06.09.2018
75. Filmfestspiele von Venedig 2018

Die Geburt der Gegenwart aus dem Geist des High­school-Massakers

Starpower und der Angriff auf die übrige Zeit. Natalie Portman in Brady Corbets außergewöhnlichem Film über Vox Lux – Notizen aus Venedig, Folge 9

Von Rüdiger Suchsland

»Shooting stars never stop
Even when they reach the top«
Frankie Goes to Hollywood: Welcome to the Plea­su­re­dome

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Gute Filme sind ein Raum, in dem man sich bewegt, sich aufhalten kann, zu dem man sich verhalten kann und muss. Filme sollten ihrem Publikum nichts vorkauen, sondern Schneisen öffnen, und Orte der Sicher­heit wie der Heraus­for­de­rung. Ein solcher Film ist neben anderen – Sunset (siehe Folge 10) und Suspiria (siehe Folge 6)– auch Vox Lux vom Ameri­kaner Brady Corbet, der vor drei Jahren mit Childhood of a Leader den besten Film des Festi­val­jahr­gangs präsen­tierte, der seiner­zeit zu Recht zwei Preise gewann.

Es geht um Celeste, einen Megastar der Popmusik. Natalie Portman spielt die erwach­sene, Raffey Cassidy (The Killing of a Sacred Deer) die junge Celeste, und dann auch deren Tochter.

Portman spielt in dieser Rolle auch ein bisschen ihre eigene Geschichte: Mit dreizehn wurde sie durch den brutalen, auch ein bisschen exploita­tiven Film Leon – der Profi zum Weltstar. Und immer unter Beob­ach­tung, expe­ri­men­tie­rend, verhär­tend, beschimpft, gefeiert. Ein Weltstar unter Druck. Und man kann diesen Auftritt nicht sehen, ohne auch Black Swan mitzu­denken.
Jude Law ist als Celestes Manager zu sehen. In vier Kapiteln erzählt Corbet Werdegang, Durch­bruch und Celestes Leben siebzehn Jahre später, als der Weltruhm längst Routine und Belastung ist.

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Corbet zeigt, wie etwas wird, was es ist. Weil sie das »certain something« hat. Zum Schlüs­sel­er­lebnis der Celeste-Figur wird ein High­school-Massaker, das sie knapp überlebt, mit einer schweren Wirbelsäu­len­ver­let­zung, doch durch dass sie zugleich über Nacht berühmt wird. Danach suchen sie ihre inneren Dämonen über ihre gesamte Karriere heim. Die ist schüch­tern, aber entschlossen, zu rein für diese Welt und von ihrem Namen her ein himm­li­sches Geschöpf.

Corbet beschreibt die Geburt der Popkultur aus dem High­school-Massaker. Genau­ge­nommen sogar die Entste­hung des ganzen Zeital­ters. Die Folgen von Radikal-Indi­vi­dua­li­sie­rung und Reagano­mics. Dies ist, wie seiner­zeit »Childhood of a Leader« eine geschichts­phi­lo­so­phi­sches Portrait der geistigen Situation der Gegenwart: Celeste proto­ty­pi­scher Charakter wird wie folgt beschrieben: »Her universal feeling of betrayal and exclusion mirrored that of the society.«

Der Film macht spürbar, das es mit uns alles so gar nicht weiter­gehen kann. Das Dasein als lebende Hölle ist die apoka­lyp­ti­sche Signatur der Zeit.
Hier hilft er sich mit der Schil­de­rung einer surrealen Erfahrung: »...during those moments between beeing dead and alive, she had met the devil.«
»One for the money. Two for the show. Three to make ready. And four to go.«

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Nur der Ordnung halber möchten wir darauf aufmerksam machen, wie sich auch hier ein Trend fortsetzt: Noch eine Mutter-Figur, noch eine Mutter-Tochter-Geschichte. Und sowieso: Drei weibliche Haupt­fi­guren, denn auch die von Stacey Martin gespielte Schwester Eleanor ist eine sehr wichtige Figur. »I'll tell the world, that i raised her kid, and I wrote her songs.«
Celeste gibt Inter­views, die aus dem Leim gehen, in denen sie aber auch viele kluge Sachen sagt, und den Inter­viewern sinn­lo­ser­weise darlegt, die Gegenwart werde über­schätzt, die Vergan­gen­heit wiederum, versuche man aus dem kollek­tiven Gedächtnis zu tilgen: »Alles heute ist gegen Vergan­gen­heit gerichtet, man versucht Vergan­gen­heit zu töten, zu vergessen.« Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit.
Gekontert wird solche Klarsicht durch Selb­stü­ber­schät­zung: »I am a new faith«. »I don’t want people to think, I just want them to feel good.«

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Stilis­tisch ist Vox Lux sehr virtuos. Die Einflüsse von Michael Hanekes kühler Ratio­na­lität und Bertrand Bonellos Ästhe­ti­zismus, von beider faszi­nierter Verach­tung der Popkultur sind unüber­sehbar. Auf 35mm, zwischen­drin aber auch 70mm, Super-8 und Video-Material gedreht. Die Kamera bleibt ruhig, Corbet liebt Auto-Fahrten, die aus der Subjek­tiven gefilmt sind. Dazu die Orchester Musik von Scott Walker – dieser Film hat immer wieder Momente der Perfek­tion.

