Was man früher einmal Seele nannte… |
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Schummel nicht: Fabian Hinrichs & Nora von Waldstätten in Schwerkraft |
Die wunderbare Nora von Waldstätten, keine Entdeckung mehr, aber doch immer noch ein neues Gesicht auf deutschen Leinwänden und ganz im Zentrum des diesjährigen Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken, ist glücklicherweise mit Sinn für Ironie gesegnet. Manche Schauspielerinnen hätten Depressionen bekommen, nach dem, was ihr passiert ist. Denn beide Saarbrücken-Berichte der beiden wichtigsten deutschen Tageszeitungen aus Frankfurt und München waren mit einem Foto illustriert, dass die Trägerin des diesjährigen Schauspielerinnenpreise, eben besagte Nora von Waldstätten (s.u.) laut jeweiliger Bildunterschrift hätte zeigen sollen. Tat es aber nicht. Stattdessen druckte man dasselbe Bild von Jule Böwe, was auch für Böwe nicht wirklich ein Kompliment ist. Davon abgesehen hat Fräulein von Waldstetten schwarze Haare, nicht blonde, und ist auch sonst von Jule Böwe durchaus zu unterscheiden. Insofern müsste man schon an ein Komplott glauben, oder an die Vorliebe von Bildredakteuren für blonde Frauen, oder doch einen Zusammenhang damit vermuten, dass die zuständige PR-Agentur bis vor wenigen Wochen noch Blond PR geheißen hatte.
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»Blau ist eine ganz kalte Farbe« insistiert der Architekt, und hätten sie das früher gewusst in Hoffenheim, hätten sie sich vielleicht auch das mit den Clubfarben noch einmal überlegt. So wie alles andere. Um noch besser »die Herzen zu akquirieren«, um noch perfekter »an der Identifikation zu arbeiten.« Nein, Jochen A. Rotthaus, von dem diese Formulierungen stammen, ist kein unsympathischer Mann. Er ist ein Wahnsinniger, produktiv besessen, so wie man das sein muss, wenn man Erfolg haben will im Fußballgeschäft. Rotthaus, Geschäftsführer des Provinzclubs TSG Hoffenheim, der seit 2008 als neureicher Emporkömmling in der Fußballbundesliga für Furore und ebensoviel Stirnrunzeln sorgt, ist der heimliche Hauptdarsteller von Hoffenheim – Das Leben ist kein Heimspiel, der jetzt auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken Premiere hatte. Über vier Jahre haben Frank Marten Pfeiffer und Rouven Rech den Verein in ihrem Dokumentarfilm begleitet, und wenn man Rotthaus und der TSG eines hoch anrechnen muss, dann, dass sie diesen Film überhaupt zugelassen und später auch keine kleinlichen Kürzungen erzwungen haben. Denn nicht immer kommen sie hier gut weg. Rech und Pfeiffer zeigen, wie aus einem verschlafenen Provinzclub ein Fußballkonzern gebastelt wird, wie PR-Denken und Werbersprache den Fußball kapern und Traditionsvereine durch Retortenclubs ersetzt werden. Denn das ist, dies belegt der Film eindrucksvoll, die TSG Hoffenheim im Kern, seit sie der Milliardär Dietmar Hopp übernommen und großzügig ausgestattet hat. Im Zentrum des Films steht einerseits die Saison 2007/2008, als der Aufsteiger aus der Regionalliga sich mit einem Etat, der höher lag, als der aller anderen Zweitligisten zusammen, den Bundesligaaufstieg de facto gekauft hat, als parallel dazu ein internationalen Standards genügendes Stadion aus dem Kraichgauer Acker gestampft wurde und Rotthaus den Club per umfassender Imagekampagne neu erfand: Es geht nur noch um den »Markenauftritt«, darum, rebellierende Altfans ruhigzustellen, und das Stadion voll zu bekommen. »Früher waren es Fans und Spiele, heute sind es Kunden und Produkte.« resümiert ein langjähriger Fan, und es wird klar, dass die Geschichte von Hoffenheim – Das Leben ist kein Heimspiel vor allem ein großartiges Lehrstück des Neoliberalismus ist, eine hochpolitische Parabel über die New Economy und die Verluste, die mit ihr einhergehen und ein Fallbeispiel darüber, wie Marketing und Effizienzdenken alle anderen Lebensbereiche übernehmen. Bleibt noch die Frage, ob ein solches Modell nicht auch in der Politik funktionieren könnte und was das dann wohl erst für Folgen hat?
