64. Filmfestspiele von Venedig 2007
Eine Handvoll Dollar mehr... |
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Eröffnungsfilm: Atonement von Joe Wright |
Piloten ist nichts verboten: Steil senkte sich die Cessna über dem Lido herab, gleich zweimal hintereinander überflog die deutsche Maschine – „gefährlich niedrig“ wie Zeitgenossen berichteten – das Casino und die noblen Strandhotels, bevor sie nur wenige Kilometer neben dem damals noch sehr beschaulichen Festivalgelände wohlbehalten landete. Im Cockpit: Kein anderer als Heinz Rühmann persönlich. Der deutsche Superstar ließ es sich nicht nehmen, in der eigenen Privatmaschine einzufliegen, um Anfang September 1956 bei dem Filmfestspielen seinen Film Der Hauptmann von Köpenick vorzustellen. Regie führte Helmut Käutner, und am Lido nahm die Erfolgsgeschichte dieses Films ihren Anfang, die bis zu einer Oscarnominierung im folgenden Jahr führte. (West-) Deutschland war „wieder wer“, auch im Weltkino – eine von vielen Anekdoten einer Festivalgeschichte, in der das deutsche Kino eine prominentere Rolle spielt, als etwa bei der Konkurrenz in Cannes.
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Vor 75 Jahren eröffneten zum ersten Mal auf dem dünnen Lidostrand, der die Lagune von Venedig zum Meer hin abschließt, die Filmfestspiele von Venedig, und damit ist man hier das erste und älteste Filmfestival der Welt. Es muss ein sehr exklusiver Ort gewesen sein, in jenen ersten Jahren, nachdem der legendäre Conte Volpi das Festival 1932 ins Leben gerufen hatte. Volpi war der Besitzer des Hotels Excelsior, einer der schönsten Herbergen am Lido, und er gründete das Festival
keineswegs aus Kunstinteresse, sondern aus einem weitaus profaneren Grund: Um in der Nachsaison den Tourismus anzukurbeln. Im eigenen Haus gab es ein Kino, also lud man Regisseure und Stars und vergab am Ende einen Preis. Damals regierte in Rom Benito Mussolini, und es dauerte nur wenige Jahre, bis die Faschisten die Chance erkannten, und die „Mostra“ in eine Propagandashow umfunktionierten. 1938 gewann Leni Riefenstahls Olympia den Hauptpreis, damals „Copa Mussolini“ genannt – der erste von mehreren deutschen Festivaltriumphen.
Wie auf Olympia, der immerhin noch manch schwer bestreitbare filmische Qualitäten hat, kann man auch einige andere nicht wirklich stolz sein: Auch Der große
Kürfürst lief hier und dann noch Jud Süß, der ebenfalls einen Preis gewann.
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Um eine ungefähre Vorstellung dieser ersten Jahre und des Luxuslebens der europäischen Oberklassen zwischen Verdrängung, Appeasement und Kollaboration zu bekommen, muss man sich nur den diesjährigen Eröffnungsfilm anschauen. Der spielt in England 1935, nur ein Jahr also vor der Berliner Olympiade, auf der Riefenstahl ihren Film drehte, im Jahr 3 der „Mostra“.
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Vom bevorstehenden Weltkrieg ahnt man hier natürlich einstweilen überhaupt nichts, die Klassengesellschaft ist noch halbwegs intakt, man trägt helle dünne Stoffe und ist freundlich zum Personal. Das Unglück, das in dieses Stück „Merry Old England“ einbricht, ist emotional und persönlich, ein blöder Zufall, kein Produkt der Verhältnisse. Oder vielleicht eben gerade doch: Briony, die jüngere Tochter des Hauses macht halb unwissentlich eine Zeugenaussage, die dem
armen Nachbarsjungen zum Verhängnis wird, und auch ihr bis ans Lebensende auf dem Gewissen lastet.
