30.08.2007
64. Filmfestspiele von Venedig 2007

Eine Handvoll Dollar mehr...

James McAvoy und Keira Knightley am Strand
Eröffnungsfilm:
Atonement von Joe Wright

Pastellfarben der Klassengesellschaft: Die „Mostra“ eröffnet mit Atonement, und blickt darauf zurück, was von der Jugend übrig blieb, auch auf die Deutschen am Lido

Von Rüdiger Suchsland

Piloten ist nichts verboten: Steil senkte sich die Cessna über dem Lido herab, gleich zweimal hinter­ein­ander überflog die deutsche Maschine – „gefähr­lich niedrig“ wie Zeit­ge­nossen berich­teten – das Casino und die noblen Strand­ho­tels, bevor sie nur wenige Kilometer neben dem damals noch sehr beschau­li­chen Festi­val­gelände wohl­be­halten landete. Im Cockpit: Kein anderer als Heinz Rühmann persön­lich. Der deutsche Superstar ließ es sich nicht nehmen, in der eigenen Privat­ma­schine einzu­fliegen, um Anfang September 1956 bei dem Film­fest­spielen seinen Film Der Hauptmann von Köpenick vorzu­stellen. Regie führte Helmut Käutner, und am Lido nahm die Erfolgs­ge­schichte dieses Films ihren Anfang, die bis zu einer Oscar­no­mi­nie­rung im folgenden Jahr führte. (West-) Deutsch­land war „wieder wer“, auch im Weltkino – eine von vielen Anekdoten einer Festi­val­ge­schichte, in der das deutsche Kino eine promi­nen­tere Rolle spielt, als etwa bei der Konkur­renz in Cannes.

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Vor 75 Jahren eröff­neten zum ersten Mal auf dem dünnen Lido­strand, der die Lagune von Venedig zum Meer hin abschließt, die Film­fest­spiele von Venedig, und damit ist man hier das erste und älteste Film­fes­tival der Welt. Es muss ein sehr exklu­siver Ort gewesen sein, in jenen ersten Jahren, nachdem der legendäre Conte Volpi das Festival 1932 ins Leben gerufen hatte. Volpi war der Besitzer des Hotels Excelsior, einer der schönsten Herbergen am Lido, und er gründete das Festival keines­wegs aus Kunst­in­ter­esse, sondern aus einem weitaus profa­neren Grund: Um in der Nach­saison den Tourismus anzu­kur­beln. Im eigenen Haus gab es ein Kino, also lud man Regis­seure und Stars und vergab am Ende einen Preis. Damals regierte in Rom Benito Mussolini, und es dauerte nur wenige Jahre, bis die Faschisten die Chance erkannten, und die „Mostra“ in eine Propa­gan­da­show umfunk­tio­nierten. 1938 gewann Leni Riefen­stahls Olympia den Haupt­preis, damals „Copa Mussolini“ genannt – der erste von mehreren deutschen Festi­val­tri­um­phen.
Wie auf Olympia, der immerhin noch manch schwer bestreit­bare filmische Quali­täten hat, kann man auch einige andere nicht wirklich stolz sein: Auch Der große Kürfürst lief hier und dann noch Jud Süß, der ebenfalls einen Preis gewann.

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Um eine ungefähre Vorstel­lung dieser ersten Jahre und des Luxus­le­bens der europäi­schen Ober­klassen zwischen Verdrän­gung, Appease­ment und Kolla­bo­ra­tion zu bekommen, muss man sich nur den dies­jäh­rigen Eröff­nungs­film anschauen. Der spielt in England 1935, nur ein Jahr also vor der Berliner Olympiade, auf der Riefen­stahl ihren Film drehte, im Jahr 3 der „Mostra“.

