66. Filmfestspiele von Venedig 2009
Der Untergang des Abendlandes |
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Anita Linda (rechts) und Rustica Carpio in Lola | ||
(Foto: Brillante Mendoza) |
»Was für eine feige Jury!« – so Josef Schnelle vom Deutschlandfunk, »Ich finde es auch immer falsch, wenn Preise nach politischen Kriterien vergeben werden.« sagte Carlos Gerstenhauer von BR kinokino. Beide sprachen nur stellvertretend für viele die Enttäuschung ihrer Kollegen aus.
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Tja, mal wieder gab es Preise für Konsens und für Politik, nicht für Kunst. Immerhin aber war es zuvor ein gutes Festival gewesen, darum wollen wir hier auch nicht schimpfen, sondern nur erklären. Eigentlich gewinnt auf Festivals ja nie wirklich große Kinokunst. Preise wie der für Elephant 2003 in Cannes sind die absolute Ausnahme. Eigentlich gewinnt immer ein Film, der eine klare Geschichte hat, und dessen Geschichte sich in zwei Sätzen erzählen lässt. Ein Film, der grundsätzlich human ist, bis zur political correctness, vielleicht auch etwas sentimental, nicht zu schrecklich und boshaft und provozierend. Ein Film, der politisch brisant oder besser noch »bedeutend« ist.
Und irgendwie hatten wir es ja schon geahnt, dass es auf Lebanon hinauslaufen könnte. Trotzdem: Die Hoffnung lebt am längsten, und so hatten wir uns doch noch Hoffnungen auf interessantere Preise gemacht, zumal wir am Nachmittag noch Philipp vom Weltvertrieb Match Factory getroffen hatten, der uns im Vorübergehen sagte: »Wir hoffen auf das Beste und bereiten uns auf das Schlechtete vor.« Soul Kitchen war dann der erste Fall, Lola der zweite. Besser wär’s umgekehrt gewesen! Denn während Fatih Akins neuer Film ein gelungener Feelgood-Film ist, aber im Vergleich zu anderem, was wir gesehen hatten, kaum die ganz große Kinokunst, ist Brillante Mendoza neuer Film ganz großartig. Dazu gleich mehr.
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Zunächst aber zu den Preisen: Wenn Jurys sich nicht einigen können, flüchten sie sich in Politik und Unterhaltung. Die Filmkunst bleibt dann zumindest zum Teil auf der Strecke. Genau dieses Bild prägt die Entscheidungen von Venedig: Man tritt weder Samuel Maoz israelischen Wettbewerbsbeitrag Lebanon noch Shirin Nesats im Iran spielenden Women Without Men zu nahe, wenn man unterstellt, dass es vor allem die hier berührten brennenden politischen Themen – der Nahostkonflikt und die innere Unfreiheit im Gottesstaat Iran – waren, die die Preise für sie motivierten. Und Fatih Akin war, auch das ist deutlich erkennbar, für den Feel-Good-Part zuständig. Gegen alle drei Preise ist an sich wenig zu sagen, aber alle drei sind Kompromisse, oder juryinterne Deals – zu offenkundig fehlt dem Gesamtbild, wie auch den anderen Auszeichnungen am Ende des diesjährigen Wettbewerbs irgendeine innere Linie oder zwingende Gemeinsamkeit – im Gegenteil: Der engagierte, überhitzte, offen politische Traumata berührende Lebanon und der ruhige, distanziert erzählte, gewollt stilisierte magische Realismus von Women Without Men und schließlich die aus der Hüfte geschossene geniale Albernheit von Fatih Akins Crowdpleaser-Film haben aber auch so gar nichts miteinander gemeinsam. Mit den Preisen für die Italiener und Colin Firth, der zufällig gerade noch da war, rundete sich das Ganze zu einem Bild des reinen Populismus.
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Es geht in diesem Fall nicht um meinen Geschmack. Zugegeben: ich finde Lebanon einen furchtbaren blöden Film. Es geht aber trotzdem um das sachliche Argument, dass man, wenn man das eine mag, nicht das andere genauso mögen kann. Die Preise widersprechen sich total.
