07.09.2007
64. Filmfestspiele von Venedig 2007

Der Tag der blauen Hemden

IT'S A FREE WORLD
»Men will be completely useless«:
It’s a Free World
(Foto: Neue Visionen Filmverleih)

Kluge Filme, Filme von Kluge und die Poesie der Theorie

Von Rüdiger Suchsland

Das Wetter wird schlechter, der Wind stärker am Lido, und allmäh­lich ist es an der Zeit, sich auf die Suche nach dem roten Faden zu begeben, dem des Festivals. Der ist schwer auszu­ma­chen, egal, ob man es thema­tisch oder ästhe­tisch probiert. Nicht nur für BR-Kollegen Carlos, der die Frage aufwirft. Natürlich ist diese Frage auch falsch gestellt, denn jedes Film­fes­tival konstru­iert einen solchen Zusam­men­hang nur künstlich. Trotzdem werden im Mikro­kosmos eines Festivals Konti­nui­täten, Brüche und Tendenzen oft klarer sichtbar als ande­ren­orts.
»Es gibt keine Euphorie«, sagt die schwe­di­sche Kollegin Ingelind, die auch schon seit über 20 Jahren hier­her­kommt. »In früheren Jahren gab es immer einen oder mehrere Filme, über die die Leute gestritten haben, immer wieder über Tage disku­tiert haben.« Stimmt, auch ich erinnere mich noch an die Aufre­gungen über Berto­luccis DREAMERS oder Rohmers reak­ti­onären Revo­lu­ti­ons­film.

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Aber wenn man ehrlich ist, gab es unter Leiter Marco Müller in vier Jahren noch nie Euphorie. Sein Festival erinnert an den FC Bayern unter Magath. Es ist erfolg­reich, macht aber schon lange keinen Spaß mehr, und die Schwäche­zei­chen sind unüber­sehbar.
Eigent­lich höchste Zeit, dass man ihn rauschmeisst. Die ehemalige Locarno-Leiterin Irene Bignardi kratzt in Rom schon an der Tür, wie man hören kann. Aber Müller ist, auch wenn er als Berlus­coni-Mann scheinbar nicht mehr in die Land­schaft passt, ein Kellner der Politik. Er schafft Stars im Dutzend auf den Roten Teppich, gefällt den Ameri­ka­nern, und vermeidet negative Schlag­zeilen.
Und blickt man sich auf dem Festival um, das vor fünf Jahren noch ein so beschau­li­cher wie eleganter Ort war, dann hat Berlus­coni längst gesiegt. Rund um den Festi­val­pa­last steht eine Bude neben der anderen, abends dröhnt extrem laut italie­ni­scher, also schlechter Pop über den Strand, den man vor lauter Spon­so­ren­ban­nern schon längst nicht mehr sehen kann. Ein Festival wie das italie­ni­sche Privat-Fernsehen.

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»Früher war nicht nur das Festival, früher waren die Italiener schicker«, sagt eine Kollegin. Mag sein. heute jeden­falls erscheinen sie als ein debiler, aber fröh­li­cher Haufen, der im Kino immer an der falschen Stelle lacht.
Wozu auch der schreck­liche Trailer mit seiner Jahr­markts­musik passt. Im ersten Jahr gab es noch Buh-Rufe, auch die gibt es schon lange nicht mehr. Und die allge­meine Dummheit der Orga­ni­sa­tion, die schon im letzten Jahr ausführ­lich beschrieben wurde, Passwort-Albern­heiten und Body­guards.

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Auch Martina, Produ­zentin aus Berlin, und erstmals in Venedig teilt den Eindruck von uns Kritikern: »Das ist ein Kinder­garten hier. Alles wirkt unernst, unseriös in seiner Ausstrah­lung. Der Markt existiert nicht. Und das Programm ist überaus dünn: Als Verle­gen­heits­lö­sung geht man in Filme, weil man nicht mehr weiß, was man hier soll, weil man denkt: Da gehe ich lieber da rein, als in gar keinen.« Das Festival sei so »wie die Italiener halt so sind: Nach außen große Show, aber nichts dahinter.«
Nur weil Berlin auch in wenigen Jahren unglaub­lich viel schlechter geworden ist, fällt das alles nicht so auf. Was man Müller aber zugute halten muss: Der Wett­be­werb ist eindeutig besser als der der Berlinale. Ansonsten wird er als der in die Venedig-Geschichte eingehen, der das Festival den Heuschre­cken zum Fraß vorge­worfen hat. Django Müller räumt auf!

