06.09.2018
75. Filmfestspiele von Venedig 2018

Die Phantome der Hutma­cherin

Sunset von Laszlo Nemes
Bevor in Europa die Lichter ausgingen
(Foto: MFA+ Filmdistribution)

Mit einer rastlos schwebenden Kamera, in unvergleichlichem Stil und großer Schönheit ist Laszlo Nemes' »Sunset« ein Paranoiathriller vor dem Ersten Weltkrieg – Notizen aus Venedig, Folge 10

Von Rüdiger Suchsland

»Ich weiß noch, wie es heller wurde, wie die Wände schim­merten und wir ins Freie fuhren. Wir hatten alle das beun­ru­hi­gende Gefühl, dass uns etwas Außer­or­dent­li­ches bevor­stehe. Wir waren ernst und blickten zu den Fenstern hinaus. Jede dachte im Stillen darüber nach, was da kommen könne. Man kann sich leicht vorstellen, dass nicht eine einzige mit ihren Vermu­tungen auch nur im entfern­testen an die unge­heu­er­li­chen Über­ra­schungen heran­reichte, die unser harrten.«
Frank Wedekind: »Mine-Haha oder Über die körper­liche Erziehung der jungen Mädchen«; 1903

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Ich war nicht unbedingt ein großer Fan von Son of Saul. Aber dieser Film hat mich gepackt. Zögerlich, eher hinten­herum.
Wie das KZ-Drama des jungen Ungarn Laszlo Nemes wird auch sein neuer Film von einer inten­siven, schwe­benden, rastlosen Kamera dominiert, die ihrer Haupt­figur konstant auf den Fersen klebt, sie nicht aus dem Auge lässt, und so auch das Publikum, so es nicht gleich aussteigt, in einen sehr beson­deren Taumel hinein­zieht. Es ist der Taumel eines Tanzes auf dem Vulkan, des labilen, von inneren Konflikten geschüt­telten Europa des Jahres 1913, das im Rückblick als ein Vorkriegs­eu­ropa sichtbar ist. Im Zentrum steht die zwan­zig­jäh­rige Irisz (Juli Jakab in einer wahn­wit­zigen Perfor­mance), die nach Budapest kommt, um die Spuren ihrer Familie zu rekon­stru­ieren.

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Zwar beginnt Sunset mit schönen, gleich auf angenehme Weise rätsel­haften Bildern: Nachdem eine Inschrift verkündet hatte, 1913 sei Ungarns Haupt­stadt Budapest zur zweit­wich­tigsten Metropole des Kaiser­lich-König­li­chen Habs­bur­ger­reichs aufge­stiegen, und habe mit Wien gleich­ge­zogen, wird man hinein­ge­worfen in eine europäi­schen Metropole um die Jahr­hun­dert­wende .
Titel und Jahr setzen von Beginn an gewisse Erwar­tungen: Sunset, das muss den Zusam­men­bruch des Alten Europa meinen, den Moment, bevor »in Europa die Lichter ausgingen«, wie ein berühmtes Zitat den Ausbruch des Ersten Welt­kriegs charak­te­ri­siert. Denn dass wir uns in genau dieser Periode der Vorspiele zum Ersten Weltkrieg befinden, macht die Jahres­zahl klar. Fünf Jahre später würde der Weltkrieg verloren und das Habs­bur­ger­reich durch Revo­lu­tionen hinweg­ge­fegt sein, die Monarchie der Dynastie nach fast 1000 Jahren aufgehört haben zu exis­tieren.
Begegnet man hier also einer verlo­renen Unschuld? In keiner Weise. Von Anfang an liegt bei aller Schönheit kaum Idyl­li­sches, eher eine bedroh­liche Stimmung über allem. Ein Geheimnis und Nervo­sität liegen in der Luft. Fast alles hier ist unsicher.

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Man sieht nun die Groß­auf­nahme einer jungen Frau. Sie ist in einem Hutkauf­haus – dem »Kaufhaus Leiter«, offenbar das erste Haus am Platz –, probiert Hüte an, scheint mit den Gedanken woanders; in die Ferne schwei­fend; sehn­suchts­voll; abgelenkt. Und tatsäch­lich: »Ich bin wegen der Stelle gekommen«, sagt sie. Und wird Zelma vorge­stellt, eine Art Ober­auf­se­herin über die Verkäu­fe­rinnen. Im folgenden Gespräch stellt sich heraus, dass die junge Frau Irisz Leiter heißt und die Tochter des Grün­der­ehe­paares ist, das vor vielen Jahren bei einem myste­riösen Brand ums Leben kam. Der Bruder, von dem sie bisher nichts wußte, scheint als Anarchist im Unter­grund die Welt­re­vo­lu­tion herbei­zu­bomben.

