18.05.2019
72. Filmfestspiele Cannes 2019

Cannes on Speed 04: Mary Poppins als Horror­film

»Little Joe« von Jessica Hausner
Little Joe von Jessica Hausner
(Foto: Sony Pictures Deutschland / X Verleih)

Simultanistische Filmkritik: Little Joe von Jessica Hausner

Von Rüdiger Suchsland

»Mary Poppins« als Horror­film. Alice hat ihr Kostüm immer bis zum obersten Knopf geschlossen, und gibt sich auch sonst eher zuge­knöpft. Sie ist – dies zual­ler­erst – eine hoch­be­gabte Natur­wis­sen­schaft­lerin, die in einem Labor genma­ni­pu­lierte Pflanzen züchtet. Daneben ist sie auch noch allein­er­zie­hende Mutter eines nied­li­chen, begabten Zwölf­jäh­rigen namens Joe.

Perver­sion steht früh im Raum. Oder wie will man es nennen, wenn eine Mutter ihre besonders viel­ver­spre­chende Züchtung nach dem Sohn benennt: »Little Joe«. Auch sonst greifen die Kate­go­rien der Psycho­ana­lyse: Verdrän­gung und Zurück­wei­sung, Unter­drü­ckung von Wünschen. Außerdem Mütter­lich­keit und Sexua­lität in verschie­densten Varianten.
Die Pflanzen gelingen übrigens auch nur so gut, weil sie künstlich steril gemacht wurden. Doch die unter­drückte Pflan­zen­se­xua­lität bricht sich Bahn, denn die vielen (hoch­in­tel­li­genten?) »Little Joes« im Labor finden Wege, sich die Menschen Untertan zu machen indem sie diese in robo­ter­ähn­liche Sklaven ihrer Über­le­bens­in­ter­essen verwan­deln.

Jessica Hausner hat diesen Film in England gedreht. Und zwar offenbar nicht, weil sie musste, sondern weil sie wollte, weil sie Little Joe nicht in Öster­reich machen wollte. Trotzdem ist dies ein durch und durch öster­rei­chi­scher Film geworden: Kalt und pervers, klug und gekün­s­telt, geprägt von einer asep­ti­schen pastell­far­benen Ästhetik, die hier vor allem mit dem Produc­tion Design, der Kamera und einer allzu tenden­ziösen Musik arbeitet, die wunder­schön aussieht, aber allzufrüh ins Leere läuft, sodass »Little Joe« fast die Anmutung eines breit getre­tenen Kurzfilms hat.

Die schönsten Momente sind die exqui­siten Kame­ra­fahrten ins Nichts, die Hausners Stamm­ka­me­ra­mann Martin Gschlacht schon in Hausners Hotel (der in Cannes 2006 Premiere hatte) zur Perfek­tion führte.