Cinema Moralia – Folge 244
Wider die puritanische Phantasie |
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Szene aus Elke Lehrenkrauss' Lovemobil | ||
(Foto: NDR/WDR) |
»Unserer Auffassung nach ist der Dokumentarfilm in seiner Wahrhaftigkeit ein besonders wertvolles Genre, dessen Weiterentwicklung sich der NDR in der auf Klaus Wildenhahn, Eberhard Fechner und Heinrich Breloer aufbauenden ›Hamburger Schule‹ besonders verbunden fühlt. Die Dokmentarfilmredaktion des NDR kümmert sich in besonderer Weise um die Förderung des Nachwuchses in diesem Genre. Wir brauchen Offenheit und Transparenz um dieses Genre pflegen zu können. Daher ist uns eine Debatte über Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarfilms besonders wichtig.«
Pressemitteilung des NDR vom vergangenen Montag»In dubio pro reo«
Grundsatz des Rechts
Jeder Film ist auch ein Dokumentarfilm. Er dokumentiert das, was vor der Kamera zu sehen ist – und sei es das Spiel von Schauspielern in Kostümen und vor künstlich errichteten Kulissen.
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Um die 70 Theater sind in Frankreich mittlerweile besetzt worden von Künstlern und Ensembles. Leider keine Kinos, keine Filmstudios. Trotzdem handelt es sich um eine Aktion, die nicht nur auf das Theater gerichtet ist und nicht nur diesem dient, sondern auf die ganze Kultur zielt. Genauer gesagt: Auf den Lockdown der ganzen Kultur, auf einen Lockdown des Menschlichen und seiner Ausdrucksformen, auf einen Lockdown der sozialen Beziehungen, der Anregungen, der Irritationen und der
produktiven Neugier. Ein Protest, der gegen die Verwandlung der Menschen in melancholische Tiere protestiert. Es handelt sich um einen Protest, der uns an unsere Zukunft erinnert, eine Zukunft, die wir verloren haben in dieser dauernden Gegenwart, in dieser breitgetretenen Gegenwart und einer flach gewordenen Welt. Einer eindimensionalen Welt, die nur ein Thema kennt – Corona! – und in der wir alle eindimensionale Menschen werden.
Wie lange dauert es noch, bis
auch die deutschen Künstler Theater besetzen? Bis auch die deutschen Künstler den Querdenker-Demos Konkurrenz machen mit demokratischem Protest, mit Protest, der ohne idiotische Theorien auskommt, und der nur Verschwörungen entlarvt, die real sind. Wo bleibt der Protest in Deutschland?
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Eine Redaktion recherchiert gegen ihren eigenen Sender. Und macht das Ganze reißerisch auf, nicht falsch in den Fakten, aber auch nicht ganz richtig, und in Ton und Machart sehr tendenziös und sehr moralisierend. Ein bisschen wie die Bild-Zeitung, deren Innenleben man sich gerade auf Amazon in der sehr sehenswerten, abgründigen, auch nicht gerade inszenierungsfreien Serie »Bild. Macht. Deutschland.« ansehen kann. Aber das ist eine andere Geschichte.
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Man fragt sich allerdings, wie beim NDR intern kommuniziert wird? Ob es üblich ist, dass eine Redaktion gegen das eigene Haus recherchiert, ohne einmal kurz ein Stockwerk höher mit dem Aufzug zu fahren und nachzufragen? Man fragt sich, wenn man einfach nur die nackte Geschichte hört, und besagte Reportage-Sendung anschaut, ob hier nicht am Ende auch noch andere Dinge eine Rolle spielen? Ob hier möglicherweise NDR-interne Rechnungen beglichen werden? Oder ob hier irgendjemand im NDR vielleicht ein Interesse daran hat, der Dokumentarfilm-Redaktion zu schaden?
