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08.01.2004
 
 
         

Menschen am Abgrund - Kino an den Rändern
Ein Rückblick auf das Kinojahr 2003

 
       
 
 
 
 

Hinsichtlich seiner aktuellen Entwicklung und seiner gesellschaftlichen Relevanz, gleicht wohl keine Kunstform dem Kino so, wie die Popmusik. Doch während selbst die wechselhafte und unstete Popbranche im Jahr 2003 wieder einige markante (wenn auch oft kurzlebige) Moden und Hypes hervorbrachte, ist es nahezu unmöglich, im Kino des vergangenen Jahres eindeutige Trends zu entdecken.

Der einzige gemeinsame Nenner des Jahrgangs 2003 ist wohl, dass es keinen gemeinsamen Nenner gab, dass sich das Kino inhaltlich und formal in einer unübersehbaren Vielfalt und Uneinheitlichkeit darbot, dass milliardenschwere Blockbuster selbstverständlich neben Low Budget-Dramen existierten, dass sich die Filmkunst dabei immer weiter aufspaltet, spezialisiert und einzelne Teilaspekte so weit ins Extrem treibt, dass manche Werke an die Grenzen unserer üblichen Vorstellung des Mediums Film stießen.

Die folgenden Filme habe immerhin eine Sache gemeinsam; trotz der verwirrenden Vielfalt und des einmal mehr enormen Angebots (zumindest in einer Stadt wie München), haben sie es geschafft, einen positiven Eindruck bei mir zu hinterlassen.

Gab es im abgelaufenen Jahr auch keine klaren Trends, so zeigten sich doch gewisse Tendenzen, die aber ebensogut reiner Zufall sein konnten. So präsentierten sich etwa einige der amüsantesten Filme im perfekten Retro-Chic, etwa die swingende Hochstaplerfarce CATCH ME IF YOU CAN, die modernisierte Screwball-Comedy INTOLERABLE CRUELTY und die mild ironische Doris Day Reminiszenz DOWN WITH LOVE. Gerade an diesen drei so unterhaltsamen Komödien läßt sich aber noch eine weitere Strömung des Kinojahres 2003 ablesen: Der unbeschwerte Spaß ist vorbei, der Ernst des Lebens hält wieder Einzug, selbst in den Komödien steckt ein ordentliches Maß menschlicher Tragik (aber auch umgekehrt, so dass sich in den Tragödien oft auch etwas Komisches fand) und vor allem die Liebe wurde in Frage gestellt, verteufelt oder in ihren sonderbarsten Formen ausgelebt.

In diesem Zwischenreich aus Vergnügen und Verzweiflung, fanden sich dann Filme wie die bitterböse Seniorensatire ABOUT SCHMIDT oder Paul Thomas Andersons PUNCH DRUNK LOVE mit einem der bizarrsten Liebesbekenntnisse der Filmgeschichte oder die erstaunlich zurückhaltenden Sado-Maso Lovestory SECRETARY.

Die perfektesten Beispiele der gerade beschriebenen Richtung bot aber das Filmpaar AUTO FOCUS von Paul Schrader und CONFESSIONS OF A DANGEROUS MIND von George Clooney. Auch in der Vergangenheit angesiedelt, zeichnen diese Filme die weitgehend wahre, aberwitzige und abgründige Lebensgeschichte eines sexbesessenen Fernsehschauspielers bzw. eines mordenden Fernsehproduzenten. Beide Filme sind technisch makellos, erzählen auf atemberaubende Weise eine faszinierende Geschichte und packen den Zuschauer auf mehr als einer emotionellen Ebene. Hervorragend dabei auch die Schauspieler wie Greg Kinnear und Willem Dafoe bzw. Julia Roberts in einer ihrer besten Rollen und Sam Rockwell, der auch in Ridley Scotts mittelmäßigem TRICKS einer der wenigen Aktivposten war.