Aufgebaut wie eine Symphonie hat diese Symphonie der Stars einen ironi­schen Grundton. Es wird bemerkt, wie sie auf den Rat kluger Leute bei ihrem ersten Lied im Text das »I« in ein »we« änderte, und dann das Resultat: »Simply put: It was a hit.«
Dieser Film ist zum Teil pure Satire, dann wieder ein Gesell­schafts­kom­mentar. Auch ein Trip. Wie Corbets erster Film ist dies ein laby­rin­thi­sches Konstrukt aus Verweisen, das fiktio­nale Figuren mit histo­ri­schen Fakten und Schlüs­sel­er­eig­nissen aufs Elegan­teste kombi­niert, sie zu deren Augen­zeugen macht. So kreiert der Film die albtraum­hafte Version des gegen­wär­tigen Star-Zirkus, der Venedig fast zu präzise spiegelt, ob Lady Gaga in der Version von A Star Is Born, ob Portmans eigene regel­mäßige Präsenz am Lido und ihre Verkör­pe­rungen von Pop-Idolen (Black Swan, Jackie), ob die Stars und Sternchen, die hier auf den großen Sprung hoffen und allzuoft in der Lagune versinken.
Corbet ist ein Filme­ma­cher voller Ambition und von enormem Selbst­ver­trauen.
Corbet denkt in Bildern, und er denkt genau.

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Seine Frage ist: Was heißt es, ein Star zu sein? Was sind Stars? Die Wege zum Ruhm sind hier das Gegenteil von Donners­marcks idea­li­sierter, religiös grun­dierter Idee vom Künstler als reinem Helden (siehe Folge 8); für Corbet ist Kunst korrupt und ein von allen Lastern infi­zierter Spiegel der Dekadenz unserer Zeit. Die aller­dings zeigt er in schil­lernder Pracht.

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Ein Star, wenn auch kein Weltstar, ist auch Paula Beer. Im deutschen Wett­be­werbs­bei­trag Werk ohne Autor spielt sie neben Saskia Rosendahl die weibliche Haupt­rolle.

Paula Beer ist in diesem Film leider nicht gut. Einfach nicht gut. Eine meiner Ansicht nach sowieso über­schätzte Schau­spie­lerin, deren Schwächen hier, mit einem Regisseur, der sie nicht wett­ma­chen kann, bloß­ge­legt werden.
Wer Paula Beer dann in Venedig persön­lich erlebte, der erlebte eine Schau­spie­lerin, die in Wirk­lich­keit noch viel magerer aussieht, als auf der Leinwand, erschre­ckend. Bei einem Mann würde man das im Übrigen genauso schreiben.
Wer mit ihr zu tun hat, berichtet von kompletter Fehlein­schät­zung ihrer Bedeutung, ihrer Bekannt­heit in Italien durch die persön­li­chen Agenten, was dann von ihr, wie soll sie es auch besser wissen, entspre­chend gespie­gelt wird: Mit Arroganz, die in Unsi­cher­heit wurzelt, mit jenen dauernden kleinen Extra­va­ganzen und Launen, die sich ganz große Stars tatsäch­lich heraus­nehmen und die kleine Sternchen darum auch an den Tag legen zu müssen glauben.

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Ein Teufels­pakt. Corbets Frage, was es heißt, ein Star zu sein, was Stars überhaupt sind, kann man auch auf alle anderen Venedig-Filme und das Festival insgesamt über­tragen. Vox Lux zeigt, was Star-sein bedeutet: Der Star­be­trieb ist ein vampi­ri­scher Betrieb, ganz oder gar nicht. Stars wie Celeste sind Täter und Opfer zugleich. Und er dringt hinter die Klischees vom kleinen unschul­digen Mädchen, das angeblich in den Star-Körper einge­schlossen ist – nichts wäre weniger wahr. Celeste, und nicht nur sie – ist ein little lost girl, aber auch ein hoff­nungs­loser Fall, in ihr – und nicht nur in ihr – steckt nicht ein anderes besseres Ich, sondern womöglich – das wäre die schlimmste Einsicht – nichts.

Kurz vor Schluss, kurz vor dem großen Konzert, das Celeste in robo­ter­hafter Perfek­tion in Vox Lux gibt, sieht man, wie sich das private Wrack in einen Star verwan­delt, man sieht alles: Die Hysterie, den Stress, die Drogen und das Zusam­men­reißen.
Dieses Zusam­men­reißen in der Öffent­lich­keit ist die entschei­dende Erfahrung, die Vox Lux vermit­telt; der Kontrast zwischen dem Auftritt, den smarten (oder schein-smarten) Kommen­taren für die Öffent­lich­keit und demge­genüber dem Abgrund des Privaten und der hauch­dünne Firnis, der das eine vom anderen trennt. Er wird hier sichtbar.

(to be continued)