Denn das tut die ganze Sache. Um noch einmal kurz auf die Bild-Zeitung zu kommen: Die Zeitung für männliche Hauptschüler und Fernsehgebühren-Verweigerer nutzt die Angelegenheit auf der heutigen Titelseite auf ihre Weise: »Schlappe für den NDR: Ein vom Nordsender mitproduzierter Doku-Film (Lovemobil) über Prostituierte enthält 'nachgestellte' und 'frei inszenierte' Szenen, wurde daher erst aus der NDR-Mediathek entfernt. Jetzt wurde ihm auch noch die Nominierung für den Grimme-Preis entzogen. Die Autorin Elke Lehrenkrauss (42) entschuldigte sich. BILD meint: Besser spät als nie...«
Die Dokumentarfilm-Redaktion des NDR und ihr Redakteur Timo Großpietsch haben einen guten Ruf.
Zu diesen Annahmen führt auch der sehr grobe Ton, mit dem hier innerhalb sehr kurzer Zeit eine eben noch für den Grimme-Preis nominierte Regisseurin von dem Sender, der ihren Film co-produziert hat, in einer Pressemitteilung öffentlich an den Pranger gestellt wird. Auch wenn man davon ausgeht, dass diese
Pressemitteilung sachlich korrekt und juristisch wasserdicht genug ist, um nicht den Tatbestand einer Rufschädigung der Autorin zu erfüllen, ist einer der ersten Gedanken, der einem neutralen Leser in den Sinn kommt: Wird diese junge Frau noch jemals wieder irgendeinen Film mit einem deutschen Sender machen können?
War das das Ziel?
Darüber sollten wir nochmal nachdenken.
Verwundert ist man auch darüber, dass der Sender Lovemobil postwendend aus der Mediathek genommen hat. Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, ihn mit einem Vorspann oder Nachspann zu versehen, und auf die problematische Lage oder die Vorwürfe oder auf inszenierte Passagen hinzuweisen. Stattdessen bevorzugt man beim Sender, den Film dem Publikum komplett zu entziehen, und allen Menschen, Journalisten, wie anderen Filmemachern, wie dem normalen Publikum, die Möglichkeit zu nehmen, sich ein eigenes Bild zu machen. Gäbe es diese Möglichkeit, dann könnte man vielleicht darauf kommen, dass Lovemobil jederzeit an vielen Stellen anzusehen ist, dass hier im Rahmen des Üblichen inszeniert wurde, nachgestellt, und dass ein solcher Dokumentarfilm mit den Mitteln des Direct Cinema eigentlich gar nicht möglich ist.
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Die Geschichte von Lovemobil ist nicht leicht zu erzählen. Das liegt mittlerweile auch daran, dass es wahnsinnig viele Leute gibt, die wahnsinnig genau wissen, was hier passiert ist. Die immer schon Bescheid wussten, wie ein Dokumentarfilm zu sein hat und wie nicht. Wie man mit einer Redaktion kommuniziert, was eine Redaktion von einer Regisseurin verlangt und verlangen darf, woran man Inszenierungen im Dokumentarfilm erkennt... Es gibt auch wahnsinnig viele Leute, die jetzt wissen, dass Dokumentarfilme selbstverständlich nur Filme sind, bei denen überhaupt nichts inszeniert wird. Dass Inszenierung ganz und gar nicht geht; verboten ist. Die mit dem Authentizitäts-Fetisch herumwedeln wie ein Pfaffe mit der Weihrauchkugel, die irgendwas erzählen, dass ein Dokumentarfilm wahr und wahrhaftig sein müsse, dass alles andere Fake-News sind und dass man das doch »gerade jetzt« oder »spätestens jetzt« alles nicht machen dürfe.
Ich bin mir bei all dem nicht so sicher. Alles Prinzipielle über das Wesen des Dokumentarfilms mal beiseite geschoben (dazu später weiter unten), kann ich ganz offen sagen, dass ich, obwohl ich den Film kenne, und nachdem ich mit der Regisseurin Elke Lehrenkrauss selbst und anderen Dokumentarfilmern über den Fall gesprochen habe, nachdem ich den reißerischen NDR-Bericht von STRG_F angesehen habe, immer noch nicht weiß, was ich von dem Fall Lovemobil halten soll, und dass mir die schnellen Bescheidwisser eher suspekt sind. Außerdem habe ich die Vermutung, dass hier jetzt eine ganze Menge Neidhammel und Loser aus den Löchern kriechen, und sich daran aufgeilen, dass es jemand anderen getroffen hat – und manche sich vielleicht auch einreden, sie hätten die ganzen Preise verdient und bekommen und sie hätten das alles viel besser gemacht.