"Geschlagen" wird Sam Rockwell aber von George Clooney, der mit seinem fulminanten Regiedebüt, in dem er auch noch selber mitspielte, sowie seinen Rollen in der Komödie INTOLERABLE CRUELTY und Steven Soderberghs SOLARIS einer der Filmkünstler des Jahres war. Das "Künstlerkollektiv" des Jahres war dann auch der Kreis um die Film- und Geschäftspartner Clooney und Soderbergh, der nicht nur den elegisch bildgewaltigen SOLARIS, sondern auch den kontroversen Low Budget-Film FULL FRONTAL (wieder mit einer sehr überzeugenden Julia Roberts) ins Rennen schickte.

FULL FRONTAL ist ein Film über Film im Film im Film und manchen verwirrten die zahlreichen Wirklichkeitsebenen. Doch Soderberghs Film ist bis zum Schluß konsequent und logisch und bietet neben einer gekonnten Satire auch eine interessante Reflexion darüber, was Begriffe wie Wirklichkeit oder Wahrheit im Kino bedeuten.
Fast das selbe Thema, aber eine andere Form, wählte Spike Jonze mit seinem dreimal um die Ecke gedachten ADAPTION. Die Geschichte von Nicolas Cage als Drehbuchautor mit Schreibblockade, sich selbst als nervenden Bruder und einem Drehbuch, das sich irgendwie selbst verfilmt, ist ein geistreiches Vergnügen, das nur manchmal an der intellektuellen Maßlosigkeit des neuen Kult-Drehbuchautors Charlie Kaufman zu leiden hat.

An ganz anderen Rändern des Kinouniversums bewegte sich der zweite Spike Jonze Film (hier aber nicht als Regisseur, sondern als kreativer Kopf im Hintergrund), JACKASS - THE MOVIE. Natürlich hat die Kinoversion der populären MTV-Show wenig mit einem üblichen Spielfilm zu tun, doch berührte er (absichtlich oder nicht) viele Themen des Kino: Was z.B. macht eigentlich einen "richtigen" Film aus? Zeigt JACKASS nicht in Reinform das, worüber wir seit jeher in den Komödien vom Slapstick der Stummfilme bis zu den gross out-Comedies der 1990er lachen? Ist JACKASS nicht die freundlich chaotische Version dessen, was uns der Film FIGHT CLUB gezeigt hat? Fest steht, dass JACKASS um ein Vielfaches subversiver ist, als alle seine Nachfolger und rip-offs und dass er einer der ganz wenigen Filme war, die es in 2003 schafften, für eine öffentliche Kontroverse zu sorgen (bis hin zu einer Warnung durch das Bayerische Familienministerium).

Ebenfalls für Kontroversen, jedoch nur unter Cineasten, sorgten die neuen Filme von Lars von Trier und Quentin Tarantino. Von Triers minimalistischer DOGVILLE und Tarantinos überbordender KILL BILL ähnelten sich zwar inhaltlich mit ihrer Geschichte von den Leiden und der Erniedrigung einer Frau (auch das war eines der wiederkehrenden Themen in 2003), doch der formale Unterschied zwischen den Filmen konnte nicht größer ausfallen. Die spartanische Versuchsanordnung in DOGVILLE und die handlungsarme Bilderflut in KILL BILL führte oft zu diametral entgegengesetzten Meinungen bei den Filmfans. Meine ganz persönliche Ansicht: DOGVILLE ist schlicht und ergreifend ein Meistermerk, KILL BILL ist sicher furios, verzettelt sich aber in den endlosen Möglichkeiten, die Tarantino zur Verfügung standen.

Das Gleiche muss man leider auch Martin Scorseses lange ersehnten GANGS OF NEW YORK vorwerfen, der zwar einer seiner opulentesten Filme ist, aber hinter der Intensität manch seiner unspektakuläreren Werk zurückblieb. Die Erinnerung an die Kraft des frühen Scorseses blitzte dagegen im brasilianischen CITY OF GOD auf. Der zum Teil erhobene Vorwurf, CITY OF GOD ästhetisiere die "Ghetto-Romantik", war dabei nicht nur dumm, sondern auch reaktionär, da sich das kritische Kino zum Glück endlich aus der verhängnisvollen Doktrin "triste Bilder für triste Geschichten" löst.

