30.08.2018
75. Filmfestspiele von Venedig 2018

Lachender Dritter, oder doch Reste­rampe von Cannes?

First Man von Damien Chazelle
Venedig scheut nicht vor Streaming-Diensten und Oscar-Kandidaten zurück: First Man eröffnete die 75. Mostra
(Foto: Universal Pictures)

Weltraumfahrer, Cowboys und Filme ohne Ende: Am Mittwochabend eröffnet die Mostra von Venedig – ein Ausblick zum Auftakt der 75. Ausgabe des ältesten Filmfestivals der Welt – Notizen aus Venedig, Folge 1

Von Rüdiger Suchsland

Heute Abend geht es wieder los – mit einem neuen Festival-Trailer. Den alten gab es gut zehn Jahre. Mit seiner Mischung aus Opti­mismus, Senti­men­ta­lität und irgendwie medi­ter­raner Spät­som­mer­stim­mung lief er zu einem animierten Potpourri aus Kurz­zi­taten aus italie­ni­schen Kino­klas­si­kern vor jedem Film der Film­fest­spiele von Venedig.
Ab jetzt geht es inter­na­tio­naler zu – und belie­biger: Knalliger, bunter, mit viel weniger Poesie und dafür vielen, vor allem ameri­ka­ni­schen Film­aus­schnitten soll der Festi­val­gast auf den nächsten Film einge­stimmt werden.

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Venedig, genauer gesagt die »Mostra inter­na­zio­nale d’arte cine­ma­to­gra­fica« ist das aller-älteste Film­fes­tival der Welt. Vor 86 Jahren, 1932, fand sie erstmals statt, und nach einigen Unter­bre­chungen feiert die Mostra in diesem Jahr mit ihrer 75. Ausgabe ein Jubiläum.
Das Programm für die kommenden elf Tage scheint dem Anlass zu entspre­chen und kann sich in einer Zeit des Umbruchs der Kino­land­schaft und Verwer­tungs­ketten in jedem Fall sehen lassen.

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Der »lachende Dritte« zwischen den zuletzt etwas gestresst wirkenden Franzosen in Cannes und einer schwächelnden Berlinale im Umbruch sei Venedig, kommen­tierte nach Verkün­dung des Programms die »Süddeut­sche Zeitung«.
In jedem Fall ist die Mostra das heiterste und entspann­teste unter den großen Film­fes­ti­vals – ohne störende Geschäf­te­ma­cherei geht es hier allein um die Schönheit der Filme. Und da alles am Lido statt­findet, jenem Strand vor der Lagune von Venedig, an dem einst Thomas Mann resi­dierte, als er seinen »Tod in Venedig« schrieb, versucht man auch, das Spät­som­mer­leben so lang und gut wie möglich zu genießen – zwischen nach­denk­li­chem Autoren­kino und Film-Expe­ri­menten, die erstmal verdaut werden wollen, finden sich daher seit jeher auch Baller­filme, seichte Melo­dramen und sonstiger Jahr­markts­es­ka­pismus – eine angenehme Mischung also.

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Eröffnet wird heute Abend mal wieder mit einem ameri­ka­ni­schen Film, der Block­bus­ter­am­bi­tion mit höherem Anspruch kombi­niert: First Man von Damien Chazelle erzählt die Geschichte von Neil Armstrong, dem ersten Mensch auf dem Mond.
Dies ist der fünfte Hollywood-Eröff­nungs­film am Stück in Venedig.

Überhaupt die Ameri­kaner. Sie lieben Venedig, nicht nur weil die Lagu­nen­stadt mit ihrer Patina exakt all das verkör­pert, was die USA sich unter Old Europe vorstellen und selber nicht haben. Sondern auch weil sich die Mostra zuletzt als sehr verläss­li­ches Oscar-Orakel entpuppt hat: Gravity, Birdman, Spotlight, La La Land, The Shape of Water – all diese Filme feierten zunächst ihre Welt­pre­miere am Lido, um dann bei den Oscars abzu­räumen.