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Vom bevor­ste­henden Weltkrieg ahnt man hier natürlich einst­weilen überhaupt nichts, die Klas­sen­ge­sell­schaft ist noch halbwegs intakt, man trägt helle dünne Stoffe und ist freund­lich zum Personal. Das Unglück, das in dieses Stück „Merry Old England“ einbricht, ist emotional und persön­lich, ein blöder Zufall, kein Produkt der Verhält­nisse. Oder viel­leicht eben gerade doch: Briony, die jüngere Tochter des Hauses macht halb unwis­sent­lich eine Zeugen­aus­sage, die dem armen Nach­bars­jungen zum Verhängnis wird, und auch ihr bis ans Leben­s­ende auf dem Gewissen lastet.
Atonement, zu deutsch „Sühne“ oder „Buße“, mit dem am Mitt­woch­abend die Film­fest­spiele von Venedig eröffnet wurden, ist die Verfil­mung eines Romans des briti­schen Erfolgs­au­tors Ian McEwan („Saturday“). Regisseur Joe Wright, der sich nach seiner etwas arg wohligen Austen-Verfil­mung Pride & Prejudice (2005) auf die Seelen­qualen wohl­ha­bender Briten zu spezia­li­sieren scheint, malt den Glanz und das schon etwas brüchige schöne Leben dieser spät­bür­ger­li­chen Welt in sanften Pastell­farben. Wie ein erfri­schendes Sommer­ge­witter erschüt­tern plötzlich wilde, klas­senü­ber­grei­fende Leiden­schaften das Einerlei des Alltags. Mitten drin sitzt Briony, ein junges, puber­tie­rendes, altkluges Mädchen, eine gute Beob­ach­terin, aber so nerv­tö­tend, wie voller Ressen­ti­ment gegen die Welt der Kinder, der sie nicht mehr und die Welt der Erwach­se­nenen, der sie noch nicht angehört. Erstaun­lich ist der souveräne Auftritt der 13-jährigen Saoirse Ronan in dieser anspruchs­vollen Rolle.
Jäh ist das Glück zuende, als eines Abends eine Cousine verge­wal­tigt wird. Briony hat den Täter sogar halb bewusst erkannt, doch anstatt von ihren verschwom­menen Beob­ach­tungen zu berichten, proje­ziert das Mädchen den Schock, verschämte Schwär­merei und andere für sie irri­tie­rende Beob­ach­tungen und Erleb­nisse der voran­ge­gan­genen Wochen auf den frisch­ge­ba­ckenen und unstan­des­ge­mäßen Liebhaber ihrer älteren Schwester Cecilia (Keira Knightley).

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Überaus gelungen ist, wie der Regisseur diese Entwick­lung zeigt: Doppelt, in Wieder­ho­lungen und Neuan­sätzen, zunächst scheinbar wie ein schlechter, sich ständig ins Wort fallender Erzähler, tatsäch­lich aber hin und her wechselnd zwischen der verzer­renden und drama­ti­sie­renden Sicht eines Kindes mit zuviel Phantasie, und der ernüch­terten aus der der Erwach­senen.
Der zweite Teil des Films, der dann fünf Jahre später mitten in der britisch-deutschen Dünkir­chen-Schlacht vom Mai 1940 spielt, ist filmisch konven­tio­neller und insgesamt weniger gelungen. Plötzlich fällt der ständige kommen­tie­rende Einsatz von Musik auf, und es stört eine verän­derte Erzähl­struktur, die nur noch unnötig kompli­ziert, aber nicht mehr multi­per­spek­ti­visch wirkt. Doch weiterhin gefallen unge­wöhn­liche Bilder und eine heraus­ra­gende Kamera. Und last not least Vanessa Redgrave, die erst im Epilog auftaucht, in dem sie die alte Briony spielt, die trauernd und nach wie vor erschüt­tert auf den schlechthin prägenden Tag ihres Lebens zurück­blickt, auf einen Sünden­fall, der nicht wieder rück­gängig zu machen ist – eine einzige glanz­volle, ungemein anrüh­rende Szene, mit der Redgrave die übrigen Darsteller im Nu in den Schatten stellt.

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Als Eröff­nungs­film ist das nicht das Schlech­teste. Den stren­geren unter den Kritikern wird der Film trotzdem nicht gefallen, zu glatt, zu elegisch, zu „kitschig“ ist insgesamt der Ton. Und die Echtheit der Gefühle ist mehr behauptet, immer wieder schmeckt alles etwas zu deutlich nach Konserve. Im Pres­se­raum treffe ich Binh von der Pariser Film­zeit­schrift „positif“, der am Morgen schon auf dem Boot gewesen war. Auf meine Frage, wie er den Film fand, lächelt er nur und zuckt mit den Achseln.

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Mussolini hin oder her: Das »Modell Venedig« hatte bereits in den 30er Jahren schnell Fans und Nachahmer gefunden. In Cannes kam nur der Krieg dazwi­schen, aber direkt danach, in den späten 40er, frühen 50er Jahren gründete man aller­orten jene Film­fes­ti­vals, die bis heute eine führende Stellung, jeden­falls in Europa haben: Cannes, San Sebastian, Locarno, in Deutsch­land Berlin (1951) und Mannheim (1952).
In den Anfangs­jahren der Mostra und bis in die 50er konnte man am über­schau­baren, ruhigen Lido noch sehr leicht mit den Filme­ma­chern auf Tuch­füh­lung gehen. Heute domi­nieren wie überall die Security und wich­tig­tue­ri­sche „Star-Betreuer“, die jeden spontanen Auftritt verhin­dern, alles kontrol­lieren. Die Gewichte zwischen Herr und Knecht haben sich vertauscht, auch die größten Stars sind längst Gefangene ihres selbst­ge­schaf­fenen Apparats, der sich verselb­stän­digt hat und eines rigiden Zeitplans. Aber immerhin lockt die Schönheit der Lagu­nen­stadt nach wie vor viele von ihnen hierher.