Atonement, zu deutsch „Sühne“ oder „Buße“, mit dem am Mittwochabend die Filmfestspiele von Venedig eröffnet wurden, ist die Verfilmung eines Romans des britischen Erfolgsautors Ian McEwan („Saturday“). Regisseur Joe Wright, der sich nach seiner etwas arg
wohligen Austen-Verfilmung Pride & Prejudice (2005) auf die Seelenqualen wohlhabender Briten zu spezialisieren scheint, malt den Glanz und das schon etwas brüchige schöne Leben dieser spätbürgerlichen Welt in sanften Pastellfarben. Wie ein erfrischendes Sommergewitter erschüttern plötzlich wilde, klassenübergreifende Leidenschaften das Einerlei des Alltags. Mitten drin sitzt Briony,
ein junges, pubertierendes, altkluges Mädchen, eine gute Beobachterin, aber so nervtötend, wie voller Ressentiment gegen die Welt der Kinder, der sie nicht mehr und die Welt der Erwachsenenen, der sie noch nicht angehört. Erstaunlich ist der souveräne Auftritt der 13-jährigen Saoirse Ronan in dieser anspruchsvollen Rolle.
Jäh ist das Glück zuende, als eines Abends eine Cousine vergewaltigt wird. Briony hat den Täter sogar halb bewusst erkannt, doch anstatt von ihren
verschwommenen Beobachtungen zu berichten, projeziert das Mädchen den Schock, verschämte Schwärmerei und andere für sie irritierende Beobachtungen und Erlebnisse der vorangegangenen Wochen auf den frischgebackenen und unstandesgemäßen Liebhaber ihrer älteren Schwester Cecilia (Keira Knightley).
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Überaus gelungen ist, wie der Regisseur diese Entwicklung zeigt: Doppelt, in Wiederholungen und Neuansätzen, zunächst scheinbar wie ein schlechter, sich ständig ins Wort fallender Erzähler, tatsächlich aber hin und her wechselnd zwischen der verzerrenden und dramatisierenden Sicht eines Kindes mit zuviel Phantasie, und der ernüchterten aus der der Erwachsenen.
Der zweite Teil des Films, der dann fünf Jahre später mitten in der britisch-deutschen Dünkirchen-Schlacht vom Mai
1940 spielt, ist filmisch konventioneller und insgesamt weniger gelungen. Plötzlich fällt der ständige kommentierende Einsatz von Musik auf, und es stört eine veränderte Erzählstruktur, die nur noch unnötig kompliziert, aber nicht mehr multiperspektivisch wirkt. Doch weiterhin gefallen ungewöhnliche Bilder und eine herausragende Kamera. Und last not least Vanessa Redgrave, die erst im Epilog auftaucht, in dem sie die alte Briony spielt, die trauernd und nach wie vor erschüttert
auf den schlechthin prägenden Tag ihres Lebens zurückblickt, auf einen Sündenfall, der nicht wieder rückgängig zu machen ist – eine einzige glanzvolle, ungemein anrührende Szene, mit der Redgrave die übrigen Darsteller im Nu in den Schatten stellt.
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Als Eröffnungsfilm ist das nicht das Schlechteste. Den strengeren unter den Kritikern wird der Film trotzdem nicht gefallen, zu glatt, zu elegisch, zu „kitschig“ ist insgesamt der Ton. Und die Echtheit der Gefühle ist mehr behauptet, immer wieder schmeckt alles etwas zu deutlich nach Konserve. Im Presseraum treffe ich Binh von der Pariser Filmzeitschrift „positif“, der am Morgen schon auf dem Boot gewesen war. Auf meine Frage, wie er den Film fand, lächelt er nur und zuckt mit den Achseln.
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Mussolini hin oder her: Das »Modell Venedig« hatte bereits in den 30er Jahren schnell Fans und Nachahmer gefunden. In Cannes kam nur der Krieg dazwischen, aber direkt danach, in den späten 40er, frühen 50er Jahren gründete man allerorten jene Filmfestivals, die bis heute eine führende Stellung, jedenfalls in Europa haben: Cannes, San Sebastian, Locarno, in Deutschland Berlin (1951) und Mannheim (1952).
In den Anfangsjahren der Mostra und bis in die 50er konnte man am
überschaubaren, ruhigen Lido noch sehr leicht mit den Filmemachern auf Tuchfühlung gehen. Heute dominieren wie überall die Security und wichtigtuerische „Star-Betreuer“, die jeden spontanen Auftritt verhindern, alles kontrollieren. Die Gewichte zwischen Herr und Knecht haben sich vertauscht, auch die größten Stars sind längst Gefangene ihres selbstgeschaffenen Apparats, der sich verselbständigt hat und eines rigiden Zeitplans. Aber immerhin lockt die Schönheit der
Lagunenstadt nach wie vor viele von ihnen hierher.
