64. Filmfestspiele von Venedig 2007
Decision at Sundown |
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Überraschendes Comeback von Greenaway: Nightwatching |
156 Minuten, 155 Minuten, 153 Minuten, 151 Minuten, 135 Minuten, 134 Minuten, 124 Minuten – sieben Wettbewerbsfilme waren über zwei Stunden lang, einige weitere nur wenig darunter. Fast immer sind sie zu lang, und man hätte aus manchen gern bis zu einer Stunde herausgeschnitten. Vielleicht ist das ja der rote Faden, den wir gestern suchten.
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Etwa Nikita Michalkovs 12, ein Remake von Sidney Lumets 12 Angry Men in die russische Gegenwart versetzt, auf den Tschetschenien-Aufstand bezogen – und in Zeitlupe. Nein, nicht wirklich, aber gefühlt. Die schlanke Story Lumets wird auf doppelte Länge gezogen, und mit russischer Seele eingedickt, alles dauert Stunden, ist behäbig inszeniert, jeder der Schauspieler bekommt wie in einer Jazzcombo sein Solo. Endloses Gerede, das meiste davon entbehrlich und insgesanmt furchtbar prätentiös.
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Decision At Sundown heißt einer der Western, die in Venedig parallel zu der Retrospektive zu »Italo-Western« und in der zu Budd Boetticher gezeigt werden. Boettichers Rachethema mal fast als Komödie inszeniert, jedenfalls als Farce. »If you marry this man, you will be a widow by sundown«, droht Randolph Scott grimmig bei einer Heirat in der Kirche der Braut. Die Braut wird den Bräutigam nicht heiraten, aber tot sein wird er am Abend auch nicht. Lange glaubt
man an einen blutigen Showdown, zumal Scotts nicht sehr sympathisch ist, eine Stadt gekauft hat und den Sherrif herumkommandiert – eine Parabel auf das Verhältnis von Kapitalismus und Staat. Aber eben doch insofern versöhnt, als das dieser Herr eher schmierig als böse ist. Es gibt ein paar Bad Guys, irgendwann hat einer einen Feuerhaken im Arm, und der Sherrif wird Opfer seiner Dummheit und liegt am Ende als einziger tot im Sand.
Aber es geht doch hauptsächlich darum, dass
der Westernheld sich eingestehen muss, dass er auch nicht ohne Fehl und Tadel ist, dass Rache dumm ist, weil sie das Blut von Unschuldigen kostet, weil manche Leute eben nicht erschossen gehören.
Konsequenterweise sind die Heldinnen in dieser Zivilisierungsstory und Anti-HIGH NOON die Frauen. Vor allem die »Lebedame« (so sagte man wohl 1957) des Ortes, die im richtigen Moment einen, der vom Kämpfen nicht lassen kann, in den Arm schießt, und so daran hindert, sich erschießen zu
lassen. Am Ende sind die beiden Kämpfer am rechten Arm verwundet und somit einstweilen impotent gemacht, der Showdown vermieden. Und die anderen Männer als Hypokryten entlarvt. Trotzdem ein eher skeptischer Blick auf die Menschen: »Doc, if you were a bartender as long, as I am, you wouldn’t put too much expectations into the human race.«
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Woanders lässt sich der Showdown nicht vermeiden: Wie in vielen Western fällt nämlich am Samstag am Lido auch kurz vor Sonnenuntergang die Entscheidung im Wettbewerb um den Goldenen Löwen. Mit innovativen Filmstilen und Themen von Belang konnte das diesjährige Programm gleich mehrfach aufwarten – durch eine Konkurrenz, die zwar nicht besonders aufregend war, viele Wünsche offen ließ, aber andererseits den Wettbewerb der diesjährigen Berlinale qualitativ eindeutig in
den Schatten stellte, wird 2007 als ein insgesamt gutes Jahr in Erinnerung bleiben.
Auch kurz vor Ende gibt es keinen eindeutigen Favoriten. Beim Publikum lang lange SLEUTH von Kenneth Branagh in Front, bei den Kritikern Eric Rohmer, was wohl auch am Respekt vor dem 87jährigen Altmeister liegt, und der Tatsache geschuldet ist, dass sein Film einer ist, der das Publikum nicht entzweit.