Wie mitreißend und faszinierend dann auch politisches Kino sein kann, zeigte das zweite große Schauspieler-Regiedebüt DER OBRIST UND DIE TÄNZERIN von John Malkovich. Die besondere Intelligenz und Sensibilität, die man von der Schauspielerei Malkovich' kennt, liegt auch in seiner mutigen Regiearbeit, die sich in keinem Punkt auf bewährte Erfolgsrezepte verläßt (vielleicht hat es deshalb zwei Jahre gedauert, bis der Film ins Kino kam).

Der Einfluß des asiatischen Kinos war auch in 2003 ungebrochen und jeder Actionfilm, der auf sich hielt, wartete mit entsprechenden Martial Arts Einlagen auf. Trotzdem ist uns die klassische asiatische Erzählweise immer noch kaum vertraut, so dass man sich mit HERO und Takeshi Kitanos DOLLS wieder in berauschend schöne und faszinierend fremde Welten entführen lassen konnte.

Wie bereits erwähnt, gingen in diesem Jahr die Tragödien und die Komödien sehr häufige und sehr gelungene Verbindungen ein. Besonders tragikomisch ist dabei offensichtlich der Alltag junger Männer, die am Leben und vor allem an der Liebe verzweifeln und sonderbare Namen tragen. Egal ob Wilbur in WILBUR WANTS TO KILL HIMSELF im tristen Schottland, NÓI ALBINÓI im kalten Island, IGBY im reichen New York oder Kaja in WILDE BIENEN in der ländlichen Tschechei; ihre Probleme sind universell, ihre Umwelt erscheint unwirklich, ihr täglicher Kampf führt zu nichts. Als Zuschauer kann man gar nicht anders, als Sympathie zu empfinden, mit zu leiden, mit zu lachen.

Kajas Angebetete aus WILDE BIENEN heißt Bozka und obwohl sie doch im selben Film sind, ist ihr Leben bedeutend trister und weniger zum Schmunzeln, als das von Kaja. Und in der Tat hatten die Frauen im Kino 2003 einiges mehr zu ertragen und zu erdulden, als ihre männlichen Kollegen. Das war zwar dann selten sehr amüsant, deshalb aber nicht weniger sehenswert, noch dazu, da es Platz für viele hervorragende, weibliche Schauspielleistungen bot. Etwa die von Sarah Polley in MEIN LEBEN OHNE MICH oder die von Nina Hoss in WOLFSBURG oder die von Oksana Akinshina in LILJA 4-EVER, der der mit Abstand schmerzhafteste und traurigste Film über den Missbrauch einer Frau war. Auch wenn die Demütigung von Uma Thurman in KILL BILL und von Nicole Kidman in DOGVILLE ähnlich absolut ausfiel, so wurde ihnen in ihrer künstlichen Welt doch Rache gewährt. Lilja dagegen lebt in einer tiefschwarzen Wirklichkeit, aus der sie nur einen verzweifelten Ausweg sieht.

Den gleichen "Ausweg" wie Lilja, wählte auch Virginia Woolf, die in THE HOURS eindrucksvoll von Nicole Kidman dargestellt wurde. Der elegant ineinander verwobene Film überzeugte durch ein hervorragendes Drehbuch, eine feinsinnige Regie und einem erstaunlichen Schauspielerensemble, allen voran aber auch hier wieder starke Frauen(rollen) u.a. eben Nicole Kidman (die neben DOGVILLE auch noch in DER MENSCHLICHE MAKEL zu sehen war), Meryl Streep (auch in ADAPTION) und Claire Danes, die mit diesem Film und ihren Rollen in IGBY und Thomas Vinterbergs IT'S ALL ABOUT LOVE zu den Nachwuchsschauspielerinnen des Jahres zählte und etwa die omnipräsente Brittany Murphy "alt" aussehen ließ.
Ähnlich stark (mit Frauen besetzt) wie THE HOURS war THINGS YOU CAN TELL über den Alltag einiger Frauen in Los Angeles, der trotz Stars wie Glenn Close, Holly Hunter und Cameron Diaz leider kein größeres Aufsehen erregte. Trotzdem sehr sehenswert. Das spannendste Zwei-Frauen-Stück schließlich drehte Francois Ozon (wie übrigens bei fast allen der gerade genannten "Frauenfilme" Männer die Regie führten) mit dem erotisch aufgeladenen SWIMMING POOL.

