08.10.2020
ABSTAND/ZOOM

A_ABSTAND (Oktober 2020)

Zustand und Gelände
Mit zeitlichem Abstand umgehen: Zustand und Gelände von Ute Adamcziewski
(Foto: Grandfilm)

In 26 Schritten durch das filmische Alphabet. Eine völlig subjek­tive monat­liche Serie über Begriffe und ihre Anwendung auf aktuelle Filme.

Von Nora Moschue­ring

Mit diesem Begriff zu beginnen ist natürlich wenig gewitzt, zuerst dachte ich auch an AUFWACHEN, ABGRENZEN oder ABSTRAKTION, aber dann bin ich seit langer Zeit mal wieder im Kino, sehe mich um und habe endlich, was man sich immer wünscht: seinen Raum, sein Terri­to­rium, Platz. So wie ich mich auch in jeder U-Bahn immer schon auf Abstand gesetzt habe, so wurde es jetzt hier auto­ma­tisch gebucht. »Das ist mein Tanz­be­reich und das ist dein Tanz­be­reich.« Natürlich ist das ökono­misch ein Desaster für die Kinos (und alle, die auch vom Eintritts­preis leben: Verleiher, Produk­ti­ons­firmen, Filme­ma­cher ...), denn bei dem Verkauf von Kino­ti­ckets geht es immer schon um Quantität und nicht um Qualität, anders als beim Kauf. Ich vergesse ohnehin, während ich schaue, was um mich herum passiert, aber als ich wieder »aufwache«, will ich mit jemandem über den Film disku­tieren, jetzt hier, oder in der Bar um die Ecke, auf ein Bier, eine Limo. Ich stehe dann draußen und gucke in mein Handy.

ABSTAND. Für eine Person, die sich ihr Leben bewusst aus zahl­rei­chen Bausteinen zusam­men­ge­setzt hat: Freund­schaften, Wohn­räumen, Arbeits­räumen, Reisen, Projekten, Erleb­nissen, aus Barsi­tua­tionen, Kino­gängen, Feiern, Festivals ... und auch aus der Neugierde auf das Dazwi­schen, die Abstände, die Zufälle, die Möglich­keiten beinhalten.
ABSTAND. Bausteine einer selbst­ge­wählten oder doch selbst­ge­fun­denen und verknüpften Biografie, kleine Tetris-Steine, Container, eine Art Sammel­korb. Man könnte meinen, sie würden sich irgendwie zu einem konkreten Bild vereinen, aber es geht um Farben, um ein Chan­gieren in eine Richtung.
ABSTAND. Die Bausteine sind noch da, aber sie haben sich vonein­ander entfernt, driften ausein­ander, gewinnen Abstand. Der Abstand aber macht das Gegenteil von dem, was die schmalen farbigen Fugen norma­ler­weise tun, er reduziert die Möglich­keiten. Abstände können Potential haben. Abstände können aber auch verein­zeln, denke ich, während ich in mein Handy gucke.

Zeit­li­cher Abstand

Ich stehe vor dem Kino und komme gerade aus Nolans Tenet. Ich google im Anschluss der Zeit hinterher, wie ich das auch schon bei Inception und Inter­stellar gemacht habe. Tenet ist weit weniger raffi­niert als diese beiden Filme, er hat eigent­lich nur einen Clou, der filmisch ziemlich viel hermacht, vor allen Dingen weil er ordent­lich verwirrt. Er hebt die Richtung der Zeit auf bzw. man kann sie für einzelne Körper ändern, d.h. man kann sich selbst treffen und man kann die Zukunft verändern, indem man rückwärts in die Vergan­gen­heit geht. Zeit­rei­se­filme sind immer auf die ein oder andere Weise unlogisch und Tenet spricht das mit dem Groß­va­ter­pa­radox immer wieder an, kann es aber nicht auflösen – dadurch dass sich Nolan in Inception an neuronale Welten und keine physi­ka­li­schen macht, konnte er dieses Kausa­li­täts­pro­blem dort umgehen. Die Termi­nator-Reihe ist ein ähnliches Beispiel, auch hier wird in die Vergan­gen­heit gereist um denn größt­mö­g­li­chen Abstand zwischen sich und die Zukunft zu bringen und das heißt, dass sie zu einer anderen wird.