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Was an den Entscheidungen zudem zumindest verwundert und ärgert: Dass die besten Filme noch nicht mal Anstandsnebenpreise erhielten. Sondern gar nichts. Dass immer nur solche Filme prämiert wurden, die von Anfang an schon alles wissen. Keiner der Preisträger ist in irgendeiner Weise ein neugieriger Film. Alle sind auf der sicheren Seite, riskieren nichts. Keine Filme, die Fragen stellen. Bis auf Neshat gingen auch konsequent alle Filme leer aus, die in irgendeiner Weise filmisches Neuland betraten, künstlerisch kontrovers waren: Für Jessica Hausners Lourdes gab es immerhin noch den Preis der Kritikerjury, die drei ästhetisch atemberaubendsten, intellektuell herausfordernsten Wettbewerbs-Filme von Claire Denis, Brillante Mendoza und Vimukhti Jayasundara gingen völlig leer aus – das war dann am Ende doch etwas zu wenig Kunst. Oft genug war es umgekehrt, gerade in Venedig: Da war der Wettbewerb eher schwach, die besten Filme in den Nebenreihen, und plötzlich rettete am letzten Tag eine weise Jury mit klugen Entscheidungen das Festival. Diesmal war der Wettbewerb stark, das Publikum allgemein überaus glücklich mit dem Programm – nur die Juryentscheidungen am Ende regten viele auf.
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Nochmal kurz zu Lebanon. Ist der Film etwa wirklich besser, als Waltz With Bashir? Ist es nicht ungerecht, dass das, was vor einem guten Jahr in Cannes Ari Folmans Film versagt blieb, dem ästhetisch fraglos interessanteren und argumentativ besseren Film, nun Maoz gelingt?
Was am meisten ärgert: Das persönliche Kriegserlebnis des Regisseurs, dass in Lebanon, wie schon in Waltz With Bashir im Zentrum des Films steht, wird zum schlagenden Argument für die Glaubwürdigkeit des Gezeigten. Ohne den schützenden Rückgriff auf die eigene Erfahrung, wäre der Film viel angreifbarer.
Was ist, fragen wir uns und beispielweise die Kollegin der Neuen Zürcher das »Eindrückliche« an diesem Film? Dass er die ganze Zeit
im Panzer spielt? Ist das nicht einfach nur ein konsequenter, wenn auch eigentlich nicht origineller Einfall? Also: Ich hab’s einfach nicht verstanden.
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Philippinische Gerechtigkeit. Dagegen Lola von Brillante Mendoza. Manila, die Hauptstadt der Philippinen ist der Schauplatz. Es regnet permanent, ein starker Wind pfeift, und beides wird in diesem Film kaum je aufhören. Eine alte Frau geht mit einem kleinen Jungen durch die Stadt. Zuerst in eine Kirche. Dann, wieder draußen, versuchen sie eine Gedenkkerze anzuzünden. Im Wind und Regen ist das ein schweres Unterfangen. Jay-Jay, der kleine Junge, der den Schirm schützend gegen den Wind halten soll, stellt sich dabei nicht gerade geschickt an. Minutenlang dauert es, mit der Geduld eines Bresson präzise eingefangen von der Handkamera. Dieser Anfang schon zeigt die ganze Meisterschaft des Regisseurs Brillante Mendoza. Die Kamera zittert selbst leicht, macht dadurch die Anstrengung, die Nervosität, die in dem an sich banalen Vorgang liegt, spürbar, und baut beiläufig jene Atmosphäre auf, die den Film prägt. Menschen in Not, Menschen die schwach sind, Anstrengung, die in jeder der langsamen und umständlichen Bewegungen der alten Frau enthalten ist, genau wie die Energie die diese Alte mit ihren vermutlich über 80 Jahren noch hat. Nichts passiert, werden manche sagen, alles passiert, erkennt man, wenn man hinguckt.
An den Mauern sieht man Grafiti, die man nicht lesen lann, man hört den Lärm der Großstadt im Hintergrund, man sieht Regen, spürt die Feuchtigkeit, die Kälte des Windes. Natürlich liegt ein großer Reiz der Filme Brillante Mendozas, nicht der einzige und auch nicht der wichtigste, darin, dass man in ihnen sehen kann, wie es eigentlich aussieht auf den Philippinen, ahnen kann, wie es sich vermutlich anfühlt, hier zu leben. Man glaubt Manila zu riechen, zu schmecken, man glaubt selbst dort zu sein.