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Irisz bekommt die Anstel­lung zunächst nicht. Man begegnet ihr keines­wegs mit offenen Armen, eher mit Abneigung und Miss­trauen. Sie scheint eine Bedrohung zu sein für das Schwei­ge­kar­tell, das hier dominiert, das Einver­s­tändnis, nicht über das zu sprechen, was offenbar passiert und unaus­sprech­lich ist – eine Gewalttat gegen den Kauf­haus­di­rektor Oskar Brill und der Mord an einem Grafen.
Aber sie wird nicht locker lassen, sie wird hart­nä­ckig um das Kaufhaus kreisen, Präsenz zeigen, ihren Einlass erzwingen. Sie will den Weg, der ihr vorbe­stimmt zu sein scheint, zu Ende gehen.

Die Bedrohung, die Irisz verkör­pert scheint von ihrem Bruder auszu­gehen, Kálmán Leiter.

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Der Vorschein kommender Dinge, die dunkle Ahnung von unglaub­li­chen Ereig­nissen, die niemand sich vorstellen konnte, die aber mit Gewiss­heit geschehen und das Beste­hende erschüt­tern mussten, erfüllt diesen Film und verbindet ihn mit der Gegenwart. Ein überaus zivi­li­siertes, liberales Europa leidet unter einem kaum greif­baren Schmerz, einem Scherz, der keinen realen Grund hat, der mehr einem Überdruss gleicht. Ein Rückzug in Fata­lismus und Schick­sals­er­ge­ben­heit verbindet sich mit der Sehnsucht aus dem ungreif­baren Druck ausbre­chen zu können: »Wär' doch ein Wind...« dichtete der Expres­sio­nist Alfred Lich­ten­stein: »zerriß mit Eisen­klauen/ Die sanfte Welt. Das würde mich ergetzen./ Wär doch ein Sturm... der müßt den schönen blauen/ Ewigen Himmel tausend­fach zerfetzen.«

Es war die Stunde der Selbst­zer­störung Europas.

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Desori­en­tie­rung und Hilf­lo­sig­keit bestimmen die Welt­wahr­neh­mung der Haupt­figur. Irisz wirkt fragil und verwundbar, zunehmend aber auch entschlos­sener. Als ob sie wüsste, dass es kein Zurück geben kann.
Was ist das für eine Figur?

Sie ist, wie alles hier nicht abbild-realis­tisch zu verstehen, sondern surreal. Schon in der Auftakt­szene sorgt die Tonspur für Vers­törung, weist mit einem penetrant lang gehal­tenen Ton auf das Irreale und Paranoide hin. Es gibt keinen Augen­blick Humor, die Figuren essen und trinken nicht, es ist alles die reine Künst­lich­keit. Die Figuren in diesem Film sind eher Geister und sie sind Ideen­träger. Sie stehen für Klassen, Haltungen, Lebens­weisen. Irisz ist unter ihnen die Offenste. Eine Projek­ti­ons­fläche, aber auch eine ewige Wanderin. Oder der Weltgeist?
Wenn sie die Kleidung wechselt, und gegen Ende des Films wie ein Junge aussieht, und wie einer der Anar­chisten, und wenn sie dann, ganz am Schluß, in der letzten Szene des Films, in den Schüt­zen­gräben des Ersten Welt­kriegs auftaucht, dann könnte man dieser Ansicht sein.

Wo Vox Lux Trip ist, ist dieser Film Trance.

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Nemes überträgt die visuelle und ästhe­ti­sche Methode von Son of Saul auf eine andere Welt: Wieder minu­ten­lange Einstel­lungen. Wieder sitzt die Kamera der Haupt­figur im Rücken, wieder das atemlose, permanent bewegte Mäandern in Groß­auf­nahmen und besten­falls Halb­to­talen, nie Totale, nie Überblick und Orien­tie­rung, immer enge Rahmen, Desori­en­tie­rung. Das alles noch verdop­pelt durch die penetrant überlaute Tonspur, durch eine gele­gent­lich atonale Musik, durch Dialoge, die nur in Fetzen darge­boten werden, abbrechen, unvoll­endet bleiben, keine Infor­ma­tionen liefern, sondern desin­for­mieren, und das zu leise, in geheim­nis­vollem Flüstern und Murmeln.
Das ist extrem manie­riert, ohne Frage. Aber dieses von uns als »Künst­lich­keit« Empfun­dene ist der Preis einer eigenen genuinen eigen­sin­nigen Ästhetik. Nemes vollzieht den Bruch mit den visuellen Konven­tionen, und das will er. Beim Holocaust war das obszön, und moralisch verboten – das war der Grund meiner Vorbe­halte.
Aber für die Jahr­hun­dert­wende funk­tio­niert die Methode: Ein Inten­si­täts­stei­ge­rungs­film, gedreht in 35mm. Es sieht alles sehr schön aus, in Honig­licht getauchte, nicht unbedingt alles histo­risch korrekte Bilder. Sunset ist ein heraus­ra­gender Film, ein visuelles Abenteuer und eine einmalige Erfahrung