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Eine ganz inter­es­sante Zusatz­info zu Paul Haggis' In the Valley of Elah, über den wir in der letzten Folge schon geschrieben hatten. Offenbar hat Haggis nämlich aus dem fast fertigen Film noch eine ganze, etwa 20-minütige Episode heraus­ge­schnitten. In der hat der US-Soldat, der als »Doc« im Irak ein berüch­tigter Folter­knecht war, in der ursprüng­li­chen Fassung noch eine Freundin, die auch Soldatin bei der Armee ist. Ob der Film dadurch wesent­lich verändert wurde, ist schwer zu sagen. Aber die Infor­ma­tion macht doch wieder klar: Wenn es um Gewalt geht, dann ist das im US-Kino Männer­sache. Wenn es darauf ankommt, opfert man die Frauen.

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Searchers 2.0 ist der hübsche Totel eines dann doch ziemlich über­flüs­sigen Films vom britisch-ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Filmer Alex Cox. Da gibt es ein paar schöne Sätze wie »Hamlet is good, Schwar­zen­egger not.« Oder man redet über »the attack of Seven Eleven«. Aber das war es schon.

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Wenn schon Inde­pen­dent, dann ist uns Alexander Kluge viel lieber. Kluge ist mit 16 langen und diversen Kurz­filmen einer der profi­lier­testen Filme­ma­cher Deutsch­lands, und gilt als Kopf des »Neuen Deutschen Films«, daneben schrieb er mehrere lite­ra­ri­sche Werke, sowie Bücher zur Film- und Medi­en­theorie sowie zu geschichts­phi­lo­so­phi­schen Fragen – und doch kennen ihn die meisten wohl nur aus dem Fernsehen.
1986 drehte er seinen letzten Kinofilm, und gründete – nicht zuletzt auch als Reaktion auf eine Film­för­de­rung, die unab­hän­giges Kino wie in Frank­reich zunehmend unmöglich machte –, 1987 die Firma »dctp«, mit der er seitdem »unab­hän­giges Fernsehen« produ­ziert, und – im Staats­ver­trag juris­tisch perfekt abge­si­chert – die »Kultur­fenster« mehrerer deutscher Privat­sender beliefert. So einfalls­reich, so schräg und originell, so spannend wider­borstig gegen den Strom sich Kluge dort präsen­tiert, gilt er doch im eigenen Land als Außen­seiter und es bedurfte schon eines Anstoßes aus dem Ausland, um den Filme­ma­cher auch wieder einmal zu einer Arbeit fürs Kino zu bewegen.
Jetzt hatten gleich fünf Kino­pro­gramme Kluges beim Film­fes­tival von Venedig Premiere, zum 75. Jubiläum der Film­fest­spiele, das auch mit dem 75. Geburtstag des Filme­ma­chers (im letzten Februar) zusam­men­fällt, der hier mehrfach wichtige Preise gewann, unter anderem 1968 den Goldenen Löwen.
Die jeweils ein- bis 30minütigen Filme dieser je etwa 100 Minuten langen Programme sind nach der für Kluge so typischen Methode der Mischung von selbst­ge­drehten Spiel­szenen, Doku­men­tar­bil­dern, Text­fetzen und Ausschnitten aus Film­klas­si­kern gear­beitet. Besonders bemer­kens­wert sind hier zum einen 8 »Minu­ten­filme«, die Kluge gemeinsam mit dem Kame­ra­mann Michael Ballhaus auf 65mm-Filmm­terial gedreht hat. Dieses Material ist weitaus aufnah­me­fähiger wie die üblichen 35mm oder wie Digi­tal­bilder. »Im Augen­blick der Beschleu­ni­gung der Seh-Erfahrung, in der viele keine Geduld mehr für 90 Minuten Spielfilm haben, in der ›You-Tube‹ boomt, kehren para­do­xer­weise die ältesten Anfänge des Kino, der ein-minütige Kurzfilm der Brüder Lumieres, zurück.« sagt er. Und auf die digitale Revo­lu­tion reagieren Kluge und Ballhaus »mit noch besseren Bildern und Seh-Erfah­rungen, wie man sie nur im Kino machen kann.« In die Programme sind einige sehr alte Kinofilme inte­griert, etwa der seiner­zeit sensa­tio­nelle über die »Erschießung eines Elefanten« – so etwas hat man lange nicht auf der Leinwand sehen können.