Weiter bewegen sich die Alte und der Kleine in real time, die reale Langsamkeit ist, durch die Stadt. Nur wenige Filmminuten sind vergangen, und wir sind ganz drin. Sie nehmen einen öffentlichen Kleinbus. Wir hören, was die Leute im Bus so reden. Eine Frau spricht am Cellphone über ein bevorstehendes Job-Interview. Der Wagen fährt weiter. Plötzlich eine schnelle Bewegung, kaum begreift man, was geschieht, die Frau schreit, ein Mann stürzt aus dem Wagen, zwei, drei andere hinterher, »my bag, my bag« – ein Taschendieb hat ihr Tasche und Mobiltelefon entrissen. Vor zwei Jahren hat Mendoza mit Tirador (seinerzeit im Berlinale-Forum) die Welt der Taschendiebe dargestellt, jetzt zeigt er die andere Seite. Dass hier immer alles passieren kann, darauf hat er die Zuschauer hiermit auch vorbereitet.
Die Kamera drängt mit aus dem Bus, streift im Vorübergehen, wie die Alte den Kleinen schützend festhält, geht auf den Taschendieb, zeigt, wie Passanten ihn zusammenschlagen. Spontane Selbstjustiz der Straße. Angst in seinem Blick, Wut in den Augen der anderen. Dann geht es weiter, wir bleiben an der Seite der alten Frau.
Die Bedeutung dieser überaus clever eingebauten Episode, die keineswegs so beiläufig ist, wie sie scheint, zeigt sich erst später. Im Rückblick entpuppt sich
alles als listige Reflexion von Gerechtigkeit, und als Verdoppelung des Ereignisses, das die Geschichte dieses Films überhaupt ausgelöst hat – wie wir aber erst gleich erfahren.
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The Philippines according to Grandma. Jetzt sind die Alte und der Kleine bei einem Sarghändler. Eine andere Frau, die die Enkelin der Alten ist, und die Mutter von Jay-Jay, ist hinzu gekommen. Der Sarghändler führt die verschiedenen Modelle vor: Die Preise nehmen ab, die Sargmodelle sehen sich zum Verwechseln ähnlich. 14.000 Pesos, 12.000, 10.000, »Beerdigung inbegriffen« sagt der Händler, »das ist zu teuer für uns« sagt die Enkelin, man landet bei 8.000 Pesos, 117 Euro.
Die Alte geht, von der Kamera verfolgt, in einen anderen Raum. Dort liegt eine Leiche. Wer ist gestorben? Jetzt erfahren wir’s: Ihr Enkel. Sie wischt sich eun paar Tränen vom Gesicht, holt ihren Urenkel ein, der auf die Straße gelaufen ist. Dann geht es zur Arbeitsstelle des Enkels, ein Sicherheitsunternehmen, »Condolences« sagt eine Frau, dann zur Polizei, immer noch im Regen, immer noch mit dem Urenkel an der Hand. Bei der Polizei erfährt man mehr über den Todesfall: »His Cellphone was snatched ... he was stabbed on the bridge...«, der Mörder sei bereits gefunden. Als die Alte das Gebäude verläßt, kreuzt sich ihr Weg mit dem einer anderen alten Frau. Jetzt folgt die Kamera ihr, und bald begreifen wir: Die zweite Alte ist die Großmutter des Mörders.
Lola, der Filmtitel heißt »Großmutter« auf Tagalong. Lola Sepa ist die Großmutter des Opfers, Lola Puring die des Täters. Jetzt hört der konsequente Realzeitansatz auf, obwohl Mendoza immer wieder zu ihm zurückkehrt, aber die Zeitsprünge werden größer. Man sieht die Familie, die Beerdigung wird geplant, Lola Sepa lehnt ein Trauerbuch ab – »we don’t need that, we don’t have enough visitors to sign that.« –, und es fällt einem ein, dass es eigentlich immer um Familien geht in Mendozas Filmen. Trotz des Mordes herrscht unter den Familienangehörigen keine Trauer, sondern eher eine gewisse Heiterkeit. Die Alte hat weitere Behördengänge zu erledigen, und der Film zeigt, wie Menschen hier als Spielmaterial hin und hergeschoben werden.
Es kommt zum ersten Gerichtshearing. Beide Großmütter begegnen sich, die Kamera zeigt, wie Lola Sepa verzweifelt eine Toilette sucht, nicht findet, und verzweifelt im Gang steht, während Urin an ihren Beinen herunterrinnt. Lola Puring, die ihrem Enkel helfen will erhält den Rat: »My advice is to settle it amicable«. Dieser Verzicht auf öffentliche Anklage im Fall einer Einigung der Familien ist in den Philippinen offenbar selbst bei Mord möglich, vermutlich, weil die Gefängnisse überfüllt sind, und die Regierung denkt, dass dann das Geld immerhin zu etwas gut ist, und dass der Täter der öffentlichen Kasse nicht zur Last fällt.