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Vielleicht muss man über die 36.000 Euro schreiben. 36.000 Euro – so viel ist dem NDR eine Langzeitdokumentation für das Kino wert, jedenfalls diese. Für 36.000 Euro erwartet also ein öffentlich-rechtlicher Sender, dass eine Regisseurin jahrelang unter Straßenprostituierten recherchiert und einen fertigen Langfilm fürs Kino im Stil des Direct Cinema dreht. Dies
ist eine lächerliche Summe, für die die Regisseurin Elke Lehrenkrauss diesen Film in welcher Weise auch immer hätte fertigstellen können.
Selbstverständlich hat sie noch etwas mehr Geld bekommen: Zu den 36.000 Euro vom NDR kamen von der Nord-Media, der Filmförderung von Niedersachsen und Bremen weitere 50.000 Euro; im Rahmen eines Stipendiums schließlich 15.000 Euro. Alles in allem hat sie also etwa 100.000 Euro bekommen – auch das ist erschreckend wenig für eine
mehrjährige Recherche und für einen Film, der de facto eigentlich 400.000 bis 500.000 Euro wert ist.
So miserabel sind die Bedingungen im deutschen Kino. Es ist nicht unüblich und man muss dem Sender konstatieren, dass er sich hier nur an die Gepflogenheiten hält. Allerdings eben katastrophale Gepflogenheiten, die die Produkte, also die Filme beschädigen. An Gepflogenheiten, die den deutschen Film grundsätzlich beschädigen, weil sie Arbeitsbedingungen schaffen, unter denen keiner vernünftig arbeiten kann.
Wenn man über den Fall Lovemobil sprechen möchte, dann kann man von den Produktionsbedingungen des deutschen Kinos nicht schweigen.
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Zu diesen Produktionsbedingungen gehört, dass im Budget des Films nur knapp 6000 € für die Bezahlung der Filmeditoren veranschlagt waren. Die bekannten Editoren in der Branche arbeiten für so einen Betrag gerade mal eine Woche, mit Freunden vielleicht vier. Ganz bestimmt nicht über mehrere Monate, zu denen stundenlange Materialsichtungen gehören. Hier lohnt ein kurzer Blick auf eine Cutterin. Sie heißt Irem Schwarz, und sie hat den Film nicht fertiggestellt, sondern er wurde von einem Kollegen fertig montiert.
Grund dafür war, das Schwarz und die Regisseurin sich offenbar während der Montage zerstritten hatten, angeblich ging es um Honorarfragen. Irem Schwarz ist diejenige Quelle, die die NDR-Redaktion überhaupt darauf hinwies, das Teile des Films nachinszeniert waren. Sie tat dies, nachdem der Film anderthalb Jahre lang in der Öffentlichkeit war und viele Preise bekam. Sie tat dies
genau eine Woche, nachdem der Film für den Grimme-Preis nominiert wurde.
Manche sprechen hier von einem »Rachefeldzug«, andere fragen sich, ob diese Editorin wiederum weiß, was sie tut: Kann sie nach diesen Vorfällen noch weiter in der Branche arbeiten?
Noch ein anderes Detail fällt auf: Schwarz, die bis 2021 in der Film-Universität von Potsdam-Babelsberg Montage studiert hat, hat ihre Masterarbeit über ein Thema geschrieben, das wie die Faust aufs Auge zum jetzigen Fall Lovemobil passt: Ihre Masterarbeit heißt ausgerechnet: »Von montierter Wirklichkeit zu institutionalisierter Unredlichkeit. Die Dokumentarfilme ›Fyre‹ und ›Fyre Fraud‹ als Beispiele für Ereigniskonstruktion.«
Was für eine seltsame Koinzidenz!!
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Die Regisseurin hat trotz allem Wege gefunden, den Film für einen vergleichsweise Spottpreis fertigzustellen.
Sie hat ihn selber produziert, hohe Eigenanteile eingebracht. Das setzt die Regisseurin von Anfang an unter Druck. Unter Druck setzt sie auch die Erwartungshaltung, die offenbar bestand, in jedem Fall einen Film in diesem Stil und ohne Inszenierung abzuliefern.
