01.06.2017
70. Filmfestspiele Cannes 2017

Interesse an der Welt statt am Weltbild: Ein Nachruf aus Cannes

Noah Baumbachs neuer Film 120 battements par minute
»Act-up, Paris!«: Ein leidenschaftlicher Film im Wettbewerb war Robin Campillons 120 battements par minute
(Foto: Memento Films)

Eine zynische Palme, aber Vielversprechendes aus den Nebenreihen. Es war nicht alles schlecht auf dem diesjährigen Festival von Cannes

Von Till Kadritzke

Schlimmer hätte dieser insgesamt enttäu­schende Cannes-Jahrgang für mich wirklich nicht ausgehen können als mit der Goldenen Palme für Ruben Östlund und seinen The Square, über den ich in meinem Zwischenruf von der Croisette bereits viele Worte verloren habe. Ich halte den Film für gefähr­lich darin, wie er Bloßstel­lungen links­li­be­raler Doppel­moral brain­stormt und dann in recht billigen Pointen auflöst, die weniger zum Nach­denken als zu popu­lis­ti­schen Affekten anregen. Ich will nicht ausschließen, dass mir da Dinge entgangen sind, dass der Film hinter­grün­diger ist, als er mir erschien, dass es da bei einer zweiten Sichtung Gedan­ken­gänge zu verfolgen gibt, die komplexer sind als der bloße Clash von Trans­gres­sion in der Kunst und poli­ti­scher Korrekt­heit. Große Lust auf eine zweite Sichtung habe ich aber allein schon aufgrund Östlunds filmi­schen Gestus nicht, seine Thesen in The Square als Wahr­heiten zu verkaufen. Der Schwede selbst nahm seine Goldene Palme am Sonntag auch nicht gerade bescheiden entgegen, sondern jubelte, als sei er gerade Welt­meister geworden.

Jury-Präsident Pedro Almódovar war wohl selbst kein Freund dieser Entschei­dung, das wurde auf der obli­ga­to­ri­schen Pres­se­kon­fe­renz nach der Verlei­hung klar. Nach dem Gewinner des Großen Preises der Jury, Robin Campillos 120 batte­ments par minute gefragt, stiegen ihm nicht nur die Tränen in die Augen, als er über die Wich­tig­keit dieses Films für die LGBT-Community sprach, sondern er betonte auch nochmal, dass die Jury eine demo­kra­ti­sche war und er selbst »nur das neunte Mitglied«. Ich habe das Wett­be­werbs-Screening verpasst und BPM erst kurz vor der Verlei­hung noch nach­ge­holt, wäre mit einer Palme für diesen Film, wie Almodóvar wohl auch, aber um einiges glück­li­cher.

Das hat vor allem damit zu tun, dass BPM zwar als Inbegriff des politisch rele­vanten Themen­films erscheint, der seine Welt klar in von ihm geliebte Helden und ihre Feinde einteilt, dabei aber wesent­lich vitaler, schlauer, besser ist als motivisch ähnlich angelegte Werke. Im Zentrum steht die Aids-Akti­vis­ten­gruppe »Act-up Paris«, die mit spek­ta­kulären Aktionen Politik und Phar­ma­in­dus­trie bekämpft und zugleich mit dem inneren Konflikten wie dem je einzelnen Kampf gegen die Krankheit zu kämpfen hat. Der schlei­chende Tod injiziert dem Akti­vismus seine Dring­lich­keit und seine Energie, dementspre­chend changiert Campillos Film zwischen einer stetig nach vorn preschenden Bewegung und einer zeit­gleich ablau­fenden, melan­cho­li­schen, aber niemals melo­dra­ma­ti­schen Verlang­sa­mung.

