02.02.2012

»Ich möchte in der Badewanne rauchen können.«

Michael von Markus Schleinzer
Gewinner des Max-Ophüls-Preises: Michael von Markus Schleinzer

Stille und laute Rebellionen: Die Filme beim Nachwuchsfestival von Saarbrücken künden vom kommenden Aufstand

Von Rüdiger Suchsland

Saar­brü­cken, im Januar. »Wo sind die Kurzfilme?« – der Chor wurde stärker über die Tage in Saar­brü­cken. Im Singsang into­nierte man diese Zeile vor jedem Beitrag im Langfilm-Wett­be­werb um den renom­mierten Max-Ophüls-Preis, ein wirksamer Protest aus dem Publikum, dagegen, dass man diesmal nicht mehr, wie bisher immer vor dem Langfilm ein oder gar zwei Kurzfilme zu sehen bekam, die hier auch Preise gewinnen können. Das Festival möchte die Kurzfilme aufwerten, indem man ihnen eigene Programme und eine eigene Jury gibt, doch dieser theo­re­tisch richtige Gedanke bedeutet in der Praxis die Ausgren­zung des Kurzfilms aus dem übrigen Festival. Dabei macht gerade die Verbin­dung den Charme eines Nach­wuchs­film­fes­ti­vals aus, unter denen Saar­brü­cken zwei­fellos das bedeu­tendste in Deutsch­land ist. Zum Nachwuchs gehören aber eben auch solche ersten Arbeiten, filmische »Visi­ten­karten«, unter denen man zwar natur­gemäß viel Belang­loses findet, aber immer auch über­ra­schende Qualität. Und nach einigen Jahren dominiert die positive Erfahrung, hier schon das Frühwerk eines später bekannten Filme­ma­chers gesehen zu haben, jede Enttäu­schung. In diesem Jahr befassten sich auffal­lend viele Kurzfilme mit deutschen Auslands­mi­litä­r­ein­sätzen. Darunter war Susanna Leus Tage der Rückkehr der über­zeu­gendste – wie Christoph Schulers Gefallen beleichtet sie das Schicksal eines heim­ge­kehrten Soldaten, die mit dem Einsatztod eines Freundes fertig werden muss. Die neue Offenheit fürs Genrekino zeigt sich auch am vermehrten Auftau­chen histo­ri­scher Stoffe: Nora Fing­s­cheidts Zwischen den Zeilen handelt mit Mut zum Pathos von der Vertrei­bung der deutschen Minder­heit aus Ungarn 1946 – Paul Florian Müllers stil­voller 1949 ist ein 17-minütiger Film Noir über mora­li­sche Korrup­tion und Anpassung, der nicht zufällig im Grün­dungs­jahr der Bundes­re­pu­blik ange­sie­delt ist.