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Ein Kontrastprogramm in filmischer, und letztlich auch qualitativer Hinsicht war danach der außer Konkurrenz gezeigte REC von den Spaniern Paco Plaza und Jaume Balagueró. Dieser Horrorfilm hatte genau die gesunde Härte, die man von den Spaniern erwarten darf: Es geht um Bodysnatcher, es gibt einen mad-scientist – »I have finally located the enyzm.« – und die „Auflösung“ am Ende hält sich eine materialistische Option – Virus-Pandemie – ebenso
offen, wie eine theologische – Besessenheit. Ein Horrorkabinett des Katholizismus über ein teuflisches Christentum, das sich nebenbei natürlich auch den Terrorismus-Verweis nicht entgehen lässt.
Ein hervorragend gelungener blutiger Alptraumtrip – kurz (83min), schmerzhaft und mit einfachsten Mitteln findet er schmutzige und ziemlich ekelige Bilder fürs Teuflische, wie man sie seit Exorcist so nicht mehr gesehen hatte.
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Warum es so etwas – ein Film mit einfachsten Mitteln, schmutzig, dreckig, konsequent – immer nur aus Spanien, nie aus Deutschland gibt, dass ist so eine Frage, die man eigentlich nicht mehr hören kann, an dieser Stelle aber doch wieder stellen muss.
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Zur Feier ihres 75ten bietet die Mostra ein Programm, in dem Angloamerikanisches dominiert. Allein 19 der 57 Filme im offiziellen Programm sind US-amerikanisch, weitere 7 kommen aus Großbritannien. Allerdings habe er noch nie so viele US-Filme gesehen, die durch aktuelle Themen glänzen, verteidigt Festivalleiter Marco Mueller diese gewisse Einseitigkeit. Gleich zwei Werke haben den Irak-Krieg zum Thema: In the Valley of Elahvon Paul Haggis (mit Crash gewann er 2005 den Oscar) und Redacted von Brian De Palma.
Für Mueller sind 15 US-Weltpremieren »der Beweis, dass Venedig eine Pflichtveranstaltung« des internationalen Kino sei. Wenn man daran in den letzten Jahrzehnten ernsthaft gezweifelt hätte, gäbe es allerdings jetzt auch
nichts zu feiern.
Von der Papierform her lässt der Wettbewerb, bei dem in den kommenden 11 Tagen eine ausschließlich aus Regisseuren zusammengesetzte Jury um den Präsidenten Zhang Yimou (Rote Laterne) den »Goldenen Löwen« vergeben wird, viele Glanzlichter erhoffen: Mit besonderer Spannung erwartet wird der neue Film des inzwischen 87-jährigen Eric Rohmer, auch neue Filme von Ken
Loach, Kenneth Brannagh, Nikita Michalkow und Ang Lee lassen Filmkunst erhoffen.
Der vielversprechendste Newcomer ist Abdellatif Kechiche, der mit seinem L’esquive viel französische und internationale Preise gewonnen hatte. Mit Youssef Chahine ist noch ein zweiter Algerienfranzose im Wettbewerb. Außer Konkurrenz laufen unter anderem die neuen Filme von Altmeistern wie Woody
Allen, Claude Chabrol und Takeshi Kitano.
Und auch Muellers Spezialität, einen „Überraschungsfilm“ im Wettbewerb, gibt es wieder. Mag diese pseudoskandalöse Präsentation auch wie ein Marketing-Mätzchen des italienischen Billigfernsehens wirken, muss man ihn doch angucken: In den letzten Jahren gewannen diese immer irgendwelche Preise, zuletzt sogar der Chinese Jia Zhang-ke den Goldenen Löwen.
Während der Glanz der Vergangenheit noch gefeiert wird, denkt man
an die Zukunft, und diskutiert in der Lagunenstadt mal wieder über das Dauerthema eines neuen Festivalpalasts, das schon viele Festivaljahre inhaltlich nicht vorankam. Jetzt aber soll es wirklich soweit sein, heißt es mal wieder, in zwei Jahren schon. »Oder in drei.« Venedig ist zeitlos.