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»Das Kino ist meine Lieb­lings­kunst: Die Schwester der Oper, und ihr voraus­ge­hend.« Kluge wäre zugleich nicht das Allround­ta­lent und der begnadete Geschich­ten­er­zähler, der er ist, würde er nicht einige gute Kino-Geschichten mit anspruchs­vollen Fragen verknüpfen. Wobei hier natürlich der Haken liegt: Kluge ist ein sehr genauer, präziser Frage­steller – voller Verfüh­rungs­kraft entlockt er noch jedem inter­es­sante Antworten. Es ist eine Kunst, die richtigen Fragen zu stellen. Aber es ist auch eine Weise nicht selbst zu antworten. Zwar sagt Kluge manchmal mehr, als seine Inter­view­partner. Aber man wünscht sich, dass ihm manchmal noch mehr Fragen gestellt werden und worden wären – weil die Antworten es immer wert sind.

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Gar nicht so leicht, zu beschreiben und zu erklären, was Kluge dann genau tut. Nehmen wir zum Beispiel das »Venedig-Programm 4«. Es ist der »poeti­schen Kraft der Theorie« gewidmet. Zu Techno-Musik begegnet man »ratsu­chenden Sätzen von Aris­to­teles bis Heidegger«.
Kluge denkt sich was bei seinen Bildern. (Und das kann man weißgott nicht von jedem Regisseur sagen.) Man liest dann zum Beispiel nach einem Heraklit-Zitat die Erklärung »Heraklit, der Philosoph der Bewegung und der Trümmer«. Dazu zeigt Kluge dann Bilder eines verun­glü­ckenden Renn­wa­gens.
Oder »Jede unver­s­tänd­liche Bewegung bedeutet Gewalt.«, einer der durchaus frag­wür­digen Sätze von Heidegger. Kluge zeigt eine Berliner S-Bahn dazu. Man darf dazu auch lachen, glaube ich.
Ein Beitrag über den Ersten Weltkrieg handelt davon, wie Begriffe von der Geschichte beseitigt werden. Die Philo­so­phie kann Kriege entscheiden, wie etwa Hegel (Kluge meint: Kant), der 1807-1812 mit der Grande Armee gewann. Bevor er von Fichte oder der deutschen Romantik besiegt wurde?
Es geht aber auch umgekehrt. Also fragt Kluge nicht nur: »Wer kämpfte 1914?«, sondern ob beim Fort Douaumont vor Verdun auch Nietzsche besiegt wurde? Ob dem Über­mensch damals ein »Überding« entge­gen­trat. Auch, ob der Flam­men­werfer ein Ding an sich hat, muss an wohl fragen, traut sich aber keiner. Viel­leicht aller­dings wurde Nietzsche vor Verdun auch durch eine über­le­gene Philo­so­phie besiegt, durch den US-Prag­ma­tismus nämlich.
Ein anderer Beitrag handelt vom Mond, und seiner Lesbar­keit. Einst sei der Mond ein Spiegel des Unbe­wußten gewesen, habe Fragen ohne Antworten produ­ziert. Ein Fetisch, also ohne Gebrauchs­wert. Heute hat auch der Mond einen Gebrauchs­wert, wird karto­gra­phiert und verkauft.

