Cinema Moralia – Folge 243
Der Lockdown, der ein Knockdown ist |
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Nicht erst jetzt in der Sprach-Kritik: Heinrich von Kleist | ||
(Foto: Wikipedia) |
»Ich habe gesagt, dass die Sklaven keine Heimat haben. Das ist nicht wahr. Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand. Ich gehe in den Kampf, bewaffnet mit den Demütigungen meines Lebens.
Wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen können, werden die Toten kämpfen. Mit jedem Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf ihre Knochen, Blut an ihre Adern, Leben in ihrem Tod. Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsere Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt. Ich werde bald sein, Berg, Meer, Wüste. Ich, das ist Afrika. Ich, das ist Asien. Die beiden Amerika bin ich.«
Heiner Müller»Was man dem Volk dreimal sagt, hält das Volk für wahr.«
Heinrich v. Kleist, 1809
Jetzt also auch Kleist. Er wird zum neuesten Opfer der Moralisten und Political-Correctness-Taliban. »Ein Hassprediger« soll dieser berühmteste aller berühmten deutschen Dichter sein, behauptet Johannes Saltzwedel im Spiegel. Es ist ein kleiner bornierter Text, von Ignoranz und unhistorischem Bewusstsein nur so strotzend, der sich für Kleist nicht interessiert, aber das Fazit ist klar: Raus aus dem Kanon, besser Goethe, den Frauenversteher lesen, und den Spießer Stifter, nicht aber diesen Gedankenerschütterer.
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»Ein Leben ohne Kultur ist sinnlos, es ist wahrscheinlich gar nicht menschlich, wenn man von Barnett Newman ausgeht: Der erste Mensch war ein Künstler. Dann war der zweite ein Ökonom. Das bedeutet, dass der Mensch, um Mensch zu werden, zuerst einen Traum brauchte, vorher konnte er gar nicht leben. So gesehen ist die Kunst die Voraussetzung des Lebens, Bedingungen der Ökonomie. Man muss nur Brechts Voraussetzung umkehren: Wir haben die Wahrheit nicht, und die Realität ist nicht die Wahrheit. Der Raum zwischen Wahrheit und Realität ist der Art der Kunst. Diesen Zwischenraum füllt Kunst als Praxis.«
Heiner Müller im Jahr 1991
Dieses Zitat darf man langsam lesen, und darüber nachdenken. Denn es erklärt, warum der Lockdown von Kultur unmenschlich ist, und die gleichzeitige Öffnung der Kaufhäuser und Baumärkte und Online-Kaufhallen noch unmenschlicher.
Müller, gestählt durch die Erfahrung zweier Diktaturen, wusste das. Wir, inklusive einer Kanzlerin, die ihre Vergangenheit verdrängt hat, haben es vergessen.
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»Könnten Sie so rauchen, dass der Rauch nicht direkt zu mir zieht... Klar war keine Absicht. Ich rauche mal so vor mich hin, aber war keine Absicht. Oh mannomann, schrecklich... Ich persönlich habe kein Problem. Aber ich denke mal wenn Sie weniger rauchen würden, müssten Sie vielleicht nicht aufs Amt rennen, um für Ihren Sohn die Klassenfahrt zu finanzieren.« – Es ist ein Fremder, der hier moralisiert, und sich übers Rauchen beschwert, und verächtlich über die junge Frau und alleinerziehende Mutter redet. Ein paar Minuten später ist er tot. Erschossen von Sabine, die gerade alle erschießt, die »es verdienen«, der Titelfigur des letzten ARD-Polizeirufs, eines Ausnahmekrimis im deutschen Fernsehen. Er ist dies durch Form und Auftritt der Hauptdarstellerin Luise Heyer, aber auch durch seine politische Haltung, durch die impliziten Fragen, die er stellt. Soll man Moralprediger und Moralisten erschießen? Die Pointe ist natürlich die, dass Sabine selbst eine moralische Person ist.
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Wen würde Sabine wohl erschießen, wenn sie eine deutsche Filmemacherin wäre? Eine Förderchefin? Eine Produzentin? Einen Festivaldirektor? Die Kollegen? Sich selbst?
Der Film spielt mit unserer klammheimlichen Zustimmung zu dieser Figur, die eine kaltblütige Mörderin ist, aber für eine gerechte Sache. Mit unserer Freude an der Aktion. Das macht seine Stärke aus.
