Kino-Diversität |
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Wieder so ein Kinojahr: c |
Das Kinojahr 2010 setzte den großen Trend der Vorjahre fort und zeichnete sich deshalb in erster Linie durch ein heilloses Durcheinander (das man euphemistisch als Vielfalt bezeichnen könnte) aus. Was gab es da nicht alles zu sehen: Dreidimensionale Filme die eindimensional waren, billige Filme die wertvoll waren, dramatische Filme die lächerlich waren, komische Filme die ernsthaft waren, Filme aus aller Herren Länder, zu allen möglichen und unmöglichen Themen, in allen
Stilen, in allen Stimmungslagen, in allen Preisklassen, in jeder Qualitätsstufe. 472 Filmstarts weißt die Internetseite des Verbands der Filmverleiher für das Jahr 2010 aus. Zieht man einmal alle Filme ab, die nur theoretisch (irgendwo in Deutschland) gestartet sind, in München aber nicht oder so gut wie nicht zu sehen waren, bleibt im Schnitt immer noch ein Film pro Tag.
Planvolles und systematisches Kinogehen war unter diesen Voraussetzungen kaum mehr möglich, die Medien
sorgen mit ihrem babylonischen Meinungsgewirr auch kaum für Orientierung, weshalb man am besten der eigenen Intuition folgte und sich durch das reichhaltige Angebot treiben ließ.
Damit wenigstens zum Jahresende endlich ein bisschen Ordnung herrscht, übernimmt es hier Artechock, das praktische Filmmagazin, die guten, schönen, interessanten, spannenden, bewegenden und sehenswerten Filme des vergangenen Jahres fein säuberlich zu sortieren, kategorisieren und schubladisieren. Drei Schubladen bleiben dabei traditionell zu und unbeachtet: Die sehr große Schublade mit den Filmen, die ich (aus welchen Gründen auch immer) nicht sehen wollte, die bedeutend kleinere (aber auch tragischere) mit denen, die ich sehen wollte, aber nicht konnte und schließlich die mit denen, die mir nicht gefallen haben.
Dass die Welt ein Jammertal ist, in dem Irrsinn, Horror, Terror, Depressionen und Repressionen herrschen, bewies der deutsche Zombiefilm Rammbock ebenso wie der amerikanische Weltuntergangsfilm The Road, wie der mexikanische Flüchtlingsfilm Sin nombre, wie die belgische Alptraumbiographie Die Beschissenheit der Dinge, wie der deutsche Dokumentarfilm Deutsche Seelen – Leben nach der Colonia Dignidad.
Und auch der australische Animationsfilm Mary & Max – oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet? gehört in diese Reihe, weil er trotz schrulligen Knetmännchen und charmantem Witz eine todtraurige Geschichte erzählt.
All diesen düsteren Filmen war die Erkenntnis gemeinsam, dass es selbst nach dem größten Horror das Leben (allgemein gesprochen und nicht zwangsläufig im Bezug auf einzelne Protagonisten) irgendwie weitergeht, worin man – je nach Stimmungslage – entweder so etwas wie Hoffnung oder den ultimativen Horror sehen konnte.
Zwischen Himmel und Erde und Leinwand gibt es Dinge, die man nicht erklären kann oder erklären soll. Gewisse Filme überschreiten einfach die Grenzen und Regeln der (Kino-)Logik, um den Zuschauer in eine ganz eigene Welt zu entführen (und gemeinerweise am Ende des Films auch wieder aus dieser fremden Welt zu werfen).
Allen voran ist diesbezüglich der herausragende A Serious Man der Coen-Brüder zu nennen, der vordergründig in Minnesota Ende der 1960er Jahre spielt, tatsächlich aber von einem wundersamen Land namens Kafkadien erzählt.
In die Welt der sprechenden Füchse brachte uns Der fantastische Mr.
Fox, der (wie oft bei Wildtieren) zum Streicheln schön aber trotzdem bissig war.
Ebenfalls animiert war die düstere Welt von #9, einem Endzeitfilm, der nur deshalb nicht in Schublade 1 liegt, weil er von Anfang an zu abstrakt-phantastisch war, um echten Schrecken zu verbreiten.
Ziemlich schrill wurde es in der nicht ganz so tiefgründigen aber doch sehr unterhaltsamen Comicverfilmung Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt, die bewies, dass sich eine Pubertät eigentlich nur mit Superheldenkräften überstehen lässt.
Streckenweise ein wenig albern, insgesamt aber verrückt genug um zu gefallen, war die parapsychologische bzw. -militärische Satire Männer, die auf Ziegen starren, die vor allem von ihren tollen Darstellern getragen wurde.