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Gleich mehrere Filme liegen im Vorderfeld, und dürften die Preise unter sich ausmachen. Dazu gehören die beiden US-Beiträge zum Irakkrieg und seinen moralischen Folgen: In the Valley of Elah von Paul Haggis und Brian De Palmas Redacted ähneln wie schon erwähnt im Ergebnis, ihr Stil ist aber so verschieden, wie er nur sein kann, De Palma dürfte bei der nur aus Regisseuren
bestehenden Jury vielleicht die besseren Karten haben.
Zu Haggis muss man wohl mal darauf hinweisen, dass er zwar einen uramerikanischen Film gemacht hat, aber gebürtiger Kandier ist. Übrigens auch bekennender Scientologe – erzählt jedenfalls Carlos am Abend in der Maletti Bar.
Carlos verteidigt auch Wes Anderson gegen unsere harsche Kritik: »So bewegen sich Amerikaner in der Welt. So nehmen die die Welt wahr. Das ist ne typische College-Boy-Perspekive, so ist der
Anderson drauf. Indien ist für den ne bunte Wandtapete.« Na dann…
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Zu den Favoriten muss man auch Ang Lee (mit dem Weltkriegsdrama Lust, Caution) und den Briten Ken Loach (It’s a Free World) rechnen. Geben beide spricht allein, dass sie in den letzten zwei Jahren bereits in Venedig bzw. Cannes triumphierten.
Ang Lee würde man die Auszeichnung schon
für seine hübschen Sätze gönnen: »Let’s drink tonight and worry about the country tomorrow.« Die Moral seines Films ist die, dass Liebe keine Moral kennt. Am Ende öffnet sich der Faschist der Frau, deren Verrat er vielleicht sogar spürt, geht auf sie zu, darum rettet sie ihn dann. Sie ist allein, er nicht. Dafür haben den Film manche US-Kritiker dann mit Verhoevens Black Book
verglichen, was ihm ja in dieser Jury eher nutzen würde. Derek Elley von »Variety« hat treffender, trotzdem boshaft geschrieben: »Too much caution and not enough lust in Lust, Caution.« Das stimmt letztlich auch nicht, trifft aber einen Punkt. Denn so wie Brokeback Mountain vor zwei Jahren hier alle nur
vom »schwulen Cowboy-Film« redeten, sprechen nun alle nur von den Sex-Szenen, die angeblich so wagemutig seien. Für China schon, und die Amerikaner, aber nicht für Europa.
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Außer Konkurrenz mal wieder Politi-Exploitation von Amos Gitai: Die einzige echte Frage, die Disengagement aufwirft, heißt: Hat Juliette Binoche ihren Busen gemacht? »Der sitzt da oben rum, als ob er Mitte 20 wär«, meint eine Dame, die es wissen muss, »das kann nicht echt sein.«
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Noch ein schöner Satz aus dem Film über die Lage der Frauen in modernen Gesellschaften: »Men have endless distractions. We only have shopping and Mahjong.« Und Schönheitsoperationen, muss man wohl hinzufügen. Denn Binoche ist der Anlaß zu einem Gespräch über Nose- and Eye- und andere Jobs als Statussymbole, darüber wie sich künstliche Busen anfassen und ob sie mit den Jahren immer härter werden, über Frankfurter Bankiersgattinen, die keine Augenbrauen mehr haben, und nur noch
grotesk aussehen, und darüber, ob die idiotischen fettgespritzten Lippen, die gerade so in Mode sind, eher auf Aufforderung der Männer entstehen (glaubt Antje vom BR) oder aus Eigeninitiative (glaube ich, weil die Männer der Bankiersgattinnen sowieso an ihren Frauen nicht mehr interessiert sind, sondern ein Verhältnis mit ihrer neuen Sekretärin haben. Die alte ist die zweite Ehefrau). Alles ohne Ergebnis versteht sich.
Am roten Teppich des Festivals sieht man jedenfalls in
Kohortenstärke jenen Prototyp der Idealfrau des neuen Italien: Blondierte lange Haare, geschlitztes Kleid, künstlicher Busen, aufgespritzte Lippen. Sieht ungefähr so aus, wie Fallball bei Asterix.