In einer frühen Szene, als die Gruppe gerade von einer Aktion nach Hause fährt, sehen wir einen der Prot­ago­nisten, Sean, wie er aus dem Fenster der Metro blickt, und dann schneidet Campillo in die Außen­sicht, nimmt Sean durch die Fens­ter­scheibe in den Blick, in der sich die Seine spiegelt, und Sean spricht wie als Voice-over aus einem völlig anderen Film davon, wie die Krankheit seine Sicht auf die Welt verändert hat und alles traurig macht und so weiter. Aber eben nur, bis er lachend abbricht, die Kamera wieder drinnen ist, ganz konkret bei den Figuren, und Sean sagt, dass sich gar nichts verändert hat, also weiter geht’s. Es ist diese Geste, die den ganzen Film durch­zieht: Niemals seine Figuren zu Opfern machen, niemals diese Figuren schon dadurch töten, dass man sie ausbeutet für philo­so­phie­rende Momente über Sterb­lich­keit, vielmehr immer über den (drohenden) Tod hinaus­denken. Dieje­nigen, die sterben, hören nicht auf, Teil der Gruppe zu sein, »Act-up« ist in diesem Film eine vital-mortale Allianz aus Kämpfern, die dem Lauf der Dinge ihren Stempel aufdrü­cken wollen, weil sie gar nicht anders können. Wenn der Film bewegend ist und zu Tränen rührt, dann nicht einfach, weil er von Aids handelt, von Unge­rech­tig­keit, vom Tod, sondern weil er, spätes­tens wenn die Gruppe mit dem Tod eines Prot­ago­nisten umgehen muss, konse­quent über den Tod im Modus des Lebens nachdenkt und über das Leben aus der Sicht des Todes reflek­tiert.

BPM ist einer der wenigen Höhe­punkte im Wett­be­werb, zu denen für mich auch noch Hong Sang-soos The Day After, Sofia Coppolas Don-Siegel-Remake The Beguiled, Lynne Ramsays You Were Never Really Here, Noah Baumbachs The Meye­ro­witz Stories und Todd Haynes' Wonder­s­truck gehören. Coppola und Ramsay, die beide selbst­be­wusste, aber ungleich uneitlere Filme gemacht haben als ihre männ­li­chen Kollegen im Welt­er­klä­rer­modus (vor allem Östlund und Zvyag­intsev, aber auch Yorgos Lanthimos und Sergei Loznitsa) wurden von der Jury glück­li­cher­weise mit Preisen bedacht: Coppola als zweite Frau in der Cannes-Geschichte für die beste Regie, Ramsay für ihr Drehbuch.

Aber genug vom Wett­be­werb, sah es doch in den Nebensek­tionen nochmal ganz anders aus. Die bieten in Cannes nun auch nicht immer ein verläss­li­ches Refugium, in diesem Jahr mitunter aber tatsäch­lich die inter­es­san­teren Filme.

Als Special Screening, also in der offi­zi­ellen Auswahl, aber nicht im Wett­be­werb, lief nicht nur ein bezau­bernder zweiter Film von Hong Sang-soo, der in Cannes selbst spielt und in dem Isabelle Huppert als Hobby-Foto­grafin in eine Affäre zwischen einem korea­ni­schen Regisseur und seiner jungen Mitar­bei­terin hinein­gerät, sondern auch die ersten beiden Folgen von »Twin Peaks«. Die Vorfüh­rung fand zwar erst mehrere Tage nach der TV-Premiere statt, aber nach dieser Vorfüh­rung ist es für mich kaum vorstellbar, David Lynchs Serien-Revival mit seinem garstigen Sound Design irgendwo anders als im Kino fort­zu­setzen. So war diese mitunter eher an einen Expe­ri­men­tal­film à la Eraser­head denn als Seri­en­auf­takt anmutende Erfahrung ein kleiner Ausflug in eine Paral­lel­welt jenseits von Cannes, auf der entspre­chenden Gala bekam »Twin Peaks« angeblich die längste Standing Ovation des Festivals.