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Die Folgen des Ökonomismus für jene »Softskills«, die man früher einmal Seele nannte, sind ein zentrales Motiv auch von Schwerkraft vom Berliner dffb-Absolvent Maximilian Erlenwein, der völlig verdient den Max-Ophüls-Preis 2010 bekam und mit drei weiteren Preisen, darunter der ebenfalls hoch dotierten Auszeichnung fürs beste Drehbuch, zum überragenden Sieger wurde: ein beklemmend intensiver Fabian Hinrichs spielt Frederick, einen Bankangestellten mit
dunklen Seiten: Er lebt das graue Leben eines Anzugsträgers, der als Kreditberater an anonymen Schreibtischen faule Kredite verkauft, und abends in der leeren Wohnung zunehmend an sich verzweifelt, und sich nach dem Ausbruch aus seinem tristen Alltag sehnt. »Normal sein, das ist für Arschlöcher.« sagt er irgendwann. Als sich auch noch ein bankrotter Kunde vor seinen Augen tötet, wahrt Frederick die Form, kündigt aber innerlich, und beginnt, gemeinsam mit einem Bekannten von früher
– Jürgen Vogel als Ex-Knacki, der gern Spießer wäre – nachts die Nobel-Villen seiner reichen Kunden auszurauben. Hinrichs Auftritt als Borderline-Person ist großartig, und der Schauspielpreis die überfällige Anerkennung für einen der intensivsten Darsteller seiner Generation; die fabelhafte Nora von Waldstätten (Beste Nachwuchsdarstellerin) ist als Fredericks Exfreundin, nach der er sich weiterhin verzehrt, kaum weniger bezwingend. Die größte Entdeckung aber ist
der Regisseur selbst: Freude am Krimi-Genre und Motive des Autorenfilms mischt er einfallsreich und stilsicher mit lakonisch-absurdem Humor der an Tarantino erinnert, zu einer anarchisch-subversiven Komödie, die die Zuschauer die Sehnsucht nach dem intensiven Leben jederzeit ernst nehmen und nachempfinden lässt. Lange nicht ist man einer Figur bereitwilliger auf die schiefe Bahn gefolgt.
Erlenweins in Leipzig und Halle gedrehter Film, den die Jury mit den Coen-Brüdern verglich,
besticht mit vielen atmosphärisch stimmigen Bildern, und bis in kleine Rollen tolle Nebendarsteller: Jule Böwe, Thorsten Merten. Immer wieder wird der Zuschauer überrascht – SCHWERKRAFT beweist, dass Anspruch und Spaß kein Widerspruch sind, sondern Hand in Hand gehen. Und spätestens, wenn man im Schlussbild ins Gesicht von Nora von Waldstätten sieht, weiß man in diesem wohltuend amoralischen Film, dass sich Verbrechen unter Umständen doch auszahlen.
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Schwerkraft verband die beiden Tendenzen, die sich in Saarbrücken beobachten ließen: Die Rückkehr des Genrefilms ins Autorenkino, und eine neue Neugier auf den Osten. Zum einen auf den Deutschlands, wie etwa in zwei hochinteressanten Kurzfilmen der Bauhaus-Universität in Weimar: Im Herbst kein Lied von Karsten Prühl knüpft nahtlos an das Portrait jener autoritären, latent faschistischen Dorfgemeinschaft an, die Michael Hanekes Das weiße Band ins Auge fasst: Im Deutschland des Jahres 1944 begegnet man einer Familie, in der der Vater ein hartes Regiment führt. Eines Tages beobachten seine beiden Söhne heimlich, wie er im Wald einen notgelandeten US-Piloten erschießt. Diese Tat, wird zum Schlüsselerlebnis dafür dass die Söhne ihre Achtung vor dem Vater verlieren – ein bitterer Abschied von den Eltern. Auch Die Unbedingten von Andreas Jaschke ist ein historischer Film: Die Rekonstruktion der Geschichte der beiden Philosophiestudenten, die sich 1819 einem Geheimbund anschlossen und zum Mörder des Dichters von Kotzebue wurden: Deutsche Gesinnungshelden und Terroristen avant la lettre – ein spannender, schwieriger Stoff, den Jaschke intelligent umsetzte.