Auch in den Lang­filmen sind eine Lust am Genre und ganz allgemein ein neuer Ernst und Wider­stands­geist im Kino der jüngsten Filme­ma­cher-Gene­ra­tion erkennbar. Die persön­li­chen Nabel­schau­filme sind so selten geworden wie Bezie­hungs­dramen, und die immer noch gele­gent­lich auftau­chenden Doof-Klamotten gewinnen zumindest keine Preise mehr. Dagegen gibt es Filme wie Lars Blumers Mike, der zwar auch manchmal hart an den Geschmacks­ner­ven­grenzen entlang­kratzt, aber doch immer wieder inter­es­sant bleibt. Der Film handelt in fran­zö­si­scher Sprache und auf Fran­zö­sisch (was waren nochmal die Teil­nah­me­kri­te­rien hier?) von einem jungen Typ, der nicht unsym­pa­thisch ist, aber doch etwas zu dumm, um zu irgend­einer Form von Iden­ti­fi­ka­tion einzu­laden. Die Haupt­figur schwankt zwischen den Versu­chungen eines anstän­digen, aber irgendwie lang­wei­ligen Lebens und denen der Klein­kri­mi­na­lität ziellos hin und her – und die Moral von der Film­ge­schicht' läuft auf ein »einmal Loser, immer Loser« heraus. Am Ende bekam der Film recht über­ra­schend den hoch­do­tierten Dreh­buch­preis.
Oder wie Crashkurs, der in Spiel­film­form die Geschichte der Bewegung der Banken­ge­schä­digten erzählt, die sich nach der Krise von 2008 formierte. Brave Bürger, oft schon ältere Menschen, die mit Revo­luz­zer­ge­habe nichts am Hut haben, erheben hier ihre Stimme und ärgern mit Witz und Hart­nä­ckig­keit die Konzerne in ihren Glas­palästen. Anika Wangards Film ist erfri­schendes Agitprop-Kino, aber am Ende nicht radikal genug. Um nach­hal­tiger zu sein, ist der Film zu lasch, müsste auf Gefühls­ver­s­tär­ker­musik und drama­tur­gi­sche Mätzchen verzichten, wie jenes, dass die Tochter der Haupt­figur noch mit der Anwältin ihrer Eltern ein lesbi­sches Coming-out erlebt, und überhaupt etwas anar­chis­ti­scher sein – wie ihre Rent­ner­haupt­fi­guren, die die Filialen der vor Gericht gezerrten Betrü­ger­bank mit faulen Eiern ausräu­chern und mit Sitz­streiks lahmlegen.

Besser gelingt die Grad­wan­de­rung zwischen extrem schwie­rigen Produk­ti­ons­be­din­gungen und künst­le­ri­schem Ehrgeiz dem Film Dr. Ketel von Linus DePaoli. Es ist schon für sich genommen eine Leistung, mit Amanda Plummer und Lou Castell zwei Stars des europäi­schen Auto­ren­kinos dafür zu gewinnen, bei einem Abschluss­film wochen­lang ohne Gage und First-Class-Hotel – »Ich möchte in der Badewanne rauchen können«, war angeblich Plummers einzige Bedingung, bevor sie zusagte – mitzu­ar­beiten, mit Laien zu drehen, und bei einem Film über den man im Voraus nie sagen kann, wo er denn wohl je zu sehen wird. In diesem Fall kann sich das Ergebnis aller­dings sehen lassen: Auch Dr. Ketel ist in Schwarz­weiß gedreht und voller kennt­nis­rei­cher Anspie­lungen auf den Film Noir, dazu mischt der Regisseur – ohne das alles zur Zita­ten­samm­lung schrumpft – Elemente des Horror­kinos und der Science-Fiction. In einer dysto­pi­schen Berliner Welt von Über­morgen exis­tieren keine Kran­ken­kassen mehr, und statt Polizei nur noch private Sicher­heits­firmen. Dr. Ketel ist der Name eines myste­riösen Medi­zi­ners, der mit viel Kenntnis und Empathie, des Nachts die Armen und Entrech­teten von Neukölln behandelt. Die Medi­ka­mente klaut er aus Apotheken. Plummer spielt eine Profi­lerin, die ihm auf die Spur kommt, aber bald sympa­thi­siert. Manchmal ist das etwas verquas­selt, aber starke Bilder und Figuren helfen über kleine Schwäche­mo­mente hinweg – Dr.Ketel handelt vom Glück der Ille­ga­lität und ist eine so stil­be­wusste wie provo­ka­tive Zuspit­zung der Gegenwart. In Oldenburg gewann er bereits den Haupt­preis, in Saar­brü­cken nun die Auszeich­nung in einer Neben­ka­te­gorie. Wenn man aller­dings mehr über die Produk­ti­ons­be­din­gungen weiß – nur 10.000 Euro Etat, keine Film­för­de­rung – muss man die Leistung des Films noch höher schätzen. Linus DePaoli nannte nicht zufällig Roland Klick als seinen Lehr­meister, und zitierte dessen Maxime, wichtig sei eigent­lich nur, »dass wir die Welt wieder als etwas Phan­tas­ti­sches wahr­nehmen, und uns inspi­rieren lassen vom Material«.