Im »Un Certain Regard«, der größten Nebensek­tion von Cannes, liefen weitere Filme, die auch ohne Weiteres das Niveau des Wett­be­werbs nach oben gezogen hätten, wären sie dorthin einge­laden worden. Neben Laurent Cantets The Workshop, der das Verhältnis von Fiktion und Politik vor dem Hinter­grund rechts­po­pu­lis­ti­scher Strö­mungen vermisst, und dem voll­kommen klischee­be­freiten Coming-of-Age-Film Closeness des russi­schen Debü­tanten Kantemir Balagov, ist hier vor allem Valeska Grise­bachs Beitrag Western heraus­ge­sto­chen, eine ungemein faszi­nie­rende filmische Medi­ta­tion auf das genrigste aller Genres, und zugleich eine präzise und auch politisch dring­liche Bestands­auf­nahme aktueller deutscher Fremd­heits­dis­kurse. Es geht um eine Gruppe deutscher Bauar­beiter in Bulgarien, temporäre Wirt­schafts­flücht­linge quasi, ein Mikro­kosmos, kein Interesse für örtliche Kultur und Sprache, und ein als Spiel und Spaß getarnter sexueller Übergriff am Badesee gegenüber einer Dorf­be­woh­nerin. Klug bringt Grisebach all das nach Hause, was wir in Flücht­lings­de­batten so bereit­willig aufs Fremde proji­zieren und damit exter­na­li­sieren. Im Zentrum aber eben auch ein echter Western-Held, Meinhart, ein Wanderer zwischen den Welten, der sich weit vorwagt ins Fremde. Einer der besten Filme, und überhaupt nicht in einem Atemzug zu nennen mit dem anderen deutschen Beitrag der offi­zi­ellen Auswahl, Fatih Akins Neona­zi­ploita­tion Aus dem Nichts, der so viel weniger versteht von frem­den­feind­li­chen Struk­turen als Grise­bachs Film.

In der »Quinzaine des Réali­sa­teurs« dann tummelten sich promi­nente fran­zö­si­sche Namen wie Claire Denis, Philippe Garrel und Bruno Dumont. Denis hat Roland Barthes' »Fragmente einer Sprache der Liebe«, nunja, verfilmt, Dumont die Kindheit von Jeanne d’Arc in einem eigen­wil­ligen, faszi­nie­renden Rock-Musical verar­beitet, und Garrel eine Trilogie abge­schlossen. Nach La jalousie und Im Schatten der Frauen ist L’amant d’un jour der dritte 80-minütige Film, den der Altmeister in 21 Tagen auf Schwarz-weiß gedreht hat. Dieses Mal spielt nicht Sohn Louis, sondern Tochter Esther mit, die tatsäch­lich aussieht wie Louis in weiblich, so sehr gleichen sich die Gesichts­züge. L’amant d’un jour ist vor allem wegen seiner zwei Frau­en­fi­guren toll, die eine ist hier die Lieb­ha­berin eines Philo­so­phie­pro­fes­sors, die andere seine Tochter, und zwischen beiden entsteht eine als Freund­schaft getarnte Rivalität oder eine als Rivalität getarnte Freund­schaft, es ist auch egal, weil Garrel schlau genug ist, nicht genau zu wissen, was seine Figuren eigent­lich wollen.

In der »Semaine de la Critique« schließ­lich lief ein weiteres stilles Highlight des dies­jäh­rigen Festivals. Ava heißt der Film von Léa Mysius, der in seiner ersten Sequenz einen Hund über einen vollen Strand schickt, um eine Prot­ago­nistin auszu­wählen. Die Wahl fällt auf die 13-jährige Ava, die bald erfährt, dass sie ihr Augen­licht verlieren wird, und der Film entscheidet sich in diesem Moment konse­quent, diesen schlei­chenden Verlust niemals einfach nur zu betrauern oder um unsere Betrof­fen­heit zu werben. Das Sehen und Nicht-sehen wird vielmehr zum Vehikel für Humor und für das Begehren des Films, noch so viel wie möglich mitzu­nehmen. Der Film eskaliert also viel lieber, als groß zu trauern, Ava puber­tiert vor sich hin, trifft Jungs, ist vor allem faszi­niert vom feschen Anda­lu­sier Juan, der am Strand schläft, der von der Polizei gesucht wird, und mit dem sie irgend­wann abhaut. Das Coming of Age wird zum Couple on the Run, und Mysius scheut sich trotz des jungen Alters ihrer Prot­ago­nistin nicht vor Nacktheit und Sexua­lität. Ava ist ein Film, der sich klein und intim anfühlt, aber der eigent­lich genau das tut, was wir vom Kino erwarten dürfen: Uns die Welt nicht erklären, sondern erweitern, verlän­gern, vergrößern; nicht ihr eigenes Weltbild illus­trieren, sondern sich für das ihrer Figuren inter­es­sieren. Zu wenige Filme in Cannes haben das überhaupt versucht.