Warum ausnahmslos alle Filme dieser Schublade aus Amerika kommen, ist schwer zu erklären. Vielleicht besteht ja dort ein besonders großes Bedürfnis, sich in andere Welten zu flüchten.
Erfolg ist relativ. Für den einen ist es ein Erfolg, sich und seine Familie versorgen zu können, für einen anderen fängt Erfolg erst ab einer Million auf dem Konto an. Letztlich versucht so jeder, mehr oder minder gut (»gut« sowohl im Wortsinn von erfolgreich als auch als Gegenteil von böse) über die Runden zu kommen.
In Live aus Peepli – Irgendwo in Indien ist die Befriedigung von Grundbedürfnissen schon fast unmöglich, weshalb hier der medial ausgeschlachtete und staatlich bezuschusste Selbstmord alle Probleme lösen soll.
In Italien ist man da schon ein wenig weiter, da muss man zum Erwerb des Lebensunterhalts nicht das eigene Leben, sondern nur die Selbstachtung und alle moralischen
Grundsätze aufgeben, wie Das ganze Leben liegt vor dir aus dem Milieu der Callcenter zeigte.
Eine ganz andere Gangart als diese beiden sozialkritischen, ironischen Arbeiterkomödien legte I Love You Phillip Morris ein, der unglaubliche kriminelle Energie und Phantasie als Mittel zum Erfolg
aufzeigte. Dass der Film so zurückhaltend aufgenommen wurde, hat wohl weniger (wie manche vermuteten) mit der Homosexualität seiner Protagonisten, als vielmehr mit seinem überdrehten, sarkastisch galligem Humor zu tun.
Im todernsten österreichischen Der Räuber geht es – wie der Titel unschwer erraten lässt – auch um einen Kriminellen, nur dienen in diesem kühlen und konsequenten Drama die Raubzüge nicht der Mehrung des persönlichen Wohlstands, sondern sind notwendiges Mittel auf dem Weg zu einem größeren Ziel, dem Erfolg als Läufer.
Am Rand der Legalität bewegt sich die street
art-Szene, die in der nicht immer ganz ernst zu nehmenden aber sehr unterhaltsamen und zudem erhellenden Doku Banksy – Exit Through the Gift Shop im Mittelpunkt steht. Bemerkenswert an der street art ist unter anderem, dass sie zwei Bereiche berührt, denen gleichermaßen schnelles Geld und leichter Erfolg nachgesagt wird, die Kriminalität und die Kunst. Dass dieses Bild vom problem- und
mühelosen Erfolg nicht stimmt, belegen hinsichtlich der Kriminalität die gerade genannten Filme.
Was die Kunst betrifft, so kann man entweder bei Karl Valentin nachlesen »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit« oder man schaut sich die Doku The Doors – When You're Strange an. Gänzlich frei von allen ärgerlichen Standards des Musikdoku-Genres, beweist Tom DiCillo ausschließlich mit altem Filmmaterial, dass Erfolg eine sehr relative, sehr brüchige und manchmal sogar sehr gefährliche Sache ist.
Wer wissen will, wofür Menschen so alles eine Leidenschaft – wenn nicht gar Obsession – entwickeln, der muss nur ins Kino gehen.
Klassisch ist es natürlich, einem anderen Menschen zu verfallen, da spielen dann auch (extreme) Widrigkeiten und Widerstände keine Rolle, wie Detlev Bucks Same Same But Different bewies.
Genau so nur ganz anders ist es in Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte, denn der hier im Mittelpunkt stehende Mann liebt nicht nur eine Frau leidenschaftlich, pflegt neben den Frauen auch noch diverse kulturelle Leidenschaften und ist zudem von biographischen Obsessionen getrieben. Sehenswert ist der Film alleine schon deshalb, weil er kein typisches 08/15-Biopic ist.
Wie man an zwischenmenschlicher Leidenschaft verzweifeln, von dieser andererseits aber wieder auch gerettet werden kann und wie einem das letzten Endes doch nichts bringt, konnte man in A Single Man erleben. Ein Film, der trotz allem Stilwillen weit mehr ist, als einfach nur schön anzuschauen.
»Life’s a bitch and then you die!« wäre zwar auch ein passendes Motto für A Single Man gewesen, fand sich aber als Rap-Text in einer zentralen Szene im englischen Fish Tank, der am ganz anderen Ende der Styling-, Esprit- und Eleganz-Skala unterwegs war. Hier versucht eine Jugendliche durch ihre Leidenschaft für Tanz dem rauen Elend ihres Unterschichtalltags zu entkommen, wird aber durch die
profane Leidenschaft im sexuellen Sinn massiv aus der Bahn geworfen.