Wie auch Hella Wenders' einfühl­samer Doku­men­tar­film Berg Fidel, auf den wir gleich noch zu sprechen kommen, stammen Dr. Ketel und Crashkurs von der Berliner Film­hoch­schule DFFB und bestä­tigen im Vergleich das dort gewach­sene Modell einer Kunst­aka­demie, die keine Film­hoch­schule sein will, wie die anderen, in denen tech­ni­sche Fragen und »Handwerk« mehr und mehr ins Zentrum rücken, deren Filme dann aber oft glatt und austauschbar aussehen; Vorstufen einer Fern­seh­kar­riere. Wer will, kann die genannten Filme auch als klare interne Posi­ti­ons­be­stim­mung und Akt des Wider­stand sehen, der sich gegen neuere Tendenzen innerhalb der DFFB richtet – zumindest in der Wahr­neh­mung vieler heutiger wie ehema­liger Studenten –, in letzter Zeit Spiel­räume und Frei­heiten zu verengen, den Main­stream anzu­vi­sieren.

Auch Berg Fidel brauchte offen­kundig viel Frei­heiten und viel Vertrauen, um überhaupt möglich zu werden. Zugleich ist es ein stiller, ruhig beob­ach­tender Film, der nichts forciert, und der seine poli­ti­schen Konse­quenzen weitaus vorsich­tiger und zarter explizit werden lässt, als z.B. Crashkurs. Explizit werden sie aller­dings schon. Der Titel bezeichnet den Namen einer inte­gra­tiven Schule, die von sehr vielen, sehr unter­schied­lich Lern­be­hin­derten besucht wird. Gerade wenn man hier – wie ich – einen Thesen­film und im schlechten Sinne »Gutmen­schen­kino« befürchtet hat, wird man sehr angenehm über­rascht. (Btw: Ich kenne das Argument, ein Begriff wie »Gutmen­schen­kino« sei selbst ideo­lo­gisch. Da kann ich nur mit dem Satz von Adorno kontern, dass Güte die Defor­ma­tion des Guten ist. Gemeint ist also genau­ge­nommen das gütige Kino.) Der Film greift sich vier Kinder heraus, und stellt sie genauer vor. Es folgen viele tolle Szenen, und der ganze Film ist voller Zurück­hal­tung und Sensi­bi­lität. Manchmal ist alles ein bisschen sehr nett, manchmal etwas zu harmo­nisch, ein Eindruck, zu dem auch die Musik beiträgt. Eine inter­es­sante Erfahrung, die im Film mit reflek­tiert wird, ist die, dass die Haltung der Schule, ihre Schüler möglichst gleich zu behandeln, die der Film nach meinem Eindruck über­nehmen möchte, nicht funk­tio­niert: Jeder Zuschauer entwi­ckelt bestimmte Sympa­thien, und hier vor allem ein Junge, der kleine David, der eher genial und hoch­be­gabt als behindert ist, eindeutig die besten Karten. Denn David, der am Stickler-Syndrom leidet, ist ein hell­wa­cher Beob­achter, ein großar­tiger Erzähler, er kompo­niert ziemlich gut, inter­es­siert sich für Mathe­matik, und langweilt sich in der Schule. Trotzdem – oder darum? – wird er an zwei Gymnasien abge­wiesen und besucht jetzt eine Montes­sori-Schule. Hinzu kommt, dass sein fami­liäres Umfeld auch inter­es­santer ist als das der übrigen Kinder. Bestimmt hat die Regis­seurin überlegt, ob sie einen Film nur über ihn machen sollte, dass sie das nicht getan hat, war keine leichte, aber die richtige Entschei­dung.