Von Antje stammt dann noch die interessante Frage, wo die meisten Schönheitsoperationen (auf die Bevölkerungsstärke gerechnet) gemacht werden? Antwort: Nicht USA, Russland oder Schweiz, sondern Brasilien. »Mit 27 fangen die da an. Und wenn der neue Busen aus der Mode kommt, dann
lassen sie sich wieder einen anderen machen.«
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»Artists have to smoke«, sagt die Hauptfigur von Lust, Caution. Auch Rembrandt raucht ziemlich viel in Nightwatching von Peter Greenaway. Auf den Briten hätte man vor dem Festival keinen Pfifferling gewettet.
Nach seiner großen Zeit Ende der 80er, Anfang der 90er schien er etwas
in der Versenkung verschwunden – wobei mir auch seine späteren Werke immer ganz gut gefielen. Aber Nightwatching ist jetzt in jedem Fall ein großes, überraschendes Comeback. Erstaunlich, wie man sofort sieht, dass dies nur ein Greenaway sein kann. Er hat einen Stil: Barocke Bilder, distanzierte Bildtotalen, kaum Close-Ups, die Kamera immer in Bewegung: Fahrten durch riesige
Räume, langsam von einer Seite zur anderen, oder von vorne zurückziehend, dazu seitliches, wie von Vermeer gemaltes Licht.
Der Film ist eine historische, excellent recherchierte Biografie und erzählt von Rembrandt und dem Zeitpunkt, als der um 1640 jenes Portrait der Amsterdamer Miliz malte, das wir heute die »Nachtwache« nennen. Man erlebt Rembrandt in seiner Welt, die Beziehungen zu seinen drei Frauen werden erklärt.
Greenaway zeigt den Barock dem erstaunten Blick unserer Tage
als ein überaus elegantes, zivilisiertes Zeitalter. »Seien Sie nicht so altmodisch. Wir leben schließlich im 17. Jahrhundert. Frauen dürfen rauchen, mit Descartes korrespondieren und ihre Kinder stillen«, sagt eine Figur.
Greenaway zeigt Rembrandt in seiner Zeit als eine Figur wie heute Mick Jagger oder Bill Gates. Als er 23 Jahre als war, waren seine Bilder in ganz Europa berühmt. Er verdiente ungemein viel Geld, war eine Ikone der Mode, der Nachtklubs, ein Star. In den nächsten 15
Jahren, bis 1642, hat er sein ganzes Geld verloren, er war bankrott. »Es war immer sehr schwer, diese big dramatic transformation zu erklären«, so Greenaway bei der Pressekonferenz, wo er auch seine Liebe-Haß-Beziehung mit Rembrandt – »nicht mein Lieblingsmaler« – erklärt: »Ich kann nicht alles beweisen, aber sie können es auch nicht widerlegen … there is no such thing as history, there are only historians.«
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Zugleich ist dieser grandiose Film auch einer über die Entwicklungsbedingungen der Kunst (und des Kinos), darüber, dass ein Kunstwerk mit Eros und mit Macht gleichermaßen zu tun hat, mit dem vollkommenen, passiven, empfangenden Einlassen auf die Welt und dem sich-ihr-Entziehen gleichermaßen. Beides ist sowieso im Prinzip dasselbe. Man erwartet nichts von der Welt, weil man alles nimmt und will. Weil alles gut ist. Der Künstler sieht die Welt an wie Gott.
Interessant, dass
Greenaway hier dann doch so an der Idee des Meisterwerks festhält, auf sie fixiert ist, auf das eine große Werk. Eine Idee, die er dann doch oft negiert.
Die »Nachtwache« ist (quasi auf einer Hitparade der Meisterwerke) das viertberühmteste Bild der Welt, nach der »Mona Lisa«, dem »Abendmahl« und der »Sixtinischen Kapelle«. Alle haben die »Nachtwache« mit eigenen Augen gesehen: Hitler hat es gesehen, Churchill hat es gesehen, Stendhal und Van Gogh haben es gesehen, die
französischen Revolutionäre. Ein regelrechter Kulturtourismus entstand darum.