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Ein Kontrast­pro­gramm in filmi­scher, und letztlich auch quali­ta­tiver Hinsicht war danach der außer Konkur­renz gezeigte REC von den Spaniern Paco Plaza und Jaume Balagueró. Dieser Horror­film hatte genau die gesunde Härte, die man von den Spaniern erwarten darf: Es geht um Body­snat­cher, es gibt einen mad-scientist – »I have finally located the enyzm.« – und die „Auflösung“ am Ende hält sich eine mate­ria­lis­ti­sche Option – Virus-Pandemie – ebenso offen, wie eine theo­lo­gi­sche – Beses­sen­heit. Ein Horror­ka­bi­nett des Katho­li­zismus über ein teuf­li­sches Chris­tentum, das sich nebenbei natürlich auch den Terro­rismus-Verweis nicht entgehen lässt.
Ein hervor­ra­gend gelun­gener blutiger Alptraum­trip – kurz (83min), schmerz­haft und mit einfachsten Mitteln findet er schmut­zige und ziemlich ekelige Bilder fürs Teuf­li­sche, wie man sie seit Exorcist so nicht mehr gesehen hatte.

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Warum es so etwas – ein Film mit einfachsten Mitteln, schmutzig, dreckig, konse­quent – immer nur aus Spanien, nie aus Deutsch­land gibt, dass ist so eine Frage, die man eigent­lich nicht mehr hören kann, an dieser Stelle aber doch wieder stellen muss.

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Zur Feier ihres 75ten bietet die Mostra ein Programm, in dem Anglo­ame­ri­ka­ni­sches dominiert. Allein 19 der 57 Filme im offi­zi­ellen Programm sind US-ameri­ka­nisch, weitere 7 kommen aus Groß­bri­tan­nien. Aller­dings habe er noch nie so viele US-Filme gesehen, die durch aktuelle Themen glänzen, vertei­digt Festi­val­leiter Marco Mueller diese gewisse Einsei­tig­keit. Gleich zwei Werke haben den Irak-Krieg zum Thema: In the Valley of Elahvon Paul Haggis (mit Crash gewann er 2005 den Oscar) und Redacted von Brian De Palma.
Für Mueller sind 15 US-Welt­pre­mieren »der Beweis, dass Venedig eine Pflicht­ver­an­stal­tung« des inter­na­tio­nalen Kino sei. Wenn man daran in den letzten Jahr­zehnten ernsthaft gezwei­felt hätte, gäbe es aller­dings jetzt auch nichts zu feiern.
Von der Papier­form her lässt der Wett­be­werb, bei dem in den kommenden 11 Tagen eine ausschließ­lich aus Regis­seuren zusam­men­ge­setzte Jury um den Präsi­denten Zhang Yimou (Rote Laterne) den »Goldenen Löwen« vergeben wird, viele Glanz­lichter erhoffen: Mit beson­derer Spannung erwartet wird der neue Film des inzwi­schen 87-jährigen Eric Rohmer, auch neue Filme von Ken Loach, Kenneth Brannagh, Nikita Michalkow und Ang Lee lassen Filmkunst erhoffen.
Der viel­ver­spre­chendste Newcomer ist Abdel­latif Kechiche, der mit seinem L’esquive viel fran­zö­si­sche und inter­na­tio­nale Preise gewonnen hatte. Mit Youssef Chahine ist noch ein zweiter Alge­ri­en­fran­zose im Wett­be­werb. Außer Konkur­renz laufen unter anderem die neuen Filme von Altmeis­tern wie Woody Allen, Claude Chabrol und Takeshi Kitano.
Und auch Muellers Spezia­lität, einen „Über­ra­schungs­film“ im Wett­be­werb, gibt es wieder. Mag diese pseu­do­skan­dalöse Präsen­ta­tion auch wie ein Marketing-Mätzchen des italie­ni­schen Billig­fern­se­hens wirken, muss man ihn doch angucken: In den letzten Jahren gewannen diese immer irgend­welche Preise, zuletzt sogar der Chinese Jia Zhang-ke den Goldenen Löwen.
Während der Glanz der Vergan­gen­heit noch gefeiert wird, denkt man an die Zukunft, und disku­tiert in der Lagu­nen­stadt mal wieder über das Dauer­thema eines neuen Festi­val­pa­lasts, das schon viele Festi­val­jahre inhalt­lich nicht vorankam. Jetzt aber soll es wirklich soweit sein, heißt es mal wieder, in zwei Jahren schon. »Oder in drei.« Venedig ist zeitlos.