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»Von oben sieht man immer anders.« – Mein Lieblingssatz aus Sergio Leones Für eine Handvoll Dollar, mit dem gestern um Mitternacht noch genau 40 Jahre nach der Premiere des Films die diesjährige Retrospektive eröffnet wurde: Wie jedes Jahr ein Kapitel der »geheimen Geschichte des italienischen Kinos«, diesmal 32 Beispiele des Spaghetti-Western, der das europäische Kino stark beeinflusste. Vielleicht gar kein schlechter Zufall, dass dies mit dem Hollywood-Übergewicht zusammenfällt. Denn die Italo-Western sind ja unter anderem auch einfach Beispiele dafür, wie europäische Regisseure die Gründungsmythen der USA, die im dortigen Kino vielfach und einseitig zelebriert werden, in die eigene Hand nehmen, und pessimistischer neu interpretieren.
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Leones Film, einer der ersten europäischen Western, ist auch nach über 40 Jahren erstaunlich frische und von großer Qualität. Allein der tolle Vorspann ist Gold wert: Rot und Schwarz, sehr breitwandig, und überaus dynamisch. Die Namen der später Sterbenden blitzen auf, wie Mündungsfeuer und verblassen dann. Lustig sind die falschen Namen, mit denen sich die Macher einen US-Touch anschminken: Sergio Leone nennt sich „Bob Robertson“, Volontè „John Wells“, Ennio Morricone „San Savio“.
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»Wer hat vor ihm Musik so benutzt?« fragt Michael. Tatsächlich funktioniert hier schon sehr viel über Musik. Ohne sie wären einige Szenen auch eher öde. Zugleich ist der Italo-Western ein Stil, der weit mehr beinhaltet: Ruhe, Statik, und eine bestimmte Schnitt-Gegenschnitt-Technik kommen hinzu. Die Gesten der Stille, der Lakonismus sind eindeutig dem asiatischen Kino, besonders Kurosawas Samurai-Filmen abgeschaut – ketzerische Frage: Ist nicht eigentlich Die sieben Samurai im Grunde der erste Italowestern? Und ein ziemlich krasses Fashion-Statement sind die Filme auch.
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An der Seite von späteren Weltstars wie Clint Eastwood und Gian Maria Volonté sah man dann auch zwei Deutsche: Marianne Koch und der zu Unrecht vergessene Sieghard Rupp.
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Aus deutscher Sicht ist Venedig vor allem mit dem »Neuen Deutschen Film« verbunden. Dessen Kopf, der Münchner Alexander Kluge, triumphierte am Lido gleich doppelt: 1966 bekam er den Silbernen Löwen und Juryspezialpreis für Abschied von gestern, 1968 gar den Goldenen Löwen für Die Artisten in der
Zirkuskuppel: Ratlos. 2007 wird er mit einer kleinen Retrospektive geehrt, weil er auch im gleichen Jahr wie die Mostra geboren wurde. 1981/82 gab es dann sogar einen Doppelsieg: Zuerst den Goldenen Löwen für Die bleierne Zeit von Margarethe von Trotta, ein Jahr später folgte dann der für Wim Wenders’ Der Stand der Dinge.
Diese Zeiten sind allerdings nicht nur in Deutschland vorbei. Ein Film wie Die Artisten in der Zirkuskuppel ist dermaßen schräg, dass er heute kaum im Wettbewerb laufen würde – „nie laufen“ scheibe ich nur deshalb nicht hin, weil im letzten Jahr hier immerhin Straub lief. Also „never say never“
– , und nie und nimmer gewinnen könnte. Eher etwas für die Reihe „nuovi territori“.
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In Erinnerung sind älteren Festivalgängern auch noch andere Auftritte der Deutschen: Zum Beispiel Günter Grass, wie er 1984 bei einer Spontandemonstration wild fuchtelnd am Strand stand: Er protestierte gegen die Aufführung von Clarinetta. Darin spielte immerhin keine Geringere als Claudia Cardinale Clara Petacci, die Geliebte Mussolinis. So einen Film, empörte sich Grass, dürfe man überhaupt nicht zeigen, der sei eine Verherrlichung des Faschismus. Nicht nur Piloten ist nichts verboten.