26.05.2017
70. Filmfestspiele Cannes 2017

Es ist wie es ist, sagt der Teufel

HAPPY END
Wird es ein Happy End am Ende des Festivals geben? Michael Hanekes Happy End, einer der vielen nicht so guten Filme von Cannes
(Foto: X Verleih AG / Warner Bros. Entertainment GmbH)

Das Palmenfieber steigt: Die Achillesfersen der Favoriten – Cannes-Notizen, 11. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Das Palmen­fieber steigt, es sind die Tage der Jury­flüs­terer und der Speku­la­tionen, wer wohl am Sonn­tag­abend die besten Palmen­chancen hat. Drei Filme stehen noch aus: Die von François Ozon, von Fatih Akin und von Lynn Ramsey, drei weitere, die von Kritiker-Darling Hong Sang-soo, vom Ungarn Kornel Mundruzcko und vom russi­schen Berliner Sergei Losnitza habe ich bisher nicht gesehen. Losnitza hole ich heute nach, die drei anderen hoffent­lich am Sonntag.
Einig sind sich meine Freunde und Bekannten, dass es ein unbe­frie­di­gendes Jahr gewesen sei. Dem kann ich nur zum Teil zustimmen. Zu meiner eigenen Über­ra­schung finde ich die meisten Wett­be­werbs-Filme zumindest anständig und der ernst­haften Diskus­sion wert. Ob alles im Wett­be­werb laufen muss, ist eine andere Frage.

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Wem ich bisher meine persön­liche Goldene Palme geben würde, hat Engin aus Istanbul mich vor ein paar Minuten gefragt. Ich habe mit der Antwort gezögert, nannte dann aber ganz überzeugt Sofia Coppola. The Beguiled ist filmisch hervor­ra­gend und hat viel Tiefgang. Aber auch dieser Film ist nicht perfekt und nicht der beste der Regis­seurin. Das gilt für alle anderen Werke, die bei mir in die engere Wahl kommen auch: Naomi Kawases Film gefällt mir persön­lich, auch weil ich Kawases Werk mag und eine Affinität für japa­ni­sche Ästhetik, japa­ni­sches Lebens­ge­fühl habe. Aber Hikari ist bestimmt nicht der beste Film der Regis­seurin. Engins Istan­buler Kollegin Nil ist aus dem Film raus­ge­gangen – etwas zu früh, glaube ich, aber ich wusste, dass sie den Film nicht mögen würde und kann verstehen, dass man die Story übermäßig konstru­iert findet, und einem dieser Typus der beschei­denen, wiss­be­gie­rigen, bei älteren Männern um Erkenntnis heischenden jungen japa­ni­schen Frau nicht mag. Ich war überzeugt, dass viele den Film hassen würden. Wie gut er insgesamt bei der inter­na­tio­nalen Presse ankam, hat mich sehr über­rascht – viel­leicht lag das aber auch daran, dass dies der erste huma­nis­ti­sche Film war, nachdem nicht immer subtiler Anti-Huma­nismus die erste Festi­val­hälfte beherrscht hatte
Die drei besten Filme dieses Typus sind Ruben Östlunds The Square, Happy End von Michael Haneke und Yorgos Lanthimos The Killing of a Sacred Deer. Was zual­ler­erst gegen diese Filme spricht: Auch sie sind sämtlich nicht die besten Werke ihrer Macher.
Sie sind intensiv und stark, aber nur in ihrem Nega­ti­vismus. Alle drei weichen nämlich aus: Östlund in billigem Humor in seiner Beschrei­bung der zeit­genös­si­schen Kunst­szene. Da lachen und klatschen wirklich nur jene, die mit der modernen Kunst schon seit Manet nichts mehr anfangen können.
Bei Haneke ist der große Ausweich­punkt der, dass er sich nicht entscheidet, welche Geschichte er genau erzählen will. Die inter­es­san­teste, die aber mehr am Rand von Happy End verborgen liegt, ist die der »Kindheit eines Chefs« (Sartre): Wie bürger­liche Kinder zu stillen Brütern der Gewalt, des Faschismus werden.
Lanthimos' Achil­les­ferse: Sein Mystery-Teil. In Folge 7 der Cannes-Notizen hatte ich beschrieben, wie hier uner­klär­liche Ereig­nisse über eine bürger­liche Familie herein­bre­chen. Darin unter­scheidet sich der Film nicht von Bunuels Würge­engel. Es ist wie es ist, sagt der Teufel. Aber auch bei Bunuel ist das Uner­klär­liche vor allem Behaup­tung, und darin auch ein bisschen billig und präten­tiös.