Auch im 21 Filme umfas­senden Wett­be­werbs­pro­gramm der Jubiläums­aus­gabe finden sich hoch­karä­tige Ameri­kaner, wie die Coen-Brüder oder die beiden Mexikaner Alfonso Cuarón und Carlos Reygadas.
Aber es gibt zugleich eben eine ganze Reihe bedeu­tender europäi­scher Autoren­filmer wie die Franzosen Olivier Assayas, Julian Schnabel und Jacques Audiard, der mit seinem letzten Film die Goldene Palme in Cannes gewann, oder der Ungar László Nemes, der Brite Mike Leigh oder der Grieche Yorgos Lanthimos, die alle zuletzt in Cannes wichtige Preise gewannen.

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Cannes erscheint bis auf Weiteres nach wie vor als das Maß aller Dinge in der Filmwelt – um so span­nender wird es sein, nun diese Filme zu sehen. Verschiebt sich da gerade etwas Grund­sätz­li­ches, sind dies die zu Unrecht Über­se­henen, oder doch nur die belei­digte Reste­rampe von Cannes? Es wird sich heraus­stellen.

Ebenso, was die Streaming-Dienste zu bieten haben. Im Gegensatz zu Cannes rollt Venedig nämlich Netflix und Konsorten in diesem Jahr den Roten Teppich aus. Das kann man entspannt finden oder oppor­tu­nis­tisch bis korrupt.

Allemal stellt Netflix die bishe­rigen Bedin­gungen von Vertrieb und Film-Finan­zie­rung infrage – und auch Venedig wird darauf eine grund­sätz­liche Antwort finden müssen.

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Auch ein Deutscher ist dabei. Florian Henckel von Donners­marck nimmt mit seinem dritten Spielfilm am Wett­be­werb um den Goldenen Löwen teil: Werk ohne Autor ist über drei Stunden lang, und erzählt von einem jungen deutschen Künstler zwischen Geschichte und Gegenwart, Trauma und Verdrän­gung, Ost und West.

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Und dann ist da noch das, was zur Zeit bei keinem Festival fehlen darf: Die Debatte über Frauen und Film. Zwar gibt es viele Dreh­buch­au­torinnen, Produ­zen­tinnen und Regis­seu­rinnen in allen Reihen, aber nur eine einzige Regie-Frau im Wett­be­werb.
Ist das schon Sexismus? Für manche scheint das klar auf der Hand zu liegen. Aber selbst wenn wir Claire Denis' Film am Ende besser finden, als den von Audiard – muss Venedig-Direktor Alberto Barbera das genauso sehen? Und wissen wir sicher, dass Denis überhaupt einge­reicht hat, dass der Film fertig war, nur weil er in San Sebastian läuft?
Muss man also das Festival boykot­tieren, bis es eine Mindest­quote für Frauen einge­führt hat?
Etwas mehr Gelas­sen­heit und Reali­täts­sinn statt schriller Proteste wäre gut. Und wen würde man eigent­lich statt­dessen aus dem Wett­be­werb heraus­werfen? Die Coen-Brüder? Donners­marck? Assayas?
Das alles bleibt eine theo­re­ti­sche Debatte, solange man diese Filme und die der scheinbar entrech­teten Frauen nicht gesehen hat. Erst wenn man dann Ende September in San Sebastian die Filme von weib­li­chen Hoch­karä­tern wie Naomi Kawase, Claire Denis und Mia Hansen-Løve gesehen hat, wissen wir, ob Venedig die richtigen Streich­kan­di­daten gefunden hat.

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Der lachende Dritte? Mal sehen. Ob das tatsäch­lich für die dies­jäh­rige Ausgabe der Mostra zutrifft, wissen wir erst am Montag in einer Woche. Und was die mittel­fris­tige Zukunft angeht, könnte es gut sein, dass die Mostra zwischen den unsi­cheren poli­ti­schen Verhält­nissen im eigenen Land, den aufstre­benden Neurei­chen in Toronto und einer viel­leicht wieder­erstarkten Berlinale zerrieben und plötzlich zum weinenden Dritten wird.

Aber bis dahin lässt sich das Kinoleben nirgendwo besser genießen, als am Lido.

(to be continued)