War es dieser Druck, dem sie nicht standhalten konnte? Das sind Vermutungen, die wir nicht belegen können. Aber man müsste einmal nachfragen, ob ein Grund für die Unwahrheiten, für die Verschleierungstaktik der Regisseurin, für ihr Verschweigen, dass Passagen inszeniert worden sind, auch darin lagen, dass sie sich schlicht und einfach nicht getraut hat, der Redaktion die Wahrheit zu sagen. Bis es zu spät war. Eine Wahrheit, die darin bestand, dass sich manche Prostituierte nicht hören lassen wollten, dass man bestimmte gute Situationen nicht auf der Kamera hatte, und dass man einen Großteil der sehr ergiebigen Recherche nur in indirekter Form auf die Leinwand bringen konnte. Dass sie manche ihrer Protagonisten auch schützen wollte – was zumindest ein legitimes Ziel ist.
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Man kennt das aus der Kindheit: Man erzählt seinen Eltern etwas nicht, was man ihnen eigentlich erzählen müsste. Und flunkert dazu ein wenig. Langsam, ganz langsam wird alles etwas größer. Aus dem Flunkern wird eine kleine Lüge, und die wird langsam größer, und noch größer und spätestens dann traut man sich nicht mehr, es überhaupt noch den Eltern zu sagen. Bis das passiert, von dem man schon von Anfang an wusste, dass es irgendwann passieren würde: Alles kommt raus.
So ähnlich könnte es auch der Regisseurin gegangen sein.
Man glaubt der Regisseurin, dass alles keine böse Absicht gewesen ist. Aber das hilft nichts. Jetzt droht ihr ein öffentlicher Prozess: eine Klage und die Drohung, dass sie das komplette Geld zurückzahlen muss.
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Das entschuldigt nichts. Die Dokumentarfilm-Redaktion des NDR und ihr Redakteur Timo Großpietsch haben wie gesagt einen guten Ruf.
Man möchte gerne wissen, wie die Redaktion und die Regisseurin im Einzelnen zusammengearbeitet haben, wie das Rohmaterial, das die Redaktion sichten konnte, auf diese gewirkt hat. Ob sie dort nichts von Inszenierungen bemerkten – wo sich doch jetzt in sozialen Netzwerken Menschen zuhauf melden, die sagen, man konnte sehr schnell sehen, dass
hier auch inszeniert wurde?
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Lovemobil ist eigentlich ein gefälliger Film. Denn er zeigt Einsamkeit, Verlassenheit, Bedrohung, Streit um 20 €. Er zeigt die Welt der Prostitution als schmutzig, primitiv, pervers, rassistisch – tatsächlich ist es aber so, dass die allermeisten Freier Freier in Nadelstreifen sind.
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Was ist dieser Film? »Schon etwas was zu meiner täglichen Realität gehört.« sagt Uschi, eine Protagonistin, die als sie selbst in Lovemobil auftaucht, im NDR-Bericht. Der NDR-Reporter fragt dann dagegen: »Aber auch ein bisschen Show?« Und die alte erfahrene Uschi sagt: »Halloooo? Machen Sie keine Show?«
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»Es geht darum, eine Debatte anzustoßen, was Dokumentarfilm darf und was nicht.« sagt der NDR im Beitrag. Dieses Ziel ist großartig und diese Debatte ist sehr sehr wichtig. Und meine persönliche Position ist hier – wie ich in vielen Texten über Film-Festivals und über einzelne Filme schon geschrieben habe – glasklar:
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Fiktion erfindet, Dokumentarfilm dokumentiert.