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Das Impf-Chaos, die nicht funktionierende Warn-App, die nicht bereitgestellten Schnelltests, die immer wieder gebrochenen Versprechen der Politiker, die Abhängigkeit von Entscheidern, die von der Sache nicht das Geringste verstehen, das Vertrösten auf einen Sankt-Nimmerleinstag, das In-die-Länge-Ziehen aller Prozesse, mutwillig oder aus Dummheit, vor allem aber aus Ignoranz, die unsägliche Bürokratie, die alles nur verlangsamt und behindert und verhindert, und der total frustrierende Ländervergleich (auch hier zum Beispiel Dänemark oder Österreich) – all das, was wir derzeit mit dem sogenannten Corona-Management erleben, kann niemanden überraschen, der in den letzten 20 Jahren in Deutschland einen Film gemacht hat.
Der Film in Deutschland ist nicht modern, er ist den Verhältnissen nicht gewachsen, in denen wir leben. Und die allermeisten Menschen, die hier Film machen, entsprechen diesem Befund. Deutschland hat das Kino, das es verdient, und das seine Filmfunktionäre und Filmschaffenden verdienen.
Der Lockdown der Kultur ist im Übrigen auch bis zum gewissen Grad verdient, denn es setzt sich ja keiner richtig, also politisch zur Wehr. Es wird moralisiert und gejammert, aber das hat noch nie geholfen. In Frankreich streiken immerhin die Theater, und besetzen eine Bühne, viel ist das auch nicht, aber wenigstens das.
Im deutschen Kino wird es keine Revolution geben, weder politisch noch ästhetisch. Denn es gibt kein revolutionäres Subjekt im deutschen Kino. Das werden auch wir hier nicht schaffen können. Was wir aber tun können, ist den Filmemachern immer wieder zu sagen, dass es nach unserer festen Überzeugung überhaupt nur eine Möglichkeit gibt, etwas zu ändern. Und dieser einzige Weg ist, eben öffentlich so laut und unverschämt wie möglich zu sein, dazu entweder Papiere zu schreiben, die von möglichst namhaften Leuten oder von so vielen unterschrieben sind, dass man sie nicht mehr übersehen und übergehen kann – wie die gut 80 Regisseure, die gegen die Fortsetzung des Kosslick-Vertrages plädierten – oder Aktionen zu unternehmen, die man nicht übersehen kann.
Was spricht in all der Corona-Misere gegen das eine oder das andere?
Es interessiert zwar niemanden, wenn Filmemacher streiken, auch nicht, wenn es 100 Filmemacher sind. Wenn aber 100 Filmemacher sich vor das BKM bzw. vor das Kanzleramt setzen, und den Eingang blockieren, dann sind sie in den Tagesthemen. Oder die jungen Filmemacher klettern mal aufs Brandenburger Tor wie die rechtsradikalen Identitären, hissen dort die Flagge des deutschen Kinos – und schon sind sie in den Nachrichten. Irgendwelche guten Aktionen – und schon sitzen sie bei Markus Lanz. Dann können sie anfangen, ihre ganzen Kompromissvorschläge auf den Tisch zu legen, aber nicht vorher in irgendwelchen Hinterzimmern.
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Und noch etwas ist dringend nötig: Jetzt reden wieder alle von einem Lobby-Verzeichnis oder Lobby-Register, um Kontakte irgendwelcher Abgeordneter transparent zu machen. Soweit so gut.
Aber warum fordert niemand ein Lobbyregister für den Film? Warum möchte niemand all die Verstrickungen transparent haben; warum möchte niemand wissen, wer in welchen Gremien sitzt? Wer welche Bilanzen vorlegt? Wer mit wem vernetzt ist und wer von wem Geld bekommt? Es stimmt: man kann vieles
davon– freilich längst nicht alles! – irgendwo nachlesen. Gut versteckt im Kleingedruckten, in den Bilanzen, auf Hunderten von Webseiten und nie weit oben. Man kann es etwa so gut nachlesen, wie man die Telefonnummer von Amazon herausfinden kann. Hat es schon mal einer versucht auf deren Website? Es geht tatsächlich irgendwie, aber es ist eben nicht einfach. Nicht transparent. Was wir aber brauchen, das ist Transparenz im deutschen Film.
Wer also hat von welchen
Fernsehsendern Geld bekommen? Wer hat von welchen Förderern Geld bekommen? Wer hat in welchen Gremien gesessen und wem Geld gegeben? Wer hat mit wem zusammengearbeitet? Und wer hat wem kein Geld gegeben?
Diese Zusammenhänge könnte man schön transparent aufschlüsseln, und ich bin sicher, wir alle würden Überraschungen erleben. Die mindeste Überraschung wäre die, dass nichts verheimlicht wurde.