Der Schnitt eines Filmes ist per se eine Form des Abstand­neh­mens, des Zurück­tre­tens, des sich Distan­zie­rens. Orien­tieren und neu sortieren. Auch hier haben sich die Gege­ben­heiten gerade geändert: sitzen norma­ler­weise oft Editor und Regisseur zusammen, so passiert das gerade viel online, an der HFF z.B. findet man den nötigen Abstand, indem man in zwei unter­schied­li­chen Räumen jeweils alleine sitzt und auf mitein­ander synchro­ni­sierte Bild­schirme sieht. Der Abstand ist also nicht mehr nur zeitlich, sondern auch räumlich.

Der Abstand wächst aber auch, wenn man mit Material arbeitet, das man nicht selber gemacht hat, wie bei Beuys von Andres Veiel, der mit Editoren zusam­men­ge­ar­beitet hat, oder Schlin­gen­sief – In das Schweigen hinein­schreien von Bettina Böhler, die »eigent­lich« Editorin ist, hier aber auch zur Regis­seurin wird. Böhler hat in den 90ern zwei Filme von Schlin­gen­sief montiert. Mit ihm. In dem Film über ihn arbeitet sie mit Archiv­ma­te­rial: Inter­views, Aufzeich­nungen von Thea­ter­stü­cken. Was macht man? Man sichtet und findet einen Fokus, in ihrem Fall auf seine Ausein­an­der­set­zung mit Deutsch­land, dem Natio­nal­so­zia­lismus, der Wende, aber eben auch auf seine Kindheit. Mit dem zeit­li­chen Abstand und ihrem Wissen (und dem vieler seiner Wegge­fährten), hat sie es in eine Form gebracht, die zudem noch Schlin­gen­siefs eigener mäan­dernder Sprache, seinen asso­zia­tiven Gedan­ken­s­prüngen ähnelt.

Auf dem UNDERDOX Film­fes­tival, das vom 08.–14. Oktober statt­findet, läuft Zustand und Gelände von Ute Adamc­ziewski, der die Goldene Taube auf dem DOK Leipzig gewonnen hat) (Sonntag 11.10. 11.00 Theatiner Filmkunst), eine weitere Art mit einem zeit­li­chen Abstand umzugehen. Ähnlich wie bei Sergei Loznitsas Film Auster­litz geht es um Orte, die mit dem Natio­nal­so­zia­lismus zu tun haben und unserem heutigen Umgang mit ihnen. In Auster­litz um die KZ-Gedenk­s­tätten und den Tourismus in ihnen, in Zustand und Gelände um soge­nannte wilde Konzen­tra­tions- und Schutz­haft­lager, in denen poli­ti­sche Gegner inter­niert wurden und die heute größ­ten­teils in Verges­sen­heit geraten sind und in denen sich unter­schied­liche Nutzungen und damit Erin­ne­rungs­kul­turen fest­ge­macht haben. Dabei treffen Bilder der Gegenwart auf Texte der Vergan­gen­heit, die bis ins Heute reichen.

Künstler im Fokus bei UNDERDOX sind Eve Heller und Peter Tscher­kassky. Sie arbeiten mit »Fremd­ma­te­rial«, analogem Film­ma­te­rial. Sie mani­pu­lieren es, wieder­holen es, zerkratzen es, machen die physische Form des Mediums wieder sichtbar. Soll die viel­be­sagte Immersion dazu führen, dass wir den Abstand verlieren, machen sie die Mate­ria­lität des Mediums wieder sichtbar, weil viel­leicht gerade in seiner Distanz zur Realität und in seinem tech­ni­schen Eigensinn die Kunst des Films liegt (das geht auch digital, auch Nolan arbeitet damit). Die beiden schöpfen aus den physi­schen Eigen­heiten ihres Mediums, um es zu dekon­stru­ieren und es dadurch wieder zu verzau­bern.