Im Folgenden parallelisiert der Film unter ständigen Perspektivwechseln die beiden Großmütter, beide aus der Armenschicht, sie haben mehr gemeinsam, als sie trennt. Das gilt besonders für den Alltag. Denn die alten Frauen werden nicht verklärt. Mendoza zeigt, wie Lola Puring ihre Kunden betrügt, wie auch hier wieder Korruption – DAS große Thema unter den Festivalfilmen – herrscht. Alle betrügen alle. Man versteht das auch. Denn Not kennt kein Gebot. So erklärt Lola Puring bei Verwandten, der Enkel sei im Hospital, sei durch Stichwunde verletzt. Sie will Geld erbetteln, bekommt aber nur Naturalien geschenkt: Zwei lebende Enten – eine herrliche Szene, diese Entenjagd mit den Händen in den Wiesen der Suburbs, kurze Idylle – Kartoffeln, Eier. Gegenüber der Familie geht es um Anstand, aber sobald man unter sich ist, geht es nur ums Geld. Noch am Bahnhof verkauft die Großmutter die Geschenke.
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Im Räderwerk. Lola zeigt so die Erosion der Family-Values, gerade dort, wo sie ein bisschen noch funktionieren. Etwa in der Gleichgültigkeit des Bruders des Angeklagten: »He deserved it«. Der hätte den Bruder nie aus dem Knast geholt. Zugleich zeigt der Film noch, dass zumindest die Macht des Matriarchats und der Alten in diesen Familien noch
funktioniert. Die alten Mütter entscheiden.
Am Ende, wie vorauszusehen, treffen sie sich, handeln einen Preis aus. Dabei reden die Alten über ihre Athritis. Man sollte wenig Kohl essen. Über Männer: »Men are really a pain in the neck«. 50.000 Pesos war das Leben des Enkels wert. Umgerechnet 731 Euro. Ganz schön viel Geld für beide Alte, aber das Geld ist dann gleich auch schon wieder weg.
Ein großartiger Film aus dem Dickicht von Manila. Lola zeigt das System, zeigt Gerechtigkeit in den Philippinen, zeigt die Menschen in diesem sozialen Räderwerk. Und darum herum zeigt er viele kleine feine genaue Beobachtungen. Wie das amerikanische Filmteam im Zug, das das Elend aufnimmt. Nimmt »Slo-Mo« sagt der Regisseur... Ein toller Film! Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte Lola einen der Hauptpreise erhalten.
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Nachtrag zu den lieben Redakteuren daheim, bzw ihren Verzicht, darauf, noch Redakteure zu sein, bzw. ihre neue Rolle als Sparkommissare, bzw. einfach die Moral der Filmkritik:
Der neue, für Kultur zuständige leitende Redakteur einer sich gern »Heimatzeitung« titulierenden, im Prinzip durchaus anständigen Regionalblattes, für das ich seit 2001 immer aus Venedig berichtet hatte, schrieb in diesem Jahr auf meine Fragemail, wie es denn aussähe, folgendes zurück:
»Lieber Herr Suchsland, Herzlichen Dank für Ihre Mail von gestern, die ich – wegen eines freien Tages – erst heute beantworte. Wir werden heuer über Venedig – wenn überhaupt – in sehr geringem Umfang berichten – auch aus Kostengründen. Dazu sind die Angebote der Agenturen völlig ausreichend. Zu den von Ihnen genannten Filmen berichten wir erst zum Kinostart in Deutschland. Sollten Sie tolle Interviewpartner haben, können Sie sich gerne nochmals melden. Mit besten Grüßen«
Soviel zur Aufgabe der Presse. Man versteht sich also zuallererst als Sparfuchs, und der journalistische Auftrag reduziert sich darauf, Agenturmeldungen aufs mittelgroße Blattformat zusammenzukürzen. Bei solchen Leuten ist es kein Wunder, dass die Regionalzeitungen immer weniger werden, und die Leser, die noch etwas jenseits der Agenturmeldungen lesen wollen, auf FAZ und SZ zurückgreifen. Und auch nicht schade drum.
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Was in Venedig immer wieder wundert, und die Wertschätzung für das Festival wieder einschränkt: Die Borniertheit, mit der hier auf einem Internationalen Festival dann doch nur die Weltsprache Italienisch gesprochen wird. Wir meinen nicht die Studenten, die an irgendeiner Tür stehen. Sondern die Pressekonferenzen.
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Erst schießen, dann fragen. Überhaupt sind die Pressekonferenzen in Thema für sich. Jacques Rivette ist einfach gleich wieder gegangen, als ihm die dritte Frage nicht passte. Michele Placido hat einen Kritiker wild beschimpft, weil der ihn fragte, wie es zusammenpasst, dass man einen Film macht, der 1968 verteidigen will, und ihn von Berlusconis Firma produzieren lässt. Der Ministerpräsident erzählt nicht nur gern: »Kommunisten fressen Kinder«, sondern auch ‘68 sei für alles Unglück verantwortlich, das Italien heimsucht. Placido beschimpfte den Fragesteller als Amerikaner, und brauchte zehn Minuten, um zu erkennen, dass der aus Spanien kam. Erst schießen, dann fragen. Es wäre durchaus sinnvoll, einen Kritikerpass einzuführen, der einem entzogen wird, wenn man doofe Fragen auf Pressekonferenzen stellt. Aber es sollte auch einen Regiepass geben, der weg ist, wenn man sich so verhält, wie Michele Placido.
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Berlusconi hatte ja auch schon den Eröffnungsfilm produziert. Einmal haben wir dann noch gelauscht: Der französische Kritikerpapst Michel Simon redete aus Anlass des Eröffnungsfilms über den »Degree of decadence in Italy« und lästerte über einen, der offenbar Venedig berät: »He recomended a film, that he produced«. Schließlich fiel das Wort von der »inflation in the market« woraufhin Simon den schönen Satz sagte: »There is also a thing which is artistic inflation.«
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Grüne Tage. Auf einer von ihnen erlebten wir dann die iranische Filmemacherin Hana Makhmalbaf. »Wir Iraner sind alle Geiseln des Regimes, Achmadinedschad hat das iranische Volk in Geiselhaft genommen!« – mit deutlichen Worten wandte sie sich gegen das Regime in ihrer Heimat. Auf der offiziellen Pressekonferenz des Filmfestivals von Venedig zur Premiere ihres Films Green Days, einem Dokudrama über die Wochen vor und nach den iranischen Präsidentschaftswahlen im Juni, sagte Makhmalbaf, erst 21 Jahre alt und jüngste Tochter des bekannten iranischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf: »Nach der Wahl hat sich unser Leben radikal verändert. Ich betrachte mich selbst als Geisel.« Ein Staatsstreich habe sich im Juni ereignet. Makhmalbaf spricht von den Herrschenden als von einem »faschistischen Regime«. Hitler sei besiegt worden, wie Diktatoren in der Geschichte immer früher oder später besiegt werden. »Uns wird es nicht anders gehen. Wir sind durch Gewehre gestoppt worden. Aber auf die Dauer kann man 70 Millionen nicht mit Gewehren stoppen.« Ihre Botschaft für die Menschen im Westen: »Sie alle im Westen, sollten nicht dem Irrtum erliegen, Achmadinedschad repräsentiere in irgendeiner Weise die Menschen im Iran.«
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Between Two Worlds heißt der einzige wirklich überraschende Film in Venedig. Er kommt aus Sri Lanka und stammt von dem unbekannten Regisseur Vimukthi Jayasundara. Auch er zeichnet das Panorama eines Weltuntergangs: Im Hintergrund der Reise eines jungen Mannes durch die Provinz scheinen am Horizont merkwürdige Ereignisse auf: In den Städten gibt es Unruhen und Plünderungen, das Fernsehen bricht zusammen – was den Menschen bleibt, sind archaische Riten und die Natur selbst. Und die ersten 15 Minuten gehörten zum Besten, was es überhaupt zu sehen gab.
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Das Allerbeste aber war mal wieder Claire Denis' Film: White Material. Der Schauplatz ist ein namenloser schwarzafrikanischer Staat. Isabelle Huppert spielt Maria, die Besitzerin einer Kaffeeplantage. Es gibt einen Aufstand im Land, mörderische Kindersoldaten-Banden der Rebellen ziehen durch den Busch, und drohen jeden Weißen zu massakrieren. Die Farm soll evakuiert werden, aber Maria will mit ihrer Familie nicht gehen. »Unsere Schwarzen«, glaubt sie,
werden uns doch nichts tun, die kenne ich doch seit Jahren.
Was folgt, ist die Chronik einer angekündigten Katastrophe: Denn mehr und mehr regiert das Chaos, fallen die festgefügten Strukturen des Lebens auseinander, brechen die Dämme der Zivilisation, bis auf der Farm zuerst Wahnsinn, dann Mord und Totschlag das Kommando übernehmen.
Irgendwie erinnert mich das im Kino alles an die Ostfront 1945. Vielleicht weil man sich die Huppert gut als ostpreußische Gutbesitzerin vorstellen kann, die den Laden zusammen hält, wenn die Russen kommen. Weil sie und ihre Figur auch irgendwie »preußische Tugenden« ausstrahlen.
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Denis Film ist nicht nur eine kluge Reflexion des Kolonialismus und der Verhältnisse zwischen Schwarz und Weiß, der beide Seiten nicht schön färbt. White Material ist auch und vor allem eine facettenreiche Bestandsaufnahme des Westens und seiner Werte. Die Bilanz fällt nicht gut aus, und die Zukunft erscheint düster. Auf der Kinoleinwand, auch das sollte man nicht vergessen, ist all das paradoxerweise wundervoll anzusehen: Genau, klar, von finsterer funkelnder Schönheit. Dieser Film ist ein schwarzer Diamant. Pracht und Schrecken vereinend.
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Munition verschießen I. Auf dem Empfang der Filmstiftung waren wir nicht gewesen, einfach weil wir keine Zeit hatten, und lieber den Film von Steven Soderbergh sehen wollten. Vielleicht hätten wir gehen sollen, denn alle, die da waren, lästerten anschließend über die Rede von Günter Rohrbach, dem Bald-Ex-Präsidenten der sogenannten »Deutschen Filmakademie«. Eine selbst schon in Rente gegangene Redakteurin fand die schöne Formulierung: »Er müsste eigentlich
Rohrstock heißen … klein, verkniffen, so was Unsinnliches, Film hat doch auch was mit Sinnlichkeit zu tun.« Anlass dieses Wutausbruchs war die wohl tendenziell peinliche, weil völlig ohne Empathie gehaltene Rede Rohrbachs für den auch bald scheidenden Filmstiftungschef Michael Schmidt-Ospach. Die hatte das unausgesprochene Leitmotiv, »wenn wir nicht mehr da sind, werdet ihr noch sehen, was ihr an uns hattet.« Der schönste Satz lautete: »Das Blut fließt wieder.« und meinte
die überstandene Herzoperation des Gastgebers. Was an Schmidt-Ospach selbst diejenigen schätzen, die nicht alles gut finden, was er tut, ist seine sympathische persönliche Art, seine Großzügigkeit und seine Offenheit. Genau die fehlt Rohrbach. Im Umgang mit Journalisten ist Schmidt-Ospach direkt. Er schimpft, ruft an, auch bei den Redakteuren, aber tut das nicht hinterrücks, an betroffenen Autoren vorbei. Was man nicht von jedem sagen kann.
Natürlich werden manche
einwenden, warum der Chef einer Filmförderung sich überhaupt bei und über Journalisten beschwert, die etwas geschrieben haben, was ihm nicht gefällt.
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Munition verschießen II. Zum Empfang gekommen waren – ohne Anlass eines Films in Venedig – Martina Gedeck, Johanna Wokalek, Senta Berger plus Mann, Sönke Wortmann. Sie repräsentierten das deutsche bzw. nordrhein-westfälische Kino in Venedig.
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Goldene Aale. Der Gran Premio Bisato D’Oro (in etwa: »Der goldene Aal«) dürfte der einzige Preis auf einem Filmfestival sein, der von einer Kneipe vergeben wird. Aber das Ecklokal Bar Maleti an der Gran Viale Santa Elisabetta auf dem Lido von Venedig, etwa zehn Fahrradminuten vom Festivalgelände entfernt, ist ein besonderer Ort. Da es hier weder Partys, noch so etwas wie ein Festivalzentrum gibt, hat sich das Maleti in den letzten Jahren vom Geheimtip des Lieblingslokals unseres Freundes und Kollegen Josef Schnelle zum Nachkino-Treffpunkt eines Großteils derjenigen, unter den »wichtigeren« Kollegen aus Europa gemausert, die nicht gern früh ins Bett gehen, und auch nach Ende des letzten Films so gegen 2 Uhr nachts nich ein Bier und ein Sandwich bekommen möchten. Vor allem Kritiker aus Spanien, Österreich, Osteuropa, Deutschland und natürlich Italien treffen sich hier, und reden, streiten, versöhnen sich Abend um Alabend über die Filme des Festivals.
Vor drei Jahren gründeten der Kritiker Ugo Brusaparco und Barbesitzer Claudio Maleti einen Preis, den Gran Premio Bisato D’Oro della critica independente, der seitdem so etwas wie der »Unabhängige Kritikerpreis« von Venedig ist. Als Trophäe gibt es immerhin einen goldgelben Aal aus Murano-Glas und gefeiert wird zur Preisvergabe mit reichlich Prosecco, Käse, Schinken – und natürlich Aal.
In diesem Jahr ging der Gran Premio Bisato D’Oro an die iranische Regisseurin Hana Makhmalbaf für ihren wunderbaren Film Green Days, sowie an den italienischen Darsteller Sergio Castellitto für seinen tatsächlich eindrucksvollen Auftritt in Jacques Rivettes ansonsten eher blassem 36 vues du Pic Saint Loup. Und an den Regisseur Stefano Knuchel für den eindrucksvollen Hugo en Afrique eine Meditation über den »Corto Maltrese«-Erfinder Hugo Pratt.
Alle Preisträger kamen zur Preisverlehung, drei Fernsehterams und zahlreiche Kritikerkollegen waren auch da – man mag sich einen Moment verwundert die Augen reiben, aber wenn man es richtig anstellt, kann eben auch aus einer Schnapsidee was Gutes werden. Und zumindest für Hana Makhmalbaf, die hier außer Konkurrenz auftritt, vom Festival in einem überraschend schäbigen Hotel einquaertiert wurde – man wundert sich manchmal, und kann nur hoffen, es waren wirklich keine Zimmer mehr frei – und nach Green Days nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren kann, mag diese ehrliche, verdiente Anerkennung Gold wert sein.
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Lourdes, immerhin, hat auch noch tolle Preise bekommen: Den Preis der Signis-Jury, der Kirchen. Letzterer war bei dem Thema wohl unvermeidlich. Und den Premio Brian benannt nach der Monty-Python-Figur, den Preis der Union der Agnostiker, Atheisten und Rationalisten. Hinzu kam noch der Preis der Internationalen Filmkritik FIPRESCI.
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Apocalypse Now bei den Wikingern. Es kann hier jederzeit alles passieren. Und das über einen Film sagen zu können, ist doch schon mal eine ganze Menge. Am Anfang von Valhalla Rising, wenn man noch gar nicht weiß, worauf dieser Film hinausläuft, ist da die totale Ungewißheit. Als erstes sieht man auf schwarzem Grund ein Insert: »In the beginning, there was only man and nature«. Im Laufe des Films dann fragt man sich irgendwann, ob dieser Film womöglich auch die Sehnsucht danach artikuliert? Die nach der Einfachheit oder nach dem Anfang? »Then men came bearing crosses and drove the heathen to the ends of the earth.«
Der Film ist in Kapitel unterteilt, es werden sechs werden, aber das weiß man zunächst noch nicht. Das erste heißt »Wrath«, »Zorn«. Die Welt ist Grau, Schwarz, ein wenig Grün, sie besteht vor allem aus Schlamm und Matsch. Eine Berglandschaft, in der es sich schwer leben läßt. Alles ist häßlich und dreckig. Hier begegnen wir einer schweigenden Männergesellschaft, die sich an brutalen Kämpfen von Gladiatoren-Sklaven amüsiert, Wetten auf den Ausgang abschließt. Ein Catchen auf Leben und Tod, fast wortlos, die Tonspur konzentriert sich ganz auf das Pfeifen des Windes, und auf das Schlagen und Krachen der Knochen aufeinander. Gelegentliche Splattereffekte. Auch an The Wrestler muss man kurz denken, der hier vor einem Jahr in Venedig gewann. Die Landschaft sorgt für einen Hauch von Highlander. Und der Film ist spürbar mit dieser Männerwelt einverstanden. Er beobachtet sie von Außen, aber mit Faszination und Sympathie. Es sind Verhältnisse, die wir, ereigneten sie sich in unserer Zeit, als faschistisch veranscheuen würden. Angesiedelt in historischen Frühzeiten blickt der Film aber, und wir mit ihm, freundlich, neugierig und voll undefinierter Ehrfurcht auf diese Zeit, als Männer noch Männer waren. John Milius läßt grüßen.
Die Catch-Kämpfer verbringen ihren Tag angekettet in Holzkäfigen. Der beste, erfolgreichste, also gefährlichste von ihnen wird von Mads Mikkelsen gespielt. Sein eines Auge ist tot und zugewachsen, so ähnlich wie das Auge von Kirk Douglas in Richard Fleischers The Viking. Ein kleiner Junge versorgt ihn.
Dann eines Tages, und man hat es geahnt, bricht er aus, nur drei Schläge mit der Axt sind nötig, und die Hilfe des Jungen. Zuvor hatte man noch die
Prophezeiung seines Herren gehört, der ihn wie ein Tier gehalten hatte: »Those driven by hate, will survive«.
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Im zweiten Kapitel, »Silent Warrior«, treffen die zwei, die schweigend durchs Hochland wandern, auf eine andere Gruppe. Von den »weißen Christen des Nordens« war einmal die Rede gewesen, um sie handelt es sich wohl. Und sie sprechen Englisch, bald haben wir verstanden, dass der Film im Norden der britischen Insel spielt. Die Christen reden vom Leiden und vom »neuen Jerusalem«, das sie erobern wollen. Ihr König sagt: »We are more than flesh and blood. You should consider your soul.« Der Kämpfer schweigt noch immer. Nichts kommt aus seinem Mund, und bis zum Ende dieses Films wird Mads Mikkelsen nicht ein Wort gesagt haben. Der blonde Junge spricht für »One Eye«, wie sie ihn jetzt nennen. Er ist seine Stimme, aber auch seine ausgelagerte soziale Seite. Die Nabelschnur, die diesen Einzelgänger noch mit seinen Mitmenschen verbindet.
Im dritten und vierten Teil – »Men of God« und »The Holy Land« segelt eine Gruppe von kaum einem Dutzend Krieger in Richtung auf das nicht näher definierte Land. Der Film zeigt so gesehen die Wahrheit über die Kreuzritter, die hier nur als Wahnsinn erscheinen kann. Die Überfahrt ist lang und schwer. Am Ende ist das heilige Land erreicht, eine ireale, fantastische Welt. Mehr und mehr verliert sich die Reise im Nichts. Es gibt Tote, zum Wahnsinn der Religion kommt noch anderes hinzu: Mord, Totschlag, Vergewaltigung untereinander, aber auch Morde von Außen, durch die Einheimischen, die sich als Indianer entpuppen. »Hell« und »The Sarifice« heißen die letzten zwei Kapitel, die die Auflösung der Verhältnisse, das Weltende vollenden.
Kollege Josef Schnelle sieht den Film als kulturhistorisches Dokument. Auf der Ebene interessiert er mich eher gar nicht. Aber als was? Er fühlt sich gut an, soviel ist sicher. Trotzdem kann man sich hier wahnsinnig langweilen. Man kann sagen, der Mann, One Eye, hat seinen Tod gesehen und gesucht. Man kann feststellen, dass hier der Regisseur jede Idee von Heroismus dekonstruiert, und dieses Unterfangen so weit treibt, dass es in Schlachten und Amok endet, vielleicht zu weit treibt. Man kann den Film psychodelisch nehmen, als »Apocalypse Now« bei den Wikingern. In jedem Fall ist dem Dänen Nicolas Winding Refn (Pusher-Trilogie) mit Valhalla Rising ein besonderer Film gelungen, den man nicht so schnell vergißt.
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Was auch Teil von Venedig ist: Der Securitywahn. Polizei sieht man hier dauernd, in 13 verschiedenen Uniformen, die alle aussehen, wie aus dem 19. Jahrhundert. Es gibt hier sogar eine Guardia di Finanzia. Man stelle sich vor: Unser Finanzamt hätte eine eigene Truppe mit Kanonenbooten und Maschinenpistolen.
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Genau: Schmetterling und Taucherglocke! Das war der Lourdes-Film, nachdem wir im letzten Tagebuch gefragt hatten. Am gleichen Abend hatten wir das in Venedig dann auch noch herausgefunden, per google nach den Begriffen »Lourdes + Cabrio«. Die Fülle der Antworten hat uns dann gezeigt, dass man solche Aufgaben öfter stellen sollte. Wir denken nach, versprochen. Jedenfalls aber haben mit Tobias Lehmann und Claus Schotten ausgerechnet zwei Münchner und ein artechock-Mitarbeiter, bzw. ein Ex-Autor die richtige Antwort gehabt. Was ja nur beweist, wieviel Kompetenz an diesem Ort versammelt ist.