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Man kann Sunset, bezie­hungs­weise die Erfahrung, ihn zu sehen, mit einem Roman der Post­mo­derne verglei­chen, in dem mehrere Ebenen, die nichts mitein­ander zu tun haben, zusam­men­treffen und inein­ander fallen.
Passender noch scheint der Vergleich mit einem Compu­ter­spiel. Es hat verschie­dene Level, einen Parcours, den die Haupt­figur nach­ein­ander zu bewäl­tigen hat, und in dem sie jeweils gewisse Aufgaben lösen muss: Das Kaufhaus, die Straßen, der Massen­auf­marsch, das Treffen mit der Gräfin, den Empfang der Ober­schichten, den Unter­schlupf der Anar­chisten, die Viertel der Unter­schichten, das Siechen­haus, den Besuch der König­li­chen Hoheit, die Fahrt zum Hof nach Wien, die revo­lu­ti­onären Unruhen, der Weltkrieg. Die Realität in diesem Film ist keine orga­ni­sche Einheit mehr, und darum auch nicht inter­pre­tierbar und verstehbar. Es ist das Eindringen der Kontin­genz, das verstört und scho­ckiert; deren Fluss scheint der gesamten Fiktion ihre Logik aufzu­zwingen.
Und um dieses Kontin­gen­z­er­fah­rung geht es vor allem. Ein »Mystery-Drama« (so Peter Bradshaw im Guardian) ist es deswegen noch lange nicht.
Dieses Statio­nen­drama wirkt wie eine Reise in ein Disney­land der Zeit um 1913. Das kann einem nicht gefallen. Und genau das gefiel mir nicht an Son of Saul, das auf mich wie ein KZ-Disney­land oder -Compu­ter­spiel wirkte. Also obszön.
Aber hier finde ich diesen Ansatz wunderbar.

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Trotzdem: Man versteht die Ausladung aus Cannes, weil man diesen Film chaotisch und unver­s­tänd­lich finden kann, eine Zumutung. Aber er ist auch das Gegenteil. Und solche Filme sollte Cannes zeigen.

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Die Handlung mit ihrer Entfes­se­lung des Chaos hat noch andere Aspekte. Denn in diesem Para­noiath­riller finden sich auch Spuren des Fin-de-Siècle und der Literatur des frühen 20. Jahr­hun­derts. T.S.Eliots »The Waste Land« wird zitiert und im Abspann erwähnt. Neben Spuren von Kafka und Musil ist dies – so scheint mir: offen­kundig – auch inspi­riert von Frank Wedekind. Dessen Novelle »Mine-Haha oder Über die körper­liche Erziehung der jungen Mädchen« von 1903 wurde bereits 2004 mit dem fran­zö­si­schen Film Unschuld verfilmt, hier liefert sie eher Ideen. Wie die von dem Mädchen, das »auser­wählt« (englisch: »chosen«) wird, und dann einem deka­denten Hof aus Erwach­senen zugeführt. Ein bisschen wie in Suspiria.
»The horror of the world hides beneath these infi­ni­tely pretty things«, sagt jemand zu Irisz.

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Es könnte, was wir sehen, auch der Wahn einer Verrückten sein. Denn die »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) ersteht hier nicht in histo­ri­scher Korrekt­heit wieder auf, sondern eher als Schloss des Franz Kafka. Sunset, dessen Titel auch auf den Zusam­men­bruch des Alten Europa zielt, den Vorschein des Ersten Welt­kriegs, ist vor allem ein Werk des Phan­tas­ti­schen Kinos, ein Para­noiath­riller – formal großartig, gärt auch dieser Film noch viele Stunden in den Köpfen des Publikums weiter.

