollen auch noch Co-Produ­zenten sein, also alles – dann verliert der Film sich endgültig aus den Augen, der Filme­ma­cher seinen Stoff.
Es geht in vielen Saar­brü­cken-Filmen, so könnte man sagen, immer wieder um das richtige Leben. Thema­tisch immer wieder zwei Menschen, die sehr sehr gegen­sätz­lich sind, und die in ihren Gegen­sätzen vom Filme­ma­cher zusam­men­ge­worfen und aufein­an­der­los­ge­lassen werden. Das gilt für Talea und Der Glanz des Tages (s.u.), das gilt für Scher­ben­park, für Freiland, für Woyzeck, das gilt sogar für Sauacker. Das ist so häufig, dass es auffällt. Eine Mode offenbar.

+ + +

Dreh­buch­pro­blem. »Die leben doch in einem Wolken­ku­ckucks­heim«, sagt einer, der auch viele deutsche Filme sieht. Und wir rätseln beim Frühstück im »Leidinger«, dem Ort, wo man irgend­wann alles trifft, und auch mal mit Nora von Wald­stätten oder Fred Kelemen frühs­tückt, wo beim deutschen Film das wehtun abfängt? Wo sind die Wunden? Außer bei Roehler. Der verkrachte sich prompt öffent­lich mit Hannelore Elsner – »was du da redest, diese Anekdoten werden auch beim 100. Mal nicht wahrer.«
Natürlich ist das Reden über Wunden, Schmerzen, Härte, etc. auch etwas blöd und allemal verdächtig. Aber wenn man viele dieser Filme sieht, möchte man schon irgend­wann etwas entdecken, was die Filme­ma­cher wirklich inter­es­siert. wo man spürt – wie bei Roehler – das müssen sie jetzt erzählen. Das muss raus. Mit was zum Teufel beschäf­tigen sich die Leute? Was den Deutschen auch gemeinsam ist, ist ein unsi­cheres Tasten. Sie gehen egal was sie erzählen, nicht weit genug,sie scheuen das Extrem.
Deutsch­land habe ein Dreh­buch­pro­blem – die These ist nicht neu. Man meint damit, dass es für Dreh­bücher zu wenig Zeit und hzu wenig Geld gibt, zu wenig Wert­schät­zung. ich glaube zwar auch, dass es ein Dreh­buch­pro­blem gibt, denke aber, das liegt eher darin, dass die Leute viel zu viel zeit haben. dass sie jahrelang rummachen, vor sich hingurken. Da wird dann nichts mehr schärfer, sondern nur stumpfer. Mike Boal schrieb das Drehbuch zu Zero Dark Thirty in sechs Monaten. Warum geht sowas nicht bei uns? Nicht ein einziges Mal?

+ + +

Öster­rei­chi­sche Methode. So war es alles andere, als Zufall, dass wieder – 2012 gewann Markus Schlein­zers MICHAEL – zwei der wich­tigsten Preise an öster­rei­chi­sche Filme gingen: Die öster­rei­chi­sche Methode aus Genau­ig­keit und Präzision führt eben nicht nur bei den Exzeß-Stars Michael Haneke und Ulrich Seidl zu heraus­ra­genden Ergeb­nissen, sondern auch bei Haneke-Schülerin Katharina Mückstein (Regie­preis), die mit Talea eine Mutter-Tochter-Geschichte erzählt. Der Ophüls-Preis ging an den sehr einfall­rei­chen, origi­nellen, aber nicht unpro­ble­ma­ti­schen Der Glanz des Tages von Rainer Frimmel und Tizza Covi. Die Mock­u­m­en­tary über einen Onkel und seinen Neffen führt mit Zirkus und Theater zwei Typen der Kunst zusammen, die sich auch im Kino verbünden.