Alles, was im
Dokumentarfilm vorkommt und gezeigt wird, muss wahrhaftig sein, muss stimmen auch in dem Sinn, dass man es so gut es eben geht, nachprüfen kann. Das bedeutet zum einen, dass es sehr wohl legitim ist, dass Recherche-Fakten verdichtet werden, gesteigert, komprimiert. Ich finde den heutigen Authentizitätswahn eben einen Wahn. Das heißt, ich finde es falsch, dass Reporter an jeder Ecke mit fact-checking konfrontiert werden, dass die Verdichtung, die jahrzehntelang zum
Reporter-Handwerk gehörte, heute unter Verdacht steht. Verdichtung bedeutet z.B., dass in einer journalistischen Reportage lange und grammatikalisch konfuse Interview-Passagen komprimiert und zu klaren deutschen Sätzen geformt werden. Verdichtung bedeutet auch, das in einer Reportage aus einem fernen Land drei alltägliche – also nicht prominente – Protagonisten zu einer einzigen Figur verdichtet werden. Das kann man dazu schreiben, das muss man meiner Meinung nach
aber nicht. Dies liegt in der Freiheit des Reporters, der eben auch ein Künstler ist. Zugleich gilt der gute alte Grundsatz, den Graham Greene in seinem Roman The quiet American formulierte: »I am just a reporter. I report what I see.«
Das bedeutet auch, dass ich es falsch finde, wenn in Festivals wie der geschätzten Viennale in Wien unter der neuen Direktorin Spielfilme und Dokumentarfilme zusammengeworfen werden – bis hin zur Ununterscheidbarkeit. Ich finde es falsch, dass im Berlinale-Wettbewerb auch ein Dokumentarfilm läuft. Weil man beides nicht vergleichen kann. Weil beides verschiedene Regie erfordert, und weil die Leistungen in beiden Fällen sehr verschieden sind. Es sollte Dokumentarfilm-Wettbewerbe und Spielfilm-Wettbewerbe parallel geben, aber nicht durcheinander.
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Weil es heute zu viele Relotius und andere schwarze Schafe gibt, scheinen diese Überprüfungs- und Kontrollorgien nötig. Sie sind natürlich auch nötig, weil man die Freiheit der Reporter weniger achtet, gern beschränken möchte, Kontrollen einführen möchte – so wie in unserem ganzen Leben überall Kontrollen eingeführt werden. Und weil man eine Zeitung oder einen Fernsehsender »auf Linie« bringen möchte. »Lineares Programm« so heißt es schon im Fernsehen und im Radio.
Die Sehnsucht nach dem Reinen, dem Authentischen, nach dem Wahren, Guten, Echten, hat auch etwas zu tun mit dem allgemeinen Puritanismus, dem Tugendwahn, der unsere Gegenwart durchzieht und schon vor Covid-19 durchzog, durch die Pandemie aber deutlich verstärkt worden ist. Sie hat etwas zu tun mit unserer Sehnsucht nach Sicherheit.
Dabei brauchen wir Unsicherheit, brauchen wir ihre Kaution, brauchen wir Risikobereitschaft und Risikolust, denn nur das befähigt uns zu einem
pragmatischen, humanen Risikomanagement.
Vielleicht ist Lovemobil das schlechtmöglichste Beispiel, um noch einmal grundsätzlich zu erklären, was ein Dokumentarfilm eigentlich ist. Es scheint aber trotzdem nötig zu sein, also ist dieses Beispiel gut genug.
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Es gibt viele Spielarten des Dokumentarfilms. Klar unterscheiden kann man Dokumentarfilme, die in zumindest etwas längerer Form für das Kino gemacht sind, von einer kurzen Reportage für eine Nachrichtensendung oder ein Magazin, und von einer Dokumentation, die in der Regel viel wortlastiger und stark durch Schnitt und Musik gestaltet ist. Dokumentationen benutzen ganz selbstverständlich auch das »Re-Enactment«, also die Methode des Nach-Spielens bestimmter Szenen und Momente, zu denen es keine dokumentarischen Bilder gibt, mit Schauspielern. Zum Beispiel auf »arte« oder in der Reihe »terra X« kann man dergleichen oft sehen. Insbesondere bei Geschichts-Dokumentationen ist dieses Verfahren gang und gäbe – denn vor 1895 gab es ja überhaupt keine Filmbilder.
Auf der anderen Seite des Genre-Spektrums, in Richtung zum fiktionalen Film gibt es neben »Mockumentarys«, also bekennenden Fake-Formaten, diverse Misch- und Hybridformen, und den subjektiven Essayfilm. Sie alle mischen fiktionale und subjektiv-persönliche Elemente mit dem objektiven »Zeigen, was ist«. Filmemacher wie der Deutsche Werner Herzog oder der Österreicher Ulrich Seidl sind mit solchen Mischformen berühmt geworden. Aber auch in den neueren Dokumentarfilmen Sacro GRA und Seefeuer des vielfach preisgekrönten Italieners Gianfranco Rosi sind Elemente der Inszenierung und Gestaltung der Wirklichkeit unübersehbar.