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Das Einfordern solcher Transparenz passiert aber nicht, so wie sehr vieles nicht passiert, weil wir alle Angst haben. Weil der deutsche Film von Angst regiert wird.
Neulich habe ich einen Filmemacher anonym zitiert, der mich vor der Berlinale angerufen hatte, um mich zu bitten, seinen Film nicht auf der Berlinale-Website im Stream anzusehen, sondern auf die Kinovorstellung zu warten. So wie mir das auch andere geschrieben hatten oder Produzenten und Verleiher gebeten hatten.
Dies ist nur ein konkretes Beispiel dieser grassierenden Angst. Denn ebenso erreichen mich immer wieder in der einen oder anderen Form die Bitten von Filmemacherinnen und Filmemachern, jede Anspielung nur ja zu vermeiden, durch die in diesen Cinema-Moralia-Texten darauf Rückschlüsse möglich sein könnten, mit wem ich gesprochen habe, und über was. Wer mir erzählt hat, dass sie oder er nicht gefördert wurde, oder weniger bekommen hat, als beantragt oder was für ein Feedback unter der Hand es auf Drehbücher gab, oder was Förderchefinnen und Förderchefs Filmemachern so erzählen, wenn sie mit ihnen alleine sind.
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Statt mit Moderna oder Biontec müssen wir alle mit Kino geimpft werden, damit wir resistent werden gegen den Virus des geistigen Lockdowns, der ein Knockdown ist. Gegen den Virus der Kino-Abstinenz, gegen das Vergessen. Optimistische Meldungen kommen immerhin aus den USA.
In weiten Teilen der USA ist Anfang dieser Woche das Kino wieder zurückgekehrt. Vorsichtig zwar, aber mit überwältigender Resonanz. The Hollywood Reporter berichtet von bereits am frühen Nachmittag durchweg ausverkauften Vorstellungen, in denen die Zuschauer beim vor dem Film eingeblendeten
»Welcome Back to the Movies« in spontanen Applaus ausgebrochen sind. Es werden Kinobesucher zitiert, denen das Herz förmlich überläuft, weil sie endlich wieder Filme, die für die große Leinwand gemacht wurden, auch auf einer solchen sehen können.
Einer der ersten Kartenkäufer war offenbar Christopher Nolan.
Ein bedeutender
Meilenstein, nachdem bereits die Kinos in New York City wiedereröffnet wurden.
Ein Besucher kommentierte im HR: »Es fühlt sich an, als wäre man aus einer Höhle herausgelassen worden. Es gibt Hoffnung, dass sich etwas verändert, und zwar bald.«
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Hört mal, ihr Empathischen: Wo sind eigentlich die Safe-Spaces fürs Kino?
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Hoffnung auch in Deutschland bieten immerhin Einzelfälle. So etwa wieder mal Tübingen und Boris Palmer. In Tübingen dürfen die Kinos seit Montag öffenen, andere Kulturbetriebe, ebenso wie die Gastronomie. Mithilfe eines ebenso massiven wie unbürokratischen, lebensnahen Einsatzes von Schnelltests.
Überall in der Innenstadt werden Schnellteststationen eingerichtet, an denen nach kostenlosen (!!!) Tests personalisierte Zertifikate ausgestellt werden, die für einen Tag gültig sind. Die Universität Tübingen begleitet das Projekt wissenschaftlich, um konkrete Handlungsempfehlungen für andere Regionen und das Land abzuleiten.
Warum geht das nur dort? Weil ein Politiker und einige Mitstreiter es wirklich wollen, weil sie in Chancen denken, statt in Hindernissen, und weil sie auf die Vernunft hören, nicht auf Dogmen.
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»Es ist nicht kompliziert« schreibt der Filmregisseur Dietrich Brüggemann zutreffend in seinem zweitletzten Blogeintrag: »Es ist ganz einfach: Der Staat darf nicht eine Gruppe von Bürgern aktiv schädigen, um eine andere zu schützen. ... Wenn der Staat das tut, dann ist die Linie zur Willkür überschritten. Es ist also eigentlich ganz einfach.«
Sein salopper Ton, jetzt vergleiche ich mal uns beide, nutzt der Tiefe und Substanz seiner Argumente nicht immer; von außen erkennt man das ja besser. Aber ich würde jedem empfehlen, Brüggemanns Blog regelmäßig zu lesen. Zu Corona, wie zu allen anderen Themen.