Dass die Hingabe an eine Sache genau so extrem (positiv wie negativ) sein kann wie die an einen Menschen, dokumentierte Keep Surfing, der seinen überraschenden Ausgangspunkt am Münchner Eisbach hat. Mitreißende (sic!) Bilder, maßvoll helden- und legendenhafte Storys der Interviewten, eine sehr gekonnte Montage und ein lässig groovender Soundtrack fügen sich hier zu einem klassischen Feel-Good-Movie zusammen.
Eine (Jugend)Kultur, der es ganz und gar nicht um positive vibes geht, konnte man in Until the Light Takes Us kennenlernen. Überraschend differenziert (sowohl in der visuellen Umsetzung als auch auf der Tonspur) gewährte diese Doku Einblicke in die düstere Welt des norwegischen Black Metal, in dem so unterschiedliche Facetten wie Kunst, Rebellion, Verbrechen, Rassen- und Religionshass dunkel schimmern.
Dass sich auch an der Religion Leidenschaft entzünden kann, beweisen nicht nur norwegische Black Metal-Apostel, die Kirchen anzünden, sondern auch 1.600 Jahr früher die Gegner und Befürworter des Christentums, die sich in Agora – Die Säulen des Himmels bekriegen. Vor dem Hintergrund eines leidenschaftlichen Religionskampfes wird vom Leben der Hypatia von Alexandria, deren wahre Leidenschaft die Wissenschaft ist, erzählt. Da wissenschaftliche und religiöse Ansichten selten deckungsgleich sind, beide aber mit der gleichen (bedingungslosen) Hingabe vertreten werden, kann das Ganze (zumindest für Hypatia) nicht gut enden.
Eine Leidenschaft, die vielen Menschen gemein ist und die gerne von den Medien (inkl. dem Kino) bedient wird, ist der Hang zum Einfachen, Konsequenten, Unzweifelhaften, zu klaren Antworten und endgültigen Wahrheiten. Tatsächlich aber ist das Leben meist kompliziert, überraschend, wechselhaft, verwirrend und alles andere als eindeutig.
Vorgeführt hat dies etwa das Drama Lourdes
über die wundersamen Erlebnisse einer gelähmten Frau an diesem wunderlichen Ort. Nicht nur die Frage nach einem möglichen Wunder sorgt hier für Verwirrung, sondern auch einer der zuverlässigsten Chaosfaktoren überhaupt, die Liebe.
Dem Verwirrungspotential der Liebe begegnete man dann auch in einigen anderen Filmen, etwa in Tom Tykwers DREI, der die behandelte menage-a-trois schon im Titel trägt und den ich möglicherweise nur wegen einem Missverständnis gut fand. Ich habe all das bedeutungsschwere Kunst-, Kultur- und Philosophiegehabe als treffliche Parodie verstanden und mich deshalb prächtig amüsiert. Sollte das tatsächlich ernst gemeint gewesen sein, bitte ich meine Naivität zu entschuldigen, bleibe aber dabei, dass ich es zum Lachen finde.
Noch eine komplexe Dreierbeziehung, diesmal aber mit umgekehrtem Geschlechterverhältnis, gab es in The Kids Are All Right, der wohl unzweifelhaft als Komödie durchgeht, wenn er auch einige ernste Momente einstreute.
Gänzlich zum Vergnügen war dagegen Immer Drama um Tamara, in dem Stephen Frears
einen hoch amüsanten Liebesreigen in ironische Werbekitschbilder verpackt, ganz nebenbei noch ein bisserl Häme über gewisse Bereiche des Literatur- und Popmusikbetriebs ausschüttet und in bester Agatha Christie-Manier bis zum Schluss überraschend bleibt.
Wenn Erwachsene durch den Geschlechtstrieb schon so durcheinander gebracht werden, wie muss es da erst leicht erreg- und verwirrbaren Jugendlichen gehen? Eine erfreulich geistreiche Antwort darauf lieferte die anspielungsreiche Komödie Einfach zu haben, wenngleich zu bemäkeln ist, dass hier manch theoretisch guter Witz praktisch nicht so richtig gezündet hat. Ob eine Situation / ein Witz lustig ist, entscheidet nun einmal weniger der geschilderte Sachverhalt, als vielmehr die Art der Präsentation, wobei schwer erklärbare Feinheiten im Ton den Unterschied zwischen vergnügtem Lachen und ratlosem Schulterzucken ausmachen.