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»Von oben sieht man immer anders.« – Mein Lieb­lings­satz aus Sergio Leones Für eine Handvoll Dollar, mit dem gestern um Mitter­nacht noch genau 40 Jahre nach der Premiere des Films die dies­jäh­rige Retro­spek­tive eröffnet wurde: Wie jedes Jahr ein Kapitel der »geheimen Geschichte des italie­ni­schen Kinos«, diesmal 32 Beispiele des Spaghetti-Western, der das europäi­sche Kino stark beein­flusste. Viel­leicht gar kein schlechter Zufall, dass dies mit dem Hollywood-Über­ge­wicht zusam­men­fällt. Denn die Italo-Western sind ja unter anderem auch einfach Beispiele dafür, wie europäi­sche Regis­seure die Grün­dungs­my­then der USA, die im dortigen Kino vielfach und einseitig zele­briert werden, in die eigene Hand nehmen, und pessi­mis­ti­scher neu inter­pre­tieren.

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Leones Film, einer der ersten europäi­schen Western, ist auch nach über 40 Jahren erstaun­lich frische und von großer Qualität. Allein der tolle Vorspann ist Gold wert: Rot und Schwarz, sehr breit­wandig, und überaus dynamisch. Die Namen der später Ster­benden blitzen auf, wie Mündungs­feuer und verblassen dann. Lustig sind die falschen Namen, mit denen sich die Macher einen US-Touch anschminken: Sergio Leone nennt sich „Bob Robertson“, Volontè „John Wells“, Ennio Morricone „San Savio“.

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»Wer hat vor ihm Musik so benutzt?« fragt Michael. Tatsäch­lich funk­tio­niert hier schon sehr viel über Musik. Ohne sie wären einige Szenen auch eher öde. Zugleich ist der Italo-Western ein Stil, der weit mehr beinhaltet: Ruhe, Statik, und eine bestimmte Schnitt-Gegen­schnitt-Technik kommen hinzu. Die Gesten der Stille, der Lako­nismus sind eindeutig dem asia­ti­schen Kino, besonders Kurosawas Samurai-Filmen abge­schaut – ketze­ri­sche Frage: Ist nicht eigent­lich Die sieben Samurai im Grunde der erste Italowes­tern? Und ein ziemlich krasses Fashion-Statement sind die Filme auch.

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An der Seite von späteren Weltstars wie Clint Eastwood und Gian Maria Volonté sah man dann auch zwei Deutsche: Marianne Koch und der zu Unrecht verges­sene Sieghard Rupp.

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Aus deutscher Sicht ist Venedig vor allem mit dem »Neuen Deutschen Film« verbunden. Dessen Kopf, der Münchner Alexander Kluge, trium­phierte am Lido gleich doppelt: 1966 bekam er den Silbernen Löwen und Jury­spe­zi­al­preis für Abschied von gestern, 1968 gar den Goldenen Löwen für Die Artisten in der Zirkus­kuppel: Ratlos. 2007 wird er mit einer kleinen Retro­spek­tive geehrt, weil er auch im gleichen Jahr wie die Mostra geboren wurde. 1981/82 gab es dann sogar einen Doppel­sieg: Zuerst den Goldenen Löwen für Die bleierne Zeit von Marga­rethe von Trotta, ein Jahr später folgte dann der für Wim Wenders’ Der Stand der Dinge.
Diese Zeiten sind aller­dings nicht nur in Deutsch­land vorbei. Ein Film wie Die Artisten in der Zirkus­kuppel ist dermaßen schräg, dass er heute kaum im Wett­be­werb laufen würde – „nie laufen“ scheibe ich nur deshalb nicht hin, weil im letzten Jahr hier immerhin Straub lief. Also „never say never“ – , und nie und nimmer gewinnen könnte. Eher etwas für die Reihe „nuovi territori“.

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In Erin­ne­rung sind älteren Festi­val­gän­gern auch noch andere Auftritte der Deutschen: Zum Beispiel Günter Grass, wie er 1984 bei einer Spon­tan­de­mons­tra­tion wild fuchtelnd am Strand stand: Er protes­tierte gegen die Auffüh­rung von Clari­netta. Darin spielte immerhin keine Geringere als Claudia Cardinale Clara Petacci, die Geliebte Musso­linis. So einen Film, empörte sich Grass, dürfe man überhaupt nicht zeigen, der sei eine Verherr­li­chung des Faschismus. Nicht nur Piloten ist nichts verboten.