17.09.2009
66. Filmfestspiele von Venedig 2009

Der Untergang des Abend­landes

Lola
Anita Linda (rechts) und Rustica Carpio in Lola
(Foto: Brillante Mendoza)

Reiner Populismus, philippinische Gerechtigkeit und der Weg nach Walhalla – Notizen aus Venedig, Teil 5

Von Rüdiger Suchsland

»Was für eine feige Jury!« – so Josef Schnelle vom Deutsch­land­funk, »Ich finde es auch immer falsch, wenn Preise nach poli­ti­schen Kriterien vergeben werden.« sagte Carlos Gers­ten­hauer von BR kinokino. Beide sprachen nur stell­ver­tre­tend für viele die Enttäu­schung ihrer Kollegen aus.

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Tja, mal wieder gab es Preise für Konsens und für Politik, nicht für Kunst. Immerhin aber war es zuvor ein gutes Festival gewesen, darum wollen wir hier auch nicht schimpfen, sondern nur erklären. Eigent­lich gewinnt auf Festivals ja nie wirklich große Kinokunst. Preise wie der für Elephant 2003 in Cannes sind die absolute Ausnahme. Eigent­lich gewinnt immer ein Film, der eine klare Geschichte hat, und dessen Geschichte sich in zwei Sätzen erzählen lässt. Ein Film, der grund­sätz­lich human ist, bis zur political correct­ness, viel­leicht auch etwas senti­mental, nicht zu schreck­lich und boshaft und provo­zie­rend. Ein Film, der politisch brisant oder besser noch »bedeutend« ist.

Und irgendwie hatten wir es ja schon geahnt, dass es auf Lebanon hinaus­laufen könnte. Trotzdem: Die Hoffnung lebt am längsten, und so hatten wir uns doch noch Hoff­nungen auf inter­es­san­tere Preise gemacht, zumal wir am Nach­mittag noch Philipp vom Welt­ver­trieb Match Factory getroffen hatten, der uns im Vorü­ber­gehen sagte: »Wir hoffen auf das Beste und bereiten uns auf das Schlech­tete vor.« Soul Kitchen war dann der erste Fall, Lola der zweite. Besser wär’s umgekehrt gewesen! Denn während Fatih Akins neuer Film ein gelun­gener Feelgood-Film ist, aber im Vergleich zu anderem, was wir gesehen hatten, kaum die ganz große Kinokunst, ist Brillante Mendoza neuer Film ganz großartig. Dazu gleich mehr.

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Zunächst aber zu den Preisen: Wenn Jurys sich nicht einigen können, flüchten sie sich in Politik und Unter­hal­tung. Die Filmkunst bleibt dann zumindest zum Teil auf der Strecke. Genau dieses Bild prägt die Entschei­dungen von Venedig: Man tritt weder Samuel Maoz israe­li­schen Wett­be­werbs­bei­trag Lebanon noch Shirin Nesats im Iran spie­lenden Women Without Men zu nahe, wenn man unter­stellt, dass es vor allem die hier berührten bren­nenden poli­ti­schen Themen – der Nahost­kon­flikt und die innere Unfrei­heit im Gottes­staat Iran – waren, die die Preise für sie moti­vierten. Und Fatih Akin war, auch das ist deutlich erkennbar, für den Feel-Good-Part zuständig. Gegen alle drei Preise ist an sich wenig zu sagen, aber alle drei sind Kompro­misse, oder jury­in­terne Deals – zu offen­kundig fehlt dem Gesamt­bild, wie auch den anderen Auszeich­nungen am Ende des dies­jäh­rigen Wett­be­werbs irgend­eine innere Linie oder zwingende Gemein­sam­keit – im Gegenteil: Der enga­gierte, über­hitzte, offen poli­ti­sche Traumata berüh­rende Lebanon und der ruhige, distan­ziert erzählte, gewollt stili­sierte magische Realismus von Women Without Men und schließ­lich die aus der Hüfte geschos­sene geniale Albern­heit von Fatih Akins Crowd­p­leaser-Film haben aber auch so gar nichts mitein­ander gemeinsam. Mit den Preisen für die Italiener und Colin Firth, der zufällig gerade noch da war, rundete sich das Ganze zu einem Bild des reinen Popu­lismus.