Denn er zwingt all den schrecklichen Vereinfachern, die es bei Corona-Maßnahmen ebenso gibt, wie bei den zurzeit gern diskutierten Fragen über Meinungsfreiheit, Sprachpolizei und gefühlten Wahrheiten, wie in der Filmpolitik, auf, zu erkennen, dass es einen Unterschied zwischen der rhetorischen, der argumentativen Ebene und dem Inhalt des Gesagten gibt, zwischen dem Wie und dem Was.
Brüggemann vergleicht Debatten, und setzt die Unfähigkeit, Dinge beim Namen zu nennen,
in Fällen miteinander gleich, wo er die Argumente hat, seine Gegner nur das gute Gefühl.
Er nennt auch beim Namen, dass den Fetischisten der Corona-Maßnahmen (oder wie könnten wir sie nennen, wenn wir nicht Lockdown-Gläubige sagen wollen? Fans? Anhänger?) noch die primitivsten, moralisch abwegigsten Behauptungen recht sind, um Kritik an ihrem Fetisch zu diskreditieren: »Du willst also, dass viele Leute sterben und die Gesundheitssysteme überlastet sind?«
»Wir fassen zusammen: Es sehr einfach. Der Staat darf das nicht. Punkt. Dieser Standpunkt war bis vor einem Jahr so selbstverständlich, dass er als Standpunkt kaum wahrnehmbar war. Ich habe ihn einfach nie verlassen. Viele andere schon. Und denen kann man jetzt zuschauen, wie sie den großen Einerseits-Andererseits-Eiertanz aufführen, gerade wo das Ganze so richtig mit Getöse an die Wand fährt und Schweden auf einmal doch besser dasteht als wir und Florida seit Ende September offen
ist und die vorhergesagte Katastrophe ausblieb so weiter.
Dass es zum Risiko geworden ist, diese Selbstverständlichkeit zu sagen, gibt mir zu denken. Es ist aber auch ein Grund, es zu tun.«
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Dietrich Brüggemanns vorläufig letzter Blogeintrag bietet dann eine satirische, düster-bittere Zukunftsvision, aus einem Land, in dem die Polizei Kindergeburtstage auflöst, weil sie angeblich »illegal« sind (das ist aber jetzt noch Gegenwart und Realität, nicht Satire und Zukunft).
Ein Auszug: »Ab 2025: Die Welt kommt langsam wieder auf die Beine. Es kommt zu einer allmählichen, retrospektiven Neubewertung der Corona-Maßnahmen. Vielleicht waren Lockdowns doch gar keine so gute Idee. Von Deutschland hat schon seit längerer Zeit niemand mehr etwas gehört.
Ab 2030: ... Bei der Analyse von dreihunderttausend Terabyte Daten aus der Corona-Zeit kommt heraus, dass die Menschheit hier mit voller Wucht in eigentlich altbekannte Fallen gelaufen ist:
Confirmation Bias, Kontrollillusion, Ambiguitätsintoleranz, Sunk-Cost-Fallacy, Groupthink, Massenhysterie und so weiter. Künftige Regierungen werden weltweit verpflichtet sein, ihre Entscheidungen von einer KI absegnen zu lassen, die im Zweifelsfall sagt: Nein, das lasst ihr gefälligst bleiben, das fühlt sich zwar jetzt gerade gut an, ist aber insgesamt eine schlechte Idee.«
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Hier noch ein Fundstück, irgendwo im Netz, ich weiß nicht von wo, weil ich die Quelle nicht notiert hab, ist aber lustig. Dietrich Brüggemann war es jedenfalls nicht.
»Neulich, bei Freunden, gab es japanische Teigtaschen, und omnomnomnom sie waren wirklich wunderbar – und das, obwohl sie, mangels Zubehör, nicht mal amtlich-japanisch gedämpft waren. Kurz kam die Idee auf, ob man die Teigtaschen auch hätte mit dem Dampfbügeleisen garen können, da fiel mir die alte Geschichte von den zwei Herren auf Montage ein, die ein Doppelzimmer in der Pension meiner Tante bewohnten und eines Tages, Hunger und Verzweiflung müssen sich die Waage gehalten haben, ein Steak auf der Heizplatte der Kaffeemaschine in ihrem Zimmer brieten. Es muss ewig gedauert haben. Aus heutiger Sicht war das natürlich bahnbrechend schonend – jeder Spießbürger brät sich sein Steak inzwischen ja nur noch scharf an, um es danach sechsundneunzig Stunden lang in den Umluftherd zu packen –, ich gehe aber davon aus, dass die beiden einfach nur Männer waren und gar nicht wussten, wie so ein Herd überhaupt aussieht. Und die Kaffeemaschine kam ihrer Vorstellung wohl am nächsten.«
(to be continued)