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Da passt der Film fast zu perfekt zu Suspiria (siehe Folge 6), auf den ich nochmal zurück­kommen will. Gestern musste ich rasch fertig werden, da schreibt man dann à la écriture auto­ma­tique ein paar Sachen so hin.
Ich habe auch nichts zurück­zu­nehmen, muss aber meine Begeis­te­rung noch besser begründen.

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»Most people I talked to did not like it« erzählt mir Tina aus Slovenien später, »but I am comple­tely taken in. By his style, his camera and the sound.«

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Da passt der Film fast zu perfekt zu Luca Guad­a­gninos Suspiria, auf den ich nochmal zurück­kommen will. Gestern musste ich rasch fertig werden, da schreibt man dann à la ecriture auto­ma­tique ein paar Sachen so hin.
Ich habe auch nichts zurück­zu­nehmen, muss aber meine Begeis­te­rung noch besser begründen.
Was ich an dem Film so großartig finde, ist wie er intel­lek­tuell kompli­zierte Konzepte – das »Simu­la­crum« (Baudril­lard) – in sinnliche Gestalt verwan­delt.
»Simu­la­crum« ist je nach Vers­tändnis des Begriffs eine Täuschung, ein Phantom (1), oder eine Lüge, die eine Wahrheit ist (2), oder die Aufhebung von Abbild und Realität, also der Unter­schei­dung von Kopie und Original (3). Das darf man durchaus auch auf Guad­a­gninos Anver­wand­lung selbst beziehen, die keine Kopie sein will.

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Was bedeutet das konkret? Kurz gesagt: Suspiria ist ein Hexenfilm. Der Titel bedeutet »Seufzer«, und bezieht sich auf die »Mutter des Seufzens«, die in Dario Argentos Mütter-Trilogie, nicht aber in christ­lich-alteu­ropäi­schem Kulturgut verankert ist.
Frauen, Mütter, Hexen – diese Hexen sind in doppelt und dreifach konno­tiert: Sie stehen für die bundes­re­pu­bli­ka­ni­sche Moderne, für den »Kapi­ta­lis­ti­schen Realismus«, wie er sich in den Werken Gerhard Richters und Sigmar Polkes zeigt. Wenn Ingrid Caven, Angela Winkler, Rennee Souten­dijk und Tilda Swinton hier als Hexen auftreten, dann nicht nur weil wir sie gerne sehen. Sondern weil sie wie Ikonen und wandelnde Zitate für bestimmte Filme von Rainer Werner Fass­binder, Volker Schlön­dorff, Paul Verhoeven und Christoph Schlin­gen­sief stehen. Zudem dürfen wir beim Modern Dance zuerst an Pina Bausch denken, also wieder BRD-Moderne, dann auch an Mary Wigman und Martha Graham.
Es wird überdies deutlich darauf verwiesen, die Dance-Companie habe im Dritten Reich Wider­stand geübt, bzw. ausge­halten und überlebt.
Das herkömm­liche Konzept von Schönheit, nach dem anmutige Frauen voller Heiter­keit tanzen muss in diesem Sinn gebrochen werden: »There are two things, dance [= art, RS] can never be again: beautiful and cheerful. Today we need to break the nose of any cheerful thing.«

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Frau­en­macht steht hier gegen Männer­macht, Hexen gegen Nazis – in einem ganz prin­zi­pi­ellen Sinn. Die Taten der RAF werden zu einem – aus Sicht der Hexen unvoll­kom­menen – Akt des Wider­standes, auch des symbo­li­schen, gegen das Überleben der Nazi-Macht in Gestalt west­deut­scher Wirt­schafts- und Beam­ten­eliten. Oder wie es die Kollegin Beatrice Behn in ihrer bemer­kens­werten, sehr lesens­werten Kritik zu Suspiria mutig formu­liert: Die »Taten der RAF und der damit verbun­denen teils radikalen Aufar­bei­tung der Kriegs­ver­bre­chen der Nazis.«
Das was in der Tanz­schule geschieht, ist ein Spiegel der äußeren Verhält­nisse, nicht umgekehrt. So wie die Mütter laut einer Inschrift, die im Film früh zu sehen ist, den Platz aller anderen einnehmen kann, aber selbst uner­setz­lich und unaus­tauschbar ist. Ein Simu­la­crum.
Diese Hexen sind vor allem Femi­nis­tinnen. Es geht um das Recht von Frauen, genau das Gleiche tun zu können wie Männer. Sie dürfen frei sein, sie dürfen töten, sie dürfen lieben.

(to be continued)