75. Filmfestspiele von Venedig 2018
Lachender Dritter, oder doch Resterampe von Cannes? |
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Venedig scheut nicht vor Streaming-Diensten und Oscar-Kandidaten zurück: First Man eröffnete die 75. Mostra | ||
(Foto: Universal Pictures) |
Heute Abend geht es wieder los – mit einem neuen Festival-Trailer. Den alten gab es gut zehn Jahre. Mit seiner Mischung aus Optimismus, Sentimentalität und irgendwie mediterraner Spätsommerstimmung lief er zu einem animierten Potpourri aus Kurzzitaten aus italienischen Kinoklassikern vor jedem Film der Filmfestspiele von Venedig.
Ab jetzt geht es internationaler zu – und beliebiger: Knalliger, bunter, mit viel weniger Poesie und dafür vielen, vor allem
amerikanischen Filmausschnitten soll der Festivalgast auf den nächsten Film eingestimmt werden.
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Venedig, genauer gesagt die »Mostra internazionale d’arte cinematografica« ist das aller-älteste Filmfestival der Welt. Vor 86 Jahren, 1932, fand sie erstmals statt, und nach einigen Unterbrechungen feiert die Mostra in diesem Jahr mit ihrer 75. Ausgabe ein Jubiläum.
Das Programm für die kommenden elf Tage scheint dem Anlass zu entsprechen und kann sich in einer Zeit des Umbruchs der Kinolandschaft und Verwertungsketten in jedem Fall sehen lassen.
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Der »lachende Dritte« zwischen den zuletzt etwas gestresst wirkenden Franzosen in Cannes und einer schwächelnden Berlinale im Umbruch sei Venedig, kommentierte nach Verkündung des Programms die »Süddeutsche Zeitung«.
In jedem Fall ist die Mostra das heiterste und entspannteste unter den großen Filmfestivals – ohne störende Geschäftemacherei geht es hier allein um die Schönheit der Filme. Und da alles am Lido stattfindet, jenem Strand vor der Lagune von Venedig, an dem
einst Thomas Mann residierte, als er seinen »Tod in Venedig« schrieb, versucht man auch, das Spätsommerleben so lang und gut wie möglich zu genießen – zwischen nachdenklichem Autorenkino und Film-Experimenten, die erstmal verdaut werden wollen, finden sich daher seit jeher auch Ballerfilme, seichte Melodramen und sonstiger Jahrmarktseskapismus – eine angenehme Mischung also.
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Eröffnet wird heute Abend mal wieder mit einem amerikanischen Film, der Blockbusterambition mit höherem Anspruch kombiniert: First Man von Damien Chazelle erzählt die Geschichte von Neil Armstrong, dem ersten Mensch auf dem Mond.
Dies ist der fünfte Hollywood-Eröffnungsfilm am Stück in Venedig.
Überhaupt die Amerikaner. Sie lieben Venedig, nicht nur weil die Lagunenstadt mit ihrer Patina exakt all das verkörpert, was die USA sich unter Old Europe vorstellen und selber nicht haben. Sondern auch weil sich die Mostra zuletzt als sehr verlässliches Oscar-Orakel entpuppt hat: Gravity, Birdman, Spotlight, La La Land, The Shape of Water – all diese Filme feierten zunächst ihre Weltpremiere am Lido, um dann bei den Oscars abzuräumen.
Auch im 21 Filme umfassenden Wettbewerbsprogramm der Jubiläumsausgabe finden sich hochkarätige Amerikaner, wie die Coen-Brüder oder die beiden Mexikaner Alfonso Cuarón und Carlos Reygadas.
Aber es gibt zugleich eben eine ganze Reihe bedeutender europäischer Autorenfilmer wie die Franzosen Olivier Assayas, Julian Schnabel und Jacques Audiard, der mit seinem letzten Film die Goldene Palme in Cannes gewann, oder der Ungar László Nemes, der Brite Mike Leigh oder der Grieche
Yorgos Lanthimos, die alle zuletzt in Cannes wichtige Preise gewannen.
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Cannes erscheint bis auf Weiteres nach wie vor als das Maß aller Dinge in der Filmwelt – um so spannender wird es sein, nun diese Filme zu sehen. Verschiebt sich da gerade etwas Grundsätzliches, sind dies die zu Unrecht Übersehenen, oder doch nur die beleidigte Resterampe von Cannes? Es wird sich herausstellen.
Ebenso, was die Streaming-Dienste zu bieten haben. Im Gegensatz zu Cannes rollt Venedig nämlich Netflix und Konsorten in diesem Jahr den Roten Teppich aus. Das kann man entspannt finden oder opportunistisch bis korrupt.
Allemal stellt Netflix die bisherigen Bedingungen von Vertrieb und Film-Finanzierung infrage – und auch Venedig wird darauf eine grundsätzliche Antwort finden müssen.
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Auch ein Deutscher ist dabei. Florian Henckel von Donnersmarck nimmt mit seinem dritten Spielfilm am Wettbewerb um den Goldenen Löwen teil: Werk ohne Autor ist über drei Stunden lang, und erzählt von einem jungen deutschen Künstler zwischen Geschichte und Gegenwart, Trauma und Verdrängung, Ost und West.
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Und dann ist da noch das, was zur Zeit bei keinem Festival fehlen darf: Die Debatte über Frauen und Film. Zwar gibt es viele Drehbuchautorinnen, Produzentinnen und Regisseurinnen in allen Reihen, aber nur eine einzige Regie-Frau im Wettbewerb.
Ist das schon Sexismus? Für manche scheint das klar auf der Hand zu liegen. Aber selbst wenn wir Claire Denis' Film am Ende besser finden, als den von Audiard – muss Venedig-Direktor Alberto Barbera das genauso sehen? Und wissen wir
sicher, dass Denis überhaupt eingereicht hat, dass der Film fertig war, nur weil er in San Sebastian läuft?
Muss man also das Festival boykottieren, bis es eine Mindestquote für Frauen eingeführt hat?
Etwas mehr Gelassenheit und Realitätssinn statt schriller Proteste wäre gut. Und wen würde man eigentlich stattdessen aus dem Wettbewerb herauswerfen? Die Coen-Brüder? Donnersmarck? Assayas?
Das alles bleibt eine theoretische Debatte, solange man diese Filme und die der
scheinbar entrechteten Frauen nicht gesehen hat. Erst wenn man dann Ende September in San Sebastian die Filme von weiblichen Hochkarätern wie Naomi Kawase, Claire Denis und Mia Hansen-Løve gesehen hat, wissen wir, ob Venedig die richtigen Streichkandidaten gefunden hat.
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Der lachende Dritte? Mal sehen. Ob das tatsächlich für die diesjährige Ausgabe der Mostra zutrifft, wissen wir erst am Montag in einer Woche. Und was die mittelfristige Zukunft angeht, könnte es gut sein, dass die Mostra zwischen den unsicheren politischen Verhältnissen im eigenen Land, den aufstrebenden Neureichen in Toronto und einer vielleicht wiedererstarkten Berlinale zerrieben und plötzlich zum weinenden Dritten wird.
Aber bis dahin lässt sich das Kinoleben nirgendwo besser genießen, als am Lido.
(to be continued)