Räum­li­cher Abstand

Der Doku­men­tar­film ¡Vivan las Antipodas! von Viktor Kossa­kovsky versucht es 2011 mit dem größt­mö­g­li­chen räum­li­chen Abstand, den man auf der Erde einnehmen kann. Er taucht auf der einen Seite der Erde ein und auf der gegenü­ber­lie­genden wieder auf.

Auf den Film­fest­spielen von Venedig hat gerade Nomadland von Chloé Zhao den Goldenen Löwen gewonnen. Ich habe den Film noch nicht gesehen, der Abstand war zu groß, auch nach Hamburg, wo er als Abschluss­film des Filmfests läuft. Nomadland spielt in den Trailer-Parks in den USA (Trailer, als Urform des kleinen Lebens­con­tai­ners). Unter Menschen, die in ihren Autos leben und sich scheinbar von der Gesell­schaft entfernt haben. Nomaden, wie Fern (Frances McDormand), die mit 60 durch den wirt­schaft­li­chen Zusam­men­bruch einer Klein­stadt alles verloren hat und weiter­zieht, dahin wo es Geld gibt, Perspek­tive oder eben immer weiter.

Körper­li­cher Abstand, der Sehnsucht und Verlangen erzeugt, ist die Essenz aller Liebes­filme und über­le­bens­wichtig in den meisten Horror­filmen.

Die Kleidung und die Körper in Über die Unend­lich­keit von Roy Andersson wispern nichts anderes als Abstand von uns, den bunten, lauten, leben­digen. Andersson schafft eine eigene Welt aus Menschen, die kürzeste Sätze sagen, deren Mimik verschwindet, deren Gesten und Bewe­gungen fast slap­stick­artig minimal, aber dadurch auch durch und durch melan­cho­lisch, wenn nicht gar depressiv sind. Wir fühlen uns erst mal befremdet, wenn wir das sehen und doch: Wie vor einem Gemälde in einem Museum (es gibt auch keine Zooms oder Close Ups): Wir fangen mit einem Abstand an, iden­ti­fi­zieren uns mit Nichts und doch, ganz allmäh­lich, schleicht sich die Ahnung ein, dass das wir sind, die beun­ru­hi­gende Nähe zum eigenen Sein. Eine Art Neue Filmische Sach­lich­keit, Sach­lich­keit & Slapstick. Andersson macht uns in der Ruhe nervös, weil es unser tägliches Scheitern, unsere Unzu­läng­lich­keiten und unsere Entfrem­dung zeigt indem er abstra­hiert.

Ende Oktober kommt Miranda Julys neuer Film Kajil­lion­aire ins Kino. Ihre Filme handeln von Einsam­keit, aber eben auch sehr stark von Gemein­schaften, die auf den ersten Blick nicht funk­tional sind, aber auf den zweiten umso mehr. Sie selber hat einen Mann und ein Kind, behält aber seit 15 Jahren ihre eigene kleine Wohnung in der sie regel­mäßig lebt und arbeitet. Einen Raum für sich selbst. Abstand zu der Klein­fa­milie. Hier ist sie nur Künst­lerin.

Ein Lob auf die Distanz also, denke ich, während ich unent­schlossen schon wieder auf mein Handy gucke, auf diesen kleinen Container, der auch so einiges von mir beher­bergt. Da trete ich jetzt mal heraus und betrachte das Ganze mit Abstand, all die Teile, aus denen sich mein Leben aufbaut, und fahre jetzt los, um noch mal Faraz Shariats Futur Drei anzusehen, der alles andere hat, nur keinen Abstand. Die drei Prot­ago­nisten haben zwar Abstand zu ihrer Herkunft, aber nicht zuein­ander und das ist schon sehr schön und ja, trotz des gewon­nenen Platzes, irgend­wann können wir dann hoffent­lich auch vor der Leinwand wieder zusam­men­rü­cken, denn das ist schon sehr schön.

top