Den Haupt­preis gewonnen hat der Öster­rei­cher Markus Schleinzer mit Michael, der letzten Donnerstag auch in die deutschen Kinos kam. Dieser Sieger­film betonte die Tatsache, dass Saar­brü­cken eben kein deutsches, sondern ein deutsch­spra­chiges Film­fes­tival ist, und wer im Programm dem Kultur­clash zwischen diesen drei Film­kul­turen folgte, musste diese Auszeich­nung der insgesamt sehr klug entschei­denden Jury um Hans W. Geißen­dörfer als sehr verdient loben. Michael, der im letzten Mai im Cannes-Wett­be­werb seine Welt­pre­miere erlebte, ist ein unge­wöhn­lich reifer Film, dem man seinen Debüt­cha­rakter nie anmerkt, und eine zunächst einmal schwer erträg­liche Erfahrung – die dem Sujet aber sehr gerecht wird: Denn lose inspi­riert von den scho­ckie­renden Fällen der Natascha Kampusch und des »Keller von Anstetten« portrai­tiert Schleinzer das Leben eines Pädo­philen, der in seinem Keller einen zehn­jäh­rigen, offenbar entführten Jungen gefangen hält. Ohne je Sympathie für seine Haupt­figur zu haben, und ohne Verharm­lo­sung bewirkt Schlein­zers beob­ach­tende Distanz aber, dass man sehr wider­willig dem Täter seine Würde zugesteht. Als Zuschauer wird man von seinen spontanen Affekten wegge­führt und auf die eigene Mensch­lich­keit zurück­ge­worfen, entfernt sich also immer weiter vom Täter. Und das ist dann wieder eine wohl­tu­ende Erfahrung, zumal Schleinzer auf alle Schock­ef­fekte verzichtet, die Gewalt kaum sichtbar, aller­dings sehr spürbar ist. Und weil einen die zurück­hal­tende Schönheit der Bilder auf die immer wieder neue Frage des Verhält­nisses von Form und Inhalt stößt: Wenn man schlimmen Dingen schöne Gestalt gibt, verklärt man sie nicht, sondern verstärkt noch ihren Schrecken – darum lässt einen dieser sehr gelungene Film lange nicht aus seinen Klauen.

Deut­li­cher um Straf­justiz geht es in Bezug auf ähnliche Fragen auch in Matthias Bittners Doku­men­tar­film Not In My Backyard, der zwei auf Bewährung entlas­sene Sexu­al­täter in den USA begleitet. Ihre Freiheit ist durch eine Fußfessel begrenzt – aus guten Gründen. Zugleich spricht das allen Bewäh­rungs­ge­danken Hohn, so sehr, dass einer der beiden irgend­wann absicht­lich gegen die Auflagen verstößt, weil das Leben im Knast einfacher ist. Eine Wieder­ein­glie­de­rung scheint unmöglich, und so ist der Film auch eine nach­voll­zieh­bare, filmisch sehr spannende Kritik am Umgang mit den Tätern und an der Gesell­schaft, die ihn möglich macht.

Hoch­span­nend war schließ­lich Mark Lombardi – Kunst und Konspi­ra­tion, ein Doku­men­tar­film, in dem Mareike Wegener dem Rätsel um den gleich­na­migen New Yorker Künstler nachspürt, der bis zu seinem myste­riösen »Selbst­mord« wie besessen geistige Land­schafts­bilder malte, hinter deren großer, fast etwas glatter Schönheit sich gezeich­nete Info­gra­fiken über Verstri­ckungen von Politik, Finanz­welt und Terro­rismus zeigen. Was für Lombardi galt, lässt sich auch auf die Jung­filmer in Saar­brü­cken über­tragen: Kunst zeigt uns, wie das Künst­ler­hirn arbeitet, wenn man dazu noch Infor­ma­tionen über Geld und Macht sammelt, oder von vermeint­lich/tatsäch­lich bösen Menschen erzählt, kann auch das Kino wieder richtig gefähr­lich sein.