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Ganz rau sehen die Straßen am Prenzlauer Berg aus, rund um Wasserturm und Kollwitzplatz. Es gibt keine Münchner Sonnenbrillenträger, keine Kinderwägen und keine Bionade. Die Leute trinken Wodka und Bier, im Park sitzen alte Männer mit langen Bärten und die bunten Werbebanner mit den Wessi-Labels wirken auf den Hausfassaden, die man erst in zehn Jahren verputzen wird, noch wie Fremdkörper: Berlin, im Jahr III nach der Wende – eine verlorene Zeit, an die die Erinnerung zu verblassen beginnt. Wer Abschied von Agnes sah, der seinerzeit auf der Berlinale lief, dem wurde sie wieder ganz präsent, und mit ihm der Verlust jener Momente, in denen Berlin noch die Chiffre war für eine herrliche Utopie. Der Film lief in der Retrospektive für Michael Gwisdek. Gwisdek spielt die Hauptrolle, führte aber auch Regie in diesem spannenden Stasi-Traumspiel, das ungemein viel erzählt über jene Zeit und ihre Paranoia, die im Film durch Radionachrichten immer am Rande präsent ist. Im Publikumsgespräch plauderte Gwisdek dann über seine Erfahrungen mit der Stasi, erzählte von einem erpresserischen Anwerbeversuch des BND – »Die hatten doch auch ihre Leute. Man müsste mal die BND-Akten öffnen.« – und nutzte die Gelegenheit, dem Saarbrücker Publikum noch einmal zu erklären, dass »der Film Das Leben der Anderen nicht das Geringste mit der DDR zu tun hat. Wenn Angela Merkel, die es besser wissen müsste, dann behauptet: Die DDR war so, dann ist das kriminell.«
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Den Dokumentarfilm-Preis gewann aber Silvana Santamarias offenkundiger engagierter Nirgendwo. Kosovo, der eine Roma-Familie portraitiert, die zwischen Abschiebung in Deutschland und Verfolgung in ihrer Kosovo-albanischen Herkunft ihr Leben fristet. Vater Haki lebt quasi auf einer Mülldeponie. In Heimat auf Zeit portraitiert Peter Benedix den Kampf der Bewohner dreier Dörfer in der Lausitz gegen die Vertreibung durch den Braunkohletageabbau – ein Kampf von Bürger-Davids gegen einen Großkonzern-Goliath mit voraussehbarem Ergebnis. Und ein verquerer, moderner Heimastfilm, der immer wieder eine seltsame Poesie entfaltet. Auch in anderen Filmen des Dokumentarfilm-Wettbewerbs fand man ungewöhnliche Themen und Zugänge, ein Mut zum Radikalen und Sperrigen, der auch der Spielfilmkonkurrenz gut tun würde. Denn Festivals sind dafür da, zu irritieren, Diskussionsstoff zu liefern – erst recht wo es um Nachwuchs geht, von dem man die letzte Perfektion sowieso nicht verlangen wird.