»51 Mysterys« gäbe es über das Bild. Warum dies, warum das?
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Damit ist Nightwatching auch ein kluger Essay über Bildkomposition. Greenaways Werk kann man seit jeher wie Antonionis Blow Up als eine Untersuchung des Bildes und der Natur des Bildes begreifen, die vom Primat des Bildes im Kino geprägt ist.
Rembrandt in seiner Perspektive
ist eine zeitgemäße Figur: »Kein Menschenhasser, ein Humanist, post-freudianisch, post-modern, mit großem Sinn für Ironie, ein Relativist – der ideale Maler. Und eine sehr sehr relevante Person. Rembrandt ist mir etwas zu-Hollywood, sensationell, große Gesten, aber in einer sonderbaren Weise waren seine Bilder der Anfang des Kinos. Denn unsere Aufgabe im Kino ist das Spielen mit Licht.« So wird Nightwatching auch zum Manifest gegen ein textbasiertes Kino – und einer der Favoriten auf den Goldenen Löwen.
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Am Abend dann erzählt man, Greenaway habe eine Kollegin am Ende eines Interviews angeschrieen: »Ich gebe Ihnen nie wieder ein Interview, wenn Sie nicht endlich im 20. Jahrhundert ankommen.« Im 20. wohlgemerkt!
Das passt zu der Erzählung eines überaus renommierten Kollegen, der erzählt, er hätte immer Angst, dass das Interview schief geht, sich ein Regisseur beschwert. Vor vielen Jahren sei er einmal von Robert Altman angeschrieen worden, seitdem…
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Arrogant sei Greenaway, meint ein anderer. Natürlich ist er das. Sein ganzes Werk lebt von Arroganz. Aber auch bei der Pressekonferenz waren seine Antworten wieder weitaus besser, als die Fragen, die ihm gestellt wurden.
Aber auch wir sind natürlich arrogant – alle drei Wettbewerbsfilme aus Italien haben wir geschwänzt. Wie letztes Jahr, wer das hier regelmäßig liest, weiß längst, dass unsere Liebe zum Italienischen Kino auf die Klassiker beschränkt ist, in der Gegenwart
allenfalls noch Nanni Moretti gelten lässt, keinesfalls aber Benigni, den alten Depp. Und alle die doch in den Italienern drin waren, meinten: Glück gehabt.
Die Italiener , in diesem Fall jene in der Festivalorganisation, sind aber auch selber schuld: Konsequent programmieren sie ihre eigenen Filme auf den frühen Morgen, wie zur Entschuldigung und als wollten sie dazu auffordern: »Schlaft doch aus, im Kino oder zu Hause.«
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Ein wirkliches Glanzlicht und unser persönlicher Goldener Löwe ist La graine et le mulet von Abdellatif Kechiche. Heute, kurz vor Ende führt er sogar in sowohl dem Kritikerspiegel, als auch der Publikumswertung. Was der Titel genau bedeutet, darüber wurde hier schon sehr viel spekuliert: »la graine« ist das Getreide, das Korn, das man zum Couscousmachen braucht. Aber für »Mulet« gibt es drei Angebote: »Maultier« und »Meeräsche« stehen im Dictionnaire. Letzteres macht dabei mehr Sinn, denn es geht hier viel ums essen, und zwar um Fisch. Allerdings auch um einen alten Vater, der störrisch ist, und der wie ein Maultier gearbeitet hat. Michael besteht darauf, dass »Le Mulet« auch der Topf sei, in dem man Couscous macht. Und der ist in diesem Filmtatsächlich zentral.
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Warmherzig und humorvoll erzählt der 1960 in Tunis geborene Franzose in seinem Film von einer Großfamilie in Marseille. Es fängt an, wie bei Loach, eine Hafenrundfahrt stellt uns den Ort vor, zeigt, wo alte Schiffe renoviert oder – meistens – verschrottet werden. Hier arbeitet Slimane (Habib Boufares) und ist mit seinen 60 Jahren selbst schon gewissermaßen reif zum Verschrottetwerden.