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Womit wir bim aller­inter­es­san­testen Beitrag des Programms wären, der von dem Projekt des sowje­ti­schen Regis­seurs Sergeij Eisen­stein berichtet, der in den 20er Jahren Karl Marx' Kapital verfilmen wollte. Eisen­steins berühmter Kollege, der Film­pio­nier Dziga Vertov, sammelte bereits diverses Doku­mentar-Material, von dem Kluge einige atem­be­rau­bende Ausschnitte vorführt. Es geht auch um die Debatten zwischen diesen beiden so verschie­denen Köpfen: Vertov betonte, man müsse »auch den Gegner darstellen, nicht vorführen, denn sonst weiß man ja gar nicht, warum es die Revo­lu­tion geben musste.«
Das Projekt schei­terte letztlich an poli­ti­schen Ängsten Eisen­steins während des aufkom­menden Stali­nismus. Aber Kluges Film fragt weiter: Wie könnte man »Das Kapital« verfilmen, könnte man überhaupt ein theo­re­ti­sches Buch ähnlich wie einen Roman in Bilder fassen? Und welche Bilder müssten das sein? Gibt es Bilder für den Waren­fe­ti­schismus? Für die ursprüng­liche Akum­mu­la­tion?

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Es sind solche Fragen, in denen die größte Qualität von Alexander Kluge liegt: Innerlich jung geblieben ist er nicht nur in Bezug auf die Möglich­keiten des Kinos ein Optimist: »Der Film ist eine sehr junge Kunst, erst 120 Jahre alt. Ich allein habe ein gute Hälfte dieser Film­ge­schichte bewusst miterlebt. Das Kino hat viele seiner Möglich­keiten noch gar nicht entdeckt.«
Er stellt den Filme­ma­chern von heute mit seinen Fragen auch Aufgaben, Aufgaben, an denen sie schon deswegen oft scheitern, weil sie die Fragen gar nicht verstehen.

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Einige aller­dings schon. Es ist inter­es­sant und berei­chernd mit dieser Kluge-Brille einmal die Filme hier zu betrachten. Und tatsäch­lich: Ein paar von ihnen nehmen sich wirklich Eisen­steins Aufgabe an, und verfilmen, auf ihre jeweilige Art, das Kapital – und das heißt zuerst: Dinge, Gedanken, Begriffe. Nicht Menschen, die ohne Dinge, Gedanken, Begriffe nämlich eigent­lich ziemlich lang­weilig sind.
Sie entdecken die Poesie der Theorie.

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Pessi­mis­tisch ist das Bild, das Ken Loachs neuer Film zeichnet: Loachs Mittel sind billig, aber so effektiv, wie ein Hedge­fonds: Saxophon-Klänge sorgen sofort für melan­cho­li­sche Stimmung. Man sieht Kinder, aber die sind nicht so hässlich wie in russi­schen Filmen, und nicht so schön ausge­leuchtet wie bei Kauris­mäki.
Dann ist man bei »Coneforce Recruit­ment«, einer Arbeits­zeit­firma, Ukrainer werden ange­worben. It’s a Free World – den Titel kann und sollte man eher zynisch verstehen – erzählt von der jungen Britin Angie. Als sie wieder einmal entlassen wird, fasst sie sich ein Herz, und versucht, ihre letzte Chance zu nutzen: Sie macht sich selbst­ständig, und gründet selbst mit einer Freundin eine Zeit­ar­beits­firma. Angie hat einen falschen Leopar­den­mantel, lange blonde Haare, sieht trotzdem prole­ta­risch aus, fast ein bisschen so wie Amos Kolleks SUE. Und fährt Motorrad, mit Leder­kla­motten. Für ihre neue Agentur »Angie + Rosie Recruit­ment« wirbt sie verfüh­re­risch: »All shit work« würden die Leute machen, »they are willing to work.«
Das funk­tio­niert bald recht gut, und Loach führt uns ganz geschickt auf eine falsche Fährte. Wer jetzt nämlich erwartet hat, dass Loach einmal mehr vom Scheitern der einfachen Menschen erzählt, oder von einer »guten Unter­neh­merin« voller Arbei­ter­so­li­da­rität auch im Erfolg, sieht sich überaus angenehm enttäuscht: Denn bemer­kens­wert unsen­ti­mental zeichnet Loach ein packendes Portrait der alltäg­li­chen Arbeits­welt, in der Angie selbst immer ein bisschen mehr zur Kapi­ta­listin wird.
Angie hat Erfolg, nicht zuletzt, weil sie die Gesetze sehr flexibel auslegt, bald von ihrem Grundsatz »No papers, no work. Don’t waste my time« abweicht, auch mal Illegale beschäf­tigt, und diese am Ende noch betrügt – so wie sie selbst zuvor oft genug betrogen wurde. Es geht um die Korrup­tion der Seele durch Besitz­in­di­vi­dua­lismus. Loach erzählt davon, wie der Kapi­ta­lismus Stück für Stück den Charakter auch guter Menschen verdirbt – denn die freie Welt des Titels ist auch hart und oft korrupt.