Ein Beispiel für den richtigen – spricht komischen – Ton war Stichtag, eine aberwitzige Irrfahrt zweier sehr unterschiedlicher Männer, dessen inhaltliche Tiefe und kulturelles Niveau man nicht weiter hinterfragen sollte, der aber alleine durch ein sicheres Gespür für Timing und Humor ganz gut über die Runden kommt.
Das Gleich gilt auch für Die etwas anderen Cops, einer Kriminalparodie, von der man keine Neudefinition des Genres erwarten braucht und die einfach nur sehr lustig ist, was nach wenig klingt aber mehr ist, als viele andere »komische« Filme geleistet haben.
Eher tragisch-komisch war es, im Dokumentarfilm J Jaffa – The Orange’s
Clockwork zu sehen, welche wechselhafte und komplizierte Geschichte hinter einem scheinbar unverfänglichen und eindeutigen Produkt wie einer Zitrusfrucht stecken kann.
Wie geht man mit den Herausforderungen des Alltags um, wie begegnet man Krisen, Problemen und existentiellen Bedrohungen?
Im beeindruckenden Von Menschen und Göttern lautet die Antwort darauf Glaube, was umso erstaunlicher ist, da die Antwort darauf, woher die tödliche Bedrohung kommt, ebenfalls Glaube lautet. Ein sehr ruhiger, geradezu spiritueller und trotzdem hochdramatischer
Film vor einer überwältigenden Kulisse.
Während die Mönche aus Von Menschen und Göttern unmittelbar vom Krieg betroffen sind, arbeiten die Soldaten in The Messenger aus sicherer Distanz dessen Auswirkungen ab. Sie überbringen die Nachrichten vom Tod gefallener Soldaten an Angehörige und lösen dadurch Trauer, Wut und Verzweiflung aus. Diese indirekte Darstellung von Leiden und Irrsinn des Krieges hat einen großen Vorteil gegenüber klassischen (Anti)Kriegsfilmen. Lassen sich die expliziten Kampfdarstellungen in Filmen wie Apocalypse Now immer auch als Verherrlichung des Gezeigten umdeuten, so ist das bei einem Film wie The Messenger schlicht unmöglich.
Wenn über Krieg gesprochen und berichtet wird, übersieht man immer eine grausame Spielart, die tausende Menschen das Leben kostet, über die die UN aber nie verhandelt. Es sind dies die »Kriege« und die kriminelle Gewalt in großen Städten, die gang wars, die zum Beispiel Kingston zu einem tödlichen Pflaster machten und machen. Wie in diesem toughen und roughen Umfeld der rude boys etwas Schönes, Rettendes entstehen konnte, dokumentiert Rocksteady – The Roots of Reggae, der zwar nicht ganz frei von Mythenbildung, aber immer noch weit von einer Buena Vista-Verklärung entfernt ist.
Eine andere Stadt, andere Gangs, den gleiche Wahnsinn zeigt in verführerisch schönen Bildern Monga – Gangs of Taipeh. Was hier als nettes Jugendkomödchen beginnt, entwickelt sich schnell zu einer coming of age Geschichte und wächst sich zu einem richtigen Gangsterepos aus.
Bedeutend harmloser ist die »Gang« in Kleine Wunder in Athen. Vier antriebsarme Männer am unteren sozialen Rand überwinden ihre Lethargie nur für Fußball, zivil ungehorsamen Vandalismus und Ausländerfeindlichkeit. Ein schöner Beitrag zur Aufarbeitung der Wirtschaftkrise, weil er nicht – wie weit verbreitet – den Blick auf das Makro (die Banken, das System, die globalisierte Welt), sondern auf das Mikro wirft.
Krisen der emotionellen und seelischen Art gilt es im schwierigen Alltag von Greenberg zu überwinden, ein Film der das Kunststück vollbringt, mir positiv im Gedächtnis zu bleiben, obwohl ich Ben Stiller in der (sehr präsenten) Hauptrolle für eine totale Fehlbesetzung halte.
Nun ist also alles da, wo es hingehört, aufgeräumt und eingeteilt. Aber wer kennt das nicht aus der eigenen Wohnung oder dem Büro; die Ordnung, die mühselig hergestellt ist, hält nicht lange an. Das Kinojahr 2011 steht schon vor der Tür und hat wieder eine krude Mischung dabei. Manche Filme werden so schön sein, dass man sie sich an die Wand hängen möchte, manche wird man schnell in den Keller räumen, manche werden nirgendwo richtig hinpassen, manche werde nicht lange halten und müssen schnell konsumiert werden und sicher wird das neue Kinojahr auch wieder einen Haufen Dreck rein tragen. Lassen wir es trotzdem rein, schauen was es so alles dabei hat und aufräumen kann man immer noch hinterher.