Inszenierungen sind auch historisch seit jeher ein Teil des Dokumentarfilms. Sie sind erlaubt und bereits in dessen Anfängen üblich. Ein berühmtes Beispiel: Der legendäre Dokumentarfilm Nanook of the North von Robert J. Flaherty (USA 1922). Er ist über weite Strecken inszeniert.
Immer wieder loten gerade Meilensteine der Dokumentarfilm-Geschichte den Grenzbereich zwischen Erzählung und Wirklichkeit, Zeigen und Gestalten aus.
Die Annahme, dass aber reine Authentizität überhaupt möglich wäre, es so etwas wie »objektive Bilder« geben könnte, ist bloße Naivität.
Denn schon die Entscheidung, wohin ein Filmemacher seine Kamera stellt, welche Einstellung er wählt, ist eine subjektive und insofern eine Gestaltung der Wirklichkeit – selbst wenn er die Kamera danach nie mehr bewegt und den Film einfach laufen lässt, ohne einen einzigen Filmschnitt und ohne später Musik und Kommentare hinzuzufügen.
Diese Bemerkungen zeugen schon von der Absurdität der Vorstellung »reinen Abbildens«.
Die Vorstellung reiner Authentizität ist nur eine puritanische Phantasie.
Worum es dagegen tatsächlich geht, ist relative Authentizität.
Es gibt einen unausgesprochenen Vertrag zwischen einem Filmemacher und seinem Publikum. Auf der einen Seite setzt dieser ein mündiges Publikum voraus, also Zuschauer und Zuschauerinnen, die so etwas wie Schnitt und Montage wahrnehmen, und denen zumindest unbewusst klar ist, dass wenn die Kamera sich bewegt, dies nicht durch die Hand Gottes geschieht, sondern durch den Willen des Regisseurs.
Auf der anderen Seite ist ebenso die Ehrlichkeit eines Filmemachers vorausgesetzt: Dort wo Inszenierungen oder Re-Enactment nicht für jeden sowieso sofort erkennbar sind, muss man sie kennzeichnen. Dies muss nicht notwendig dadurch geschehen, dass zum Beispiel eine kleine Bildunterschrift darauf hinweist, dass hier Realität nachgestellt wird. Es genügt vollkommen, im Abspann eines Films darauf hinzuweisen, dass einige Szenen im Film von Akteuren oder Schauspielern nachgestellt wurden, und dass nicht alle im Film zu sehenden Figuren mit ihren wirklichen Personen identisch sind.
Dies nicht unternommen zu haben, ist das große Versäumnis der Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss bei ihrem preisgekrönten Film Lovemobil.
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Die große Frage nach der Wahrheit im Kino ist immer nur relativ zu beantworten. Was wir im Kino sehen, das ist immer die subjektive persönliche Wahrheit derjenigen, die diesen Film gemacht haben. Sie drückt sich gerade auch in der Entscheidung darüber aus, was wir sehen und was nicht, was inszeniert wird, was gezeigt wird und wo der Film wegblickt.
Der einzige echte und somit der entscheidende Unterschied zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm liegt in dem zumindest unausgesprochenen unterschiedlichen Anspruch beider Genres.
Der Dokumentarfilm behauptet, etwas zu zeigen, was es wirklich gegeben hat, was nicht erfunden wurde. Der Spielfilm bekennt sich offen dazu, dass das, was er zeigt, ausgedacht ist und durch die Wirklichkeit bestenfalls inspiriert – aber nicht deren Abbildung. Genau die Vermischung dieser beiden Ebenen und das Spiel mit ihnen macht einerseits den Reiz aller Hybridformen aus; sie wird aber spätestens in Zeiten von Fake-News und alternativer Realität auch zu einem ernsthaften Problem.
(to be continued)
Weitere Texte zur Debatte um Lovemobil gibt es auf unserer Special-Seite.