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Loach erzählt mit Tempo und einem ausge­zeich­neten Gefühl für Rhythmus. Er verwendet Bild-Wort-Über­la­ge­rungen, und unter­bricht den Ernst der Geschichte immer wieder durch geniale kleine Humor­ein­lagen. Etwa wenn der Wirt, der Angie am Anfang hilft, irgend­wann die Theorie entwi­ckelt: Frauen werden regieren, in 20 Jahren. »Men will be comple­tely useless.«

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Zwei Szenen sind besonders inter­es­sant für Loachs Methode de Diffe­ren­zie­rung, de Zuspit­zung eines Problems ohne Part­ei­nahme: Ein Dialog zwischen Angie und ihrem Vater. Der Vater fragt: »Was machst Du da, was hat das für Folgen? Du vermit­telst Billig­jobs, und machst damit die Chancen Deines Sohnes kaputt. Mein Enkel wird in fünf, sechs Jahren mit Kosovo-Albanern und Russen um Jobs wett­ei­fern.«
Sie: »Mit Deinen Ansichten kannst Du ja zur National Front gehen. Ich geb' denen eine Chance.«
Vater: »Die brauchen ihre Chancen in ihren eigenen Ländern. Dort brauchen sie die Lehrer und Ärzte, die bei Dir in unqua­li­fi­zierten Billig­jobs arbeiten.«
Vater: »Zahlst Du denen überhaupt den Mindest-Lohn?«

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Dann der Moment des Bruchs zwischen Angie und Rosie. Angie hat, weil sie »den Hals nicht voll« bekommt, illegale Arbeiter bei der Polizei denun­ziert. »Ich mache Platz für unsere Arbeiter«, sagt sie. Rosie: »Was wenn das Jamie wäre?« Angie: »Es ist nicht Jamie. Wir leben davon.« Rosie: »Is there anything, you would not do?« Angie: »No idea«. Rosie: »I don’t know you anymore.«
In Loach-Filmen kann man Angst bekommen. It’s a Free World ist der beste Loach-Film seit Jahren, überaus effektiv und gekonnt erzählt der Regisseur, vermeidet einige Vorher­seh­bar­keiten. So wird Angie eben NICHT von der Polizei gefasst. Und er zeigt eine von Loachs Haupt­qua­li­täten: Wie gut er den Leuten »aufs Maul« schaut.

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Gefördert wurde It’s a Free World unter anderem von der »Film­stif­tung NRW« Ein dickes Lob dafür, dass man in Düssel­dorf nicht so regional borniert ist, wie in anderen Kino­re­gionen. Oder würde Ken Loach auch dann nicht nach München kommen, wenn er vom FFF Geld bekäme?
Die Frage aber muss gestellt werden: Warum gibt es im eigenen Land nicht so einen Film? Was würden die Redak­teure der entschei­denden TV-Sender sagen, wenn sie so ein Script bekämen? Viel­leicht: »Mit der Frau kann sich doch keiner iden­ti­fi­zieren.« Oder: »Man muss ihr noch einen Liebhaber rein­schreiben. Oder hat die Frau kein Privat­leben? So nimmt man keinen Zuschauer mit.« Oder: »Das ist eine so traurige Geschichte, das muss doch fröh­li­cher aufhören, damit der Zuschauer nicht völlig ratlos gelassen wird.«
Wer macht in Deutsch­land Ken Loach-Filme? Dresen jeden­falls nicht.