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Aber was mag wohl so eine Jury entscheiden. Worauf können sich zum Beispiel Maren Ade und Will Smith einigen? Es ist jedes Jahr das Gleiche: Man konzen­triert sich übermäßig stark auf den Präsi­denten der Jury, in diesem Fall also Pedro Almodóvar, und fängt an, billiger zu psycho­lo­gi­sieren, als noch der schlech­teste Hollywood-Film, in diesem Fall also: Der Mann ist schwul und kulturell ein Kind der 80er Jahre, also muss der Mann bestimmt den fran­zö­si­schen, in den 80ern spie­lenden Aids-Film 120 BPM besonders toll finden... Dümmer geht’s nimmer. Wenn wirklich ausschließ­lich Almo­dó­vars Geschmack ausschlag­ge­bend sein sollte, dann spricht eher einiges dafür, dass es dem Spanier auch gefallen könnte, viel­leicht ja doch mal wieder eine weibliche Preis­trä­gerin zu finden. Es wäre erst die zweite Palme für eine Frau nach Jane Campion, die für Das Piano gewann.
Meine sehr allge­meine Erfahrung: Zuviel Regis­seure in einer Jury ergeben schlechte Preise. Und fühlt sich nicht sogar Will Smith als kompe­tenter Filme­ma­cher?

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Der Tiefpunkt des Wett­be­werbs liegt schon zwei Tage zurück: Jacques Doillons Künst­ler­biopic Rodin hat keine Gnade verdient: Eine Alther­ren­phan­tasie des Regis­seurs im Verein mit Haupt­dar­steller Vincent Lindon. Die Figur wird als gönner­hafter Checker präsen­tiert, der allen seinen Platz zuweist, und zu »Paul« (Cezanne) Sachen sagt wie: »Als ich 40 war hat sich auch keiner für mich inter­es­siert.«
Ansonsten: Vincent Lindons Wurst­finger zuerst im Gips patschend und dann an den nackten Brüsten der Modelle. Und der einzige Licht­blick: Izïa Higelin als Camille Claudel ist selbst zwischen den Ruinen dieses Films noch eine Darstel­lerin, die im Gedächtnis bleibt.

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In Djiam von Tony Gatlif (Außer Konkur­renz) bin ich nur hinein­ge­gangen, um mal ganz ehrlich zu sein, weil ich Barbara aus Belgien, meiner aller­liebsten inter­na­tio­nalen Pres­se­agentin, einen Gefallen tun wollte. Wir hatten vor Cannes gemailt, und wie man es so tut, uns gegen­seitig auf Stand gebracht, und nützliche Infor­ma­tionen ausge­tauscht, und ich hatte ihr zugesagt, Gatlif, den ich nicht mag, nach Jahren mal wieder eine Chance zu geben.
Man sieht dann das Insert »Lesbos Island 2016«, denkt an Flücht­linge, sieht eine hübsche junge Frau vor einem Zaun, die anfängt zu singen. Der Gesang ist nicht unter­ti­telt. Was man durch ihre Art zu tanzen und den sehr kurzen Rock schnell sehen kann: Sie hat keinen Slip an. Nachdem der Gesang vorbei ist gibt es ein kurzes Gespräch mit einem Mann, der mindes­tens ihr Vater sein könnte. Der redet mit ihr etwa in dem Ton »Unders­tood, you little bitch«, sie antwortet entspre­chend: »Yes, you stinking old man«. Ist aber freund­schaft­lich gemeint.
Was folgt ist der übliche Musik-Tourismus von Gatlif, Reisen durch Istanbul und Grie­chen­land, immer unterwegs immer mit neuen Figuren alle fünf Minuten, immer mit unmo­ti­vierten Musik­stü­cken zwischen­durch. Bollywood für Politisch-Korrekte vor dem Hinter­grund von krach­le­dernem Ethno­kitsch. Dieser Film wirkt wie eine Karikatur von Gatlif. Im Grunde unglaub­lich, dass so etwas hier läuft. Dann sehen wir dem Girl noch beim Scham­haare rasieren zu, und auch sonst hat alles mitunter die Anmutung eines Arthouse-Pornos.