Der Film läßt sich Zeit, ihn und seine Lebensverhältnisse vorzustellen. Er holt
Fisch – Fische sind das einzige, das hier alle im Überfluß haben –, geht bei seiner Frau vorbei, streitet mit ihr, das sie längst getrennt leben, erfahren wir erst später. Dann bei seiner Tochter, und so geht es weiter: Eine Großfamilie wird vorgestellt, deren alter Vater ihr nur noch halb angehört. Denn Slimane lebt getrennt mit neuer Frau und Stieftochter, aber auch mit denen nur halb zusammen. Bei einem Sonntagscouscous-Essen sind alle zusammen. Außer Slimane.
Man redet
über ihn, und über Gefühle. Auf die Bemerkung einer Tochter, sie liebe den Vater immer noch, sagt sie: Liebe sei wichtig, wichtiger, als Liebe aber sei, argumentiert die Mutter, »Ishra«, Haltung. »Amour… le couscous aussi je fait avec l’amour.«
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Die Stieftochter, Rym (Hafsia Herzi), tritt immer mehr in den Vordergrund. Sie wird die zweite Hauptfigur des Films. Als die Söhne Slimane zur Rückkehr in die Heimat bewegen wollen, wirft sie ihnen vor: »Keinen Respekt« zu haben. Und als er entlassen wird, ist sie es, die Verantwortung übernimmt: Sie bekämpft seine Resignation, ermutigt ihn, ein Restaurant zu eröffnen, und dafür alles auf eine Karte zu setzen. Sie geht mit ihm zur Bank, zu den Behörden. Rym trifft Entscheidungen,
steht für was ein – da wird bis zum Schluß des Films so bleiben.
Als dann das Restaurant tatsächlich eröffnet wird, müssen sich die sehr unterschiedlichen Teile dieser Familie zusammenraufen. Doch, dann, im entscheidenden Moment fehlt der Couscous-Topf! Dramatik pur, aus so einem im Prinzip banalen Ereignis!! Alles wird lauter, schneller, nervenzereißend.
Am Ende ist die Geschichte von Rym und Slimane erkennbar als Drama des Verhältnisses von Jugend und Alter, auch als
eine große Liebesgeschichte.
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An Fatih Akin könnte man denken, denn auch dieser Film gibt Menschen und Milieus und Lebeweisen eine Stimme, die man bisher links liegen ließ. Aber Kechiche ist genauer, realistischer, klarer, intellektueller, eben französischer.
Der Film ist schön, man möchte nicht mehr wegschauen müssen. Der Film begeisterte gleichermaßen durch seine exzellente, innovative Inszenierung, eine ungewöhnliche Story, und grandiose Darsteller – und wurde so jenseits der Politdramen
zum vorläufigen Favoriten bei Publikum und Kritikern. Egal, ob er am Ende triumphiert: Mit seinem dritten Film nach La faute à Voltaire und L’esquive katapultiert sich der 47jährige endgültig in die erste Liga des Weltkinos.
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La graine et le mulet lässt sich ganz gut Zeit, hat minutenlange Szenen, einen zehnminütigen Schreianfall genauso wie einen zehnminütigen Bauchtanz. Man lauscht Frauengesprächen, dringt in die Intimität einer Familie ein. Das geschieht durch ständige Wechsel von Perspektive und Zentrum, Betrachter und Objekt des Films. Kechiches zu gleichen Teilen intellektuelles und
unterhaltsames, ehrgeiziges und populäres Kino ist stilistisch anspruchsvoll, weil man Zeit braucht, weil ein Beziehungsnetz erzählt wird, nicht Personen, und wieder mal keine Psychologie. Jede Person wird immer durch Perspektive einer anderen gezeigt.
Das ist kein Naturalismus, wie es jemand hier nannte, eher schon ein subjektiver Realismus. Denn Kechiches Film – zugleich Komödie wie Melodram, offen zur Tragödie hin – ist eine soziale Chronik, überaus realistisch
und genau beobachtet, hinter der immer eine größere, über den sozialen Realismus hinausreichende Dimension sichtbar ist. Im noch so Kleinen ist hier das ganz Große enthalten.
Rüdiger Suchsland