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Wuyong (auf Englisch Useless) von Jia Zhang-ke, der im Vorjahr den Goldenen Löwen gewann ist ganz anders. Aber auch hier geht es um Ideen und Prozesse, nicht um ein Subjekt.
Die Doku­men­ta­tion läuft nicht im Wett­be­werb. Gezeigt wird eine Klei­der­fa­brik in Guandong. Ohne Off-Text, ohne talking heads mit state­ments sieht man Ausschnitte aus dem Alltag Chinas, ohne Glamour, auch ohne negative Drama­ti­sie­rung. Wand­zei­tungen mit Fidel Castro und Fußball. Esserin der Kantine. Arbeiter beim Betriebs­arzt. Blicke der Über­wa­chungs­ka­mera.
Dann eine Mode­de­si­gnerin, die Kleider mit Erde kombi­niert. Sie landen bei einer Moden­schau in Paris. Die die zwei Seiten Chinas also, einmal Mode als Gebrauchs­ge­gen­stand und Mode als Kunst.
Dann das Leben in der Region Guandong: Kohle­ar­beiter im Waschraum, Motor­rad­fahrer. Am Ende zu überaus guter chine­si­scher Pop-Musik Gesichter im Close-Up. Ein paar Stücke Leben. Kommen­tar­lose Würde!

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Gleich­falls hervor­ra­gend gelungen ist STAUB. Regisseur Hartmut Bitomsky ist seit langem einer der besten deutschen Doku­men­tar­filmer: Nach hervor­ra­genden Filmen über Archi­tektur, die ersten deutschen Auto­bahnen, den B-52-Bomber handelt Staub tatsäch­lich von Staub – sehr elegant verknüpft der Film dessen verschie­dene Aspekte Hausstaub, Indus­trie­staub, und poli­ti­schen Staub – etwa Atom­fallout, Überreste von Waffen in Luft und Blut, krank­ma­chender Feinstaub und poli­ti­sierter Asbest – zu einem anschau­li­chen und über­ra­schend poeti­schen Filmessay.
Staub erfahren wir, ist »die kleinste Einheit, die noch erkennbar ist«, ohne Staub in der Luft sähe man keinen Himmel und keinen Sonnen­auf­gang, und auch ein Film ist im Prinzip nur »Staub, der in der Dunkel­heit des Kinos aufscheint.«
Ein toller Film, aber keiner, der wie heute so oft üblich, ein Thema nur insoweit erzählt, wie es perso­na­li­sierbar, also in ein mensch­li­ches Schicksal zu packen und drama­ti­sierbar ist. Sondern dessen Haupt­dar­steller eine Frage ist, keine Story und kein Drama, sondern die Geschichte. Trotzdem begegnet man aber auch hier vielen Menschen: Putz­ko­lonnen und privaten Putz­fa­na­ti­kern, Staub­for­schern und Staub­künst­lern. Aber sie inter­es­sieren nicht an sich, nach dem Gemein­platz, dass ja jeder Mensch wichtig ist, sondern für das Thema. Darin ist Staub das Gegenteil von Jia Zhang-ke, der in diesem Sinne kein Thema hat (in einem anderen Sinne natürlich schon).

Wie jeder gute Film ist STAUB eigent­lich ein Film über das Leben, sehr nach­denk­lich, sehr philo­so­phisch, voller schöner Bilder und schöner Sätze wie etwa dem des Surrea­listen Raymond Queneau über die Vergeb­lich­keit des Staub­wi­schens: »Wie man es auch anstellt, es bleibt ein Rest. Und ein Rest vom Rest.«

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Einige Tage haben alle weiß getragen. Weiße Hemden über der Jeans oder der Anzughose. Wie die Gangster in Hongkong-Filmen. Dann auf einen Schlag war offenbar der Vorrat des Mitge­nom­menen aufge­braucht, es musste gewaschen werden. Und plötzlich hatten gleich mehrere Leute statt dem weißen ein hell­blaues Hemd an. Das war der Tag der blauen Hemden. Im Rückblick zeigte sich: Der Tag der blauen Hemden war auch der Tag der schlechten Filme.

Rüdiger Suchsland