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Beim Essen kommt RP irgend­wann auf diese vielen Frauen, die von Männern künst­le­risch... ja miss­braucht werden, zu sprechen. Und erwähnt zwei Fälle: Mary Tsoni, die vor acht Jahren in Yorgos Lanthimos Dogtooth die jüngere Tochter spielte, ging Anfang Mai in den Tod. Schön länger her ist der Selbst­mord von Yeka­te­rina Golubeva, die in Leos Carax Pola X Haupt­rollen spielte, wie in Bruno Dumonts 29 Palms und Claire Denis L’intrus.

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Das letzte Drittel des Festivals hat begonnen, die ersten sind schon abgereist, alles ist insgesamt etwas entspannter. zugleich beginnt ein anderer Stress: Wie kann man noch alles sehen, was man bisher versäumt hat? Wie kann man alles aufschreiben, was man erlebt hat, was aber noch nicht in diese Notizen hier einge­flossen ist? Und vor allem: Wie schaffe ich es noch, die ganzen Freunde und Bekannten zu sehen, die ich noch treffen wollte?
Ganz klar noch treffen will ich Violeta und Violeta. Beiden bin ich schon über den Weg gelaufen: Violeta aus Barcelona, Film­kri­ti­kerin und Barça-Dauer­kar­ten­be­sit­zerin, laufe ich zwar immer wieder über den Weg, aber richtig viel Zeit haben wir bisher nicht gehabt.
Violeta aus Buenos Aires hat seit September ein Kind, Julia. Es hat mich über­rascht, dass sie schon wieder auf andere Konti­nente riest und auf Festivals fährt, aber auch gefreut: Endlich mal eine Mutter, die nicht alles, was sie tut auf, das Kind einstellt, sondern die ihr Kind in ihr Leben, so wie es ist inte­griert. »Anders hätte ich es nicht tun wollen«, hat sie mir schon vor einer Woche beim Locarno-Empfang erzählt. Immerhin habe Julia bereits einen Festi­val­badge und ist fast immer mit dabei, wenn Violeta im Halbstun­den­takt ihre Meetings hat.
Zuende ist auch der Markt. Deswegen verändert sich mit dem heutigen Tag das Publikum, zumindest ein wenig. Manche Film­kri­tiker und die von mir verach­teten Boulevard-Jour­na­listen sind schon abgereist, ihre freien Plätze nehmen die Menschen mit den Markt­ak­kre­di­tie­rungen ein.
Da gibt es dann sowohl welche, die noch viel schneller heraus­gehen, wenn ihnen ein Film nicht zusagt, als auch jene, die auch dann bis zum bittren Ende aushalten, weil sie »endlich mal einen Film ganz sehen« wollen.

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Jetzt schnell ins Kino, zu François Ozon, im Wett­be­werb. Später noch Fatih Akins Film, der hier auch hoch gehandelt wird, weil er sich offenbar im Markt sehr gut verkauft hat. Auch Lynn Ramseyys neuen Film, mit dem am Samstag der Wett­be­werb abge­schlossen wird, sei »ein Brett« höre ich aus infor­mierten Kreisen.

(to be continued)