Der deutsche Film zeigte sich gewohnt durchwachsen, wobei der Erfolg von GOOD BYE, LENIN! sehr erfreulich und absolut berechtigt ist und man sich weitere Worte hierzu wohl sparen kann. Zusätzliche Aufmerksamkeit verdient dagegen NARREN von Tom Schreiber, der bedauerlicherweise nur ein sehr kleines Publikum erreichte. Ein kafkaesker Alptraum über Köln zur Karnevalzeit und ein schräges Kinoerlebnis nicht nur für bekennende Faschingshasser. Mit löblicher Konstanz lieferte Christian Petzold mit dem bereits erwähnten WOLFSBURG auch im vergangenen Jahr einen subtil spannenden Film ab. Mit seinen unterkühlt klaren Bildern hat sich Petzold eine der markantesten Bildersprachen des jungen deutschen Kinos erschlossen.

Ähnlich zurückhaltend wie bei Petzold, ist der Regiestil von Andreas Dresen, nur dass bei Dresen nicht kühle Sachlichkeit, sondern augenzwinkernde Schlichtheit dominiert. So auch in seinem hervorragenden Dokumentarfilm HERR WICHMANN VON DER CDU, der bewies, wie nahe die Spielfilme Dresens an der Realität sind. Womit wir auch schon bei den wenigen Dokumentarfilmen sind, die sich gegen die Übermacht der Spielfilme durchsetzen konnte. Scheinbar herrscht immer noch die irrige Annahme, dass ein Dokumentarfilm nur dann von Interesse ist, wenn man einen Bezug zu seinem Thema hat. Merkmal einer guten Doku ist es jedoch, Dinge nahe zu bringen, die einem bisher vollkommen fremd waren. So musste man kein Punkfan, Dekonstruktivist oder Filmverrückter sein, um sich bei GOLDEN LEMONS, DERRIDA und CINEMANIA hervorragend zu unterhalten und vielleicht sogar noch die ein oder andere neue Erkenntnis mitzunehmen.

Vom cineastischen Standpunkt aus gesehen schwach präsentierte sich in 2003 das Genre-Kino. Auch die Wiederbelebung von Sujets wie dem Piratenfilm half nicht darüber hinweg, dass sich etwa Action- oder Horrorfilme immer stärker den kommerziellen Anforderungen anpassen und die Freiheit ihrer Genrenische immer seltener Ausnutzen. Positive Ausnahme bot hier vor allem 28 DAYS LATER von Danny Boyle, ein geradliniger, geradezu klassischer Horrorfilm, der eine aufrechtes Grüppchen auf eine Legion von Untote und eine Truppe weitgehend hirntoter Soldaten treffen läßt.

Das Kommerzkino erreichte im letzten Jahr neue Einspielrekorde, was nicht nur mit einer perfektionierten Vermarktung zu tun hat, sondern auch an einer immer differenzierteren Anpassung der Filme an den Geschmack und die Erwartung des Massenpublikums liegt Am ehrlichsten (und somit noch am erträglichsten) in diesem Sinne war 3 ENGEL FÜR CHARLIE - VOLLE POWER, der sich gar nicht mehr die Mühe machte, dem Zuschauer ein durchdachtes "Filmkunstwerk" vorzugaukeln, sondern - befreit von überflüssiger Handlung - schöne Frauen, spektakuläre Action und flotte Sprüche zu einem Kino der reinen Form und Unterhaltung kombinierte.

Unsere Vorstellung davon, wie ein Film sein muss, sein kann, sein darf, wurde 2003 also mehrfach und aus sehr unterschiedlichen Richtungen in Frage gestellt. Man sollte darin das positive Lebenszeichen einer immer noch gerne unterschätzten Kunstform sehen. Auch von der viel beschworenen Krise des Kinos kann angesichts der hier aufgezählten Filme keine Rede sein (die größten Missstände gibt es momentan noch in der Auswertung und dem Verleih vieler Filme). Man kann also vorsichtig optimistisch in das Kinojahr 2004 blicken.

Michael Haberlander

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