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Der übrige Wettbewerb war diesmal solide und ohne große Schwachpunkte, es fehlten aber die wirklich radikalen und kontroversen Stoffe, wie man sie zumindest von der Mischung aus Hochschul-Nachwuchs, Debütanten und jungen Filmemachern erwarten muss, wie sie sich in Saarbrücken alljährlich zum Auftakt des Filmjahres versammelt. Gemeinsam mit den Hofer Filmtagen im Herbst ist Saarbrücken das wichtigste Festival für Newcomer und etablierten Nachwuchs, für junges Independentkino deutscher Sprache – wobei auch das unabhängigste Kino bei uns nicht ohne Fernsehgelder gemacht werden kann. Im Gegensatz zur Berlinale gehen hier die Filmemacher und ihre Werke keinesfalls unter – das Publikum in den gut besuchten Festivalkinos ist zahlreich und applausfeudig.
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Nur ein Werk stand dem entgegen: Philip Kochs Picco (Regiepreis), ein schockierendes, so knallhartes wie erschütterndes Knastdrama. Koch rekonstruierte jenen Foltermord, der sich 2006 in einer Gefängniszelle in Siegburg ereignete, in Spielfilm-Form. Die dramaturgische Überhöhung funktionierte nur zum Teil, zumal die Dialoge sehr »geschrieben« klangen, vor allem aber, weil deutsche Schauspieler, wenn sie in fein säuberlich verschmutzten Räumen kaputte Proleten spielen, am Ende eben doch immer vor allem deutsche Schauspieler bleiben – mögen sie wie in diesem Fall auch noch so begabt sein. Zumal man immer den Verdacht hat, würden die tatsächlichen Akteure dieser »wahren Geschichte« im Raum stehen, wären sie noch um einiges unerträglicher. Doch Picco war ein intensives, produktiv unangenehmes Kammerspiel, das einen auch nach Tagen nicht losließ – und dies nicht allein aus sozialpädagogischer Beunruhigung.
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Auch Andreas Arnstedts Tragikomödie Die Entbehrlichen – Verleihförderpreis –, ließe sich unter »Sozialdrama« subsummieren, hätte der Regisseur seinen Film nicht geschickt ins Traumhafte überhöht. Auch gelingt es Arnstedt, in seinem deprimierenden Plot – ein Zwölfjähriger lebt tagelang mit dem toten Vater allein in der Wohnung und erinnert sich an sein Leben als Alkoholikerkind – komische Seiten zu finden. Mit André Hennecke hat der Film zudem einen Hauptdarsteller, dem man stundenlang zusehen mag – selbst da, wo er mal chargiert. Am Rande des Festivals erklärte Hennecke seinen Austritt aus der Deutschen Filmakademie, weil der Low-Budget-Film im Vorauswahlverfahren für den Deutschen Filmpreis verfahrenswidrig benachteiligt worden war. Wie der Regisseur am Rande des Festivals erzählte, war der Film der Vorauswahljury gegen den Willen einiger Mitglieder nur 20 Minuten lang gezeigt worden – auf internen Protest wurde nicht reagiert.
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Gleichfalls mit verhältnismäßig wenig Geld, aber ungleich aufwendiger inszeniert wurde Waffenstillstand von Lancelot von Naso, der vor allem interessant ist, weil er etwas versucht, was man im deutschen Kino sonst kaum sieht: Ein Genrestück aus einem aktuellen Kriegsschauplatz. Wie in Fords Western Stagecoach setzt der Film ein paar ungleiche Typen – ein deutsches Kamerateam und zwei Ärzte plus Fahrer – in einen Jeep,
und lässt sie durch die Linien des Irakkriegs nach Falludscha fahren. Während die Dialoge zu geschwätzig sind, zu oft an ein TV-Drama erinnern, und man auf die eine oder andere Wendung gern verzichtet hätte, besticht der gut erzählte Waffenstillstand mit eindringlichen Bildern, die auf die große Leinwand gehören, und immer wieder irritierenden Momenten. Ein spannender Einblick in moderne Kriege, fast ohne Betroffenheitskitsch.
Wie bei Naso konnte man in
vielen Saarbrücker Filmen eine neue Lust am Genre, am Spiel mit Formeln und Motiven entwickeln. Blau mag eine kalte Farbe sein. Aber sie ist auch die Farbe der Sehnsucht nach einem anderen Kino, wie sie in vielen Filmen zum Ausdruck kommt.