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Es geht in diesem Fall nicht um meinen Geschmack. Zugegeben: ich finde Lebanon einen furcht­baren blöden Film. Es geht aber trotzdem um das sachliche Argument, dass man, wenn man das eine mag, nicht das andere genauso mögen kann. Die Preise wider­spre­chen sich total.

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Was an den Entschei­dungen zudem zumindest verwun­dert und ärgert: Dass die besten Filme noch nicht mal Anstands­ne­ben­preise erhielten. Sondern gar nichts. Dass immer nur solche Filme prämiert wurden, die von Anfang an schon alles wissen. Keiner der Preis­träger ist in irgend­einer Weise ein neugie­riger Film. Alle sind auf der sicheren Seite, riskieren nichts. Keine Filme, die Fragen stellen. Bis auf Neshat gingen auch konse­quent alle Filme leer aus, die in irgend­einer Weise filmi­sches Neuland betraten, künst­le­risch kontro­vers waren: Für Jessica Hausners Lourdes gab es immerhin noch den Preis der Kriti­ker­jury, die drei ästhe­tisch atem­be­rau­bendsten, intel­lek­tuell heraus­for­dernsten Wett­be­werbs-Filme von Claire Denis, Brillante Mendoza und Vimukhti Jaya­sun­dara gingen völlig leer aus – das war dann am Ende doch etwas zu wenig Kunst. Oft genug war es umgekehrt, gerade in Venedig: Da war der Wett­be­werb eher schwach, die besten Filme in den Neben­reihen, und plötzlich rettete am letzten Tag eine weise Jury mit klugen Entschei­dungen das Festival. Diesmal war der Wett­be­werb stark, das Publikum allgemein überaus glücklich mit dem Programm – nur die Jury­ent­schei­dungen am Ende regten viele auf.

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Nochmal kurz zu Lebanon. Ist der Film etwa wirklich besser, als Waltz With Bashir? Ist es nicht ungerecht, dass das, was vor einem guten Jahr in Cannes Ari Folmans Film versagt blieb, dem ästhe­tisch fraglos inter­es­san­teren und argu­men­tativ besseren Film, nun Maoz gelingt?
Was am meisten ärgert: Das persön­liche Kriegs­er­lebnis des Regis­seurs, dass in Lebanon, wie schon in Waltz With Bashir im Zentrum des Films steht, wird zum schla­genden Argument für die Glaub­wür­dig­keit des Gezeigten. Ohne den schüt­zenden Rückgriff auf die eigene Erfahrung, wäre der Film viel angreif­barer.
Was ist, fragen wir uns und beispiel­weise die Kollegin der Neuen Zürcher das »Eindrück­liche« an diesem Film? Dass er die ganze Zeit im Panzer spielt? Ist das nicht einfach nur ein konse­quenter, wenn auch eigent­lich nicht origi­neller Einfall? Also: Ich hab’s einfach nicht verstanden.

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Phil­ip­pi­ni­sche Gerech­tig­keit. Dagegen Lola von Brillante Mendoza. Manila, die Haupt­stadt der Phil­ip­pinen ist der Schau­platz. Es regnet permanent, ein starker Wind pfeift, und beides wird in diesem Film kaum je aufhören. Eine alte Frau geht mit einem kleinen Jungen durch die Stadt. Zuerst in eine Kirche. Dann, wieder draußen, versuchen sie eine Gedenk­kerze anzu­zünden. Im Wind und Regen ist das ein schweres Unter­fangen. Jay-Jay, der kleine Junge, der den Schirm schützend gegen den Wind halten soll, stellt sich dabei nicht gerade geschickt an. Minu­ten­lang dauert es, mit der Geduld eines Bresson präzise einge­fangen von der Hand­ka­mera. Dieser Anfang schon zeigt die ganze Meis­ter­schaft des Regis­seurs Brillante Mendoza. Die Kamera zittert selbst leicht, macht dadurch die Anstren­gung, die Nervo­sität, die in dem an sich banalen Vorgang liegt, spürbar, und baut beiläufig jene Atmo­sphäre auf, die den Film prägt. Menschen in Not, Menschen die schwach sind, Anstren­gung, die in jeder der langsamen und umständ­li­chen Bewe­gungen der alten Frau enthalten ist, genau wie die Energie die diese Alte mit ihren vermut­lich über 80 Jahren noch hat. Nichts passiert, werden manche sagen, alles passiert, erkennt man, wenn man hinguckt.

An den Mauern sieht man Grafiti, die man nicht lesen lann, man hört den Lärm der Großstadt im Hinter­grund, man sieht Regen, spürt die Feuch­tig­keit, die Kälte des Windes. Natürlich liegt ein großer Reiz der Filme Brillante Mendozas, nicht der einzige und auch nicht der wich­tigste, darin, dass man in ihnen sehen kann, wie es eigent­lich aussieht auf den Phil­ip­pinen, ahnen kann, wie es sich vermut­lich anfühlt, hier zu leben. Man glaubt Manila zu riechen, zu schmecken, man glaubt selbst dort zu sein.

Weiter bewegen sich die Alte und der Kleine in real time, die reale Lang­sam­keit ist, durch die Stadt. Nur wenige Film­mi­nuten sind vergangen, und wir sind ganz drin. Sie nehmen einen öffent­li­chen Kleinbus. Wir hören, was die Leute im Bus so reden. Eine Frau spricht am Cellphone über ein bevor­ste­hendes Job-Interview. Der Wagen fährt weiter. Plötzlich eine schnelle Bewegung, kaum begreift man, was geschieht, die Frau schreit, ein Mann stürzt aus dem Wagen, zwei, drei andere hinterher, »my bag, my bag« – ein Taschen­dieb hat ihr Tasche und Mobil­te­lefon entrissen. Vor zwei Jahren hat Mendoza mit Tirador (seiner­zeit im Berlinale-Forum) die Welt der Taschen­diebe darge­stellt, jetzt zeigt er die andere Seite. Dass hier immer alles passieren kann, darauf hat er die Zuschauer hiermit auch vorbe­reitet.

Die Kamera drängt mit aus dem Bus, streift im Vorü­ber­gehen, wie die Alte den Kleinen schützend festhält, geht auf den Taschen­dieb, zeigt, wie Passanten ihn zusam­men­schlagen. Spontane Selbst­justiz der Straße. Angst in seinem Blick, Wut in den Augen der anderen. Dann geht es weiter, wir bleiben an der Seite der alten Frau.
Die Bedeutung dieser überaus clever einge­bauten Episode, die keines­wegs so beiläufig ist, wie sie scheint, zeigt sich erst später. Im Rückblick entpuppt sich alles als listige Reflexion von Gerech­tig­keit, und als Verdop­pe­lung des Ereig­nisses, das die Geschichte dieses Films überhaupt ausgelöst hat – wie wir aber erst gleich erfahren.

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The Phil­ip­pines according to Grandma. Jetzt sind die Alte und der Kleine bei einem Sarg­händler. Eine andere Frau, die die Enkelin der Alten ist, und die Mutter von Jay-Jay, ist hinzu gekommen. Der Sarg­händler führt die verschie­denen Modelle vor: Die Preise nehmen ab, die Sarg­mo­delle sehen sich zum Verwech­seln ähnlich. 14.000 Pesos, 12.000, 10.000, »Beer­di­gung inbe­griffen« sagt der Händler, »das ist zu teuer für uns« sagt die Enkelin, man landet bei 8.000 Pesos, 117 Euro.

Die Alte geht, von der Kamera verfolgt, in einen anderen Raum. Dort liegt eine Leiche. Wer ist gestorben? Jetzt erfahren wir’s: Ihr Enkel. Sie wischt sich eun paar Tränen vom Gesicht, holt ihren Urenkel ein, der auf die Straße gelaufen ist. Dann geht es zur Arbeits­stelle des Enkels, ein Sicher­heits­un­ter­nehmen, »Condo­lences« sagt eine Frau, dann zur Polizei, immer noch im Regen, immer noch mit dem Urenkel an der Hand. Bei der Polizei erfährt man mehr über den Todesfall: »His Cellphone was snatched ... he was stabbed on the bridge...«, der Mörder sei bereits gefunden. Als die Alte das Gebäude verläßt, kreuzt sich ihr Weg mit dem einer anderen alten Frau. Jetzt folgt die Kamera ihr, und bald begreifen wir: Die zweite Alte ist die Groß­mutter des Mörders.

Lola, der Filmtitel heißt »Groß­mutter« auf Tagalong. Lola Sepa ist die Groß­mutter des Opfers, Lola Puring die des Täters. Jetzt hört der konse­quente Real­zeit­an­satz auf, obwohl Mendoza immer wieder zu ihm zurück­kehrt, aber die Zeitsprünge werden größer. Man sieht die Familie, die Beer­di­gung wird geplant, Lola Sepa lehnt ein Trau­er­buch ab – »we don’t need that, we don’t have enough visitors to sign that.« –, und es fällt einem ein, dass es eigent­lich immer um Familien geht in Mendozas Filmen. Trotz des Mordes herrscht unter den Fami­li­en­an­gehö­rigen keine Trauer, sondern eher eine gewisse Heiter­keit. Die Alte hat weitere Behör­den­gänge zu erledigen, und der Film zeigt, wie Menschen hier als Spiel­ma­te­rial hin und herge­schoben werden.

Es kommt zum ersten Gerichts­hea­ring. Beide Großmütter begegnen sich, die Kamera zeigt, wie Lola Sepa verzwei­felt eine Toilette sucht, nicht findet, und verzwei­felt im Gang steht, während Urin an ihren Beinen herun­ter­rinnt. Lola Puring, die ihrem Enkel helfen will erhält den Rat: »My advice is to settle it amicable«. Dieser Verzicht auf öffent­liche Anklage im Fall einer Einigung der Familien ist in den Phil­ip­pinen offenbar selbst bei Mord möglich, vermut­lich, weil die Gefäng­nisse überfüllt sind, und die Regierung denkt, dass dann das Geld immerhin zu etwas gut ist, und dass der Täter der öffent­li­chen Kasse nicht zur Last fällt.

Im Folgenden paral­le­li­siert der Film unter ständigen Perspek­tiv­wech­seln die beiden Großmütter, beide aus der Armen­schicht, sie haben mehr gemeinsam, als sie trennt. Das gilt besonders für den Alltag. Denn die alten Frauen werden nicht verklärt. Mendoza zeigt, wie Lola Puring ihre Kunden betrügt, wie auch hier wieder Korrup­tion – DAS große Thema unter den Festi­val­filmen – herrscht. Alle betrügen alle. Man versteht das auch. Denn Not kennt kein Gebot. So erklärt Lola Puring bei Verwandten, der Enkel sei im Hospital, sei durch Stich­wunde verletzt. Sie will Geld erbetteln, bekommt aber nur Natu­ra­lien geschenkt: Zwei lebende Enten – eine herrliche Szene, diese Entenjagd mit den Händen in den Wiesen der Suburbs, kurze Idylle – Kartof­feln, Eier. Gegenüber der Familie geht es um Anstand, aber sobald man unter sich ist, geht es nur ums Geld. Noch am Bahnhof verkauft die Groß­mutter die Geschenke.

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Im Räderwerk. Lola zeigt so die Erosion der Family-Values, gerade dort, wo sie ein bisschen noch funk­tio­nieren. Etwa in der Gleich­gül­tig­keit des Bruders des Ange­klagten: »He deserved it«. Der hätte den Bruder nie aus dem Knast geholt. Zugleich zeigt der Film noch, dass zumindest die Macht des Matri­ar­chats und der Alten in diesen Familien noch funk­tio­niert. Die alten Mütter entscheiden.
Am Ende, wie voraus­zu­sehen, treffen sie sich, handeln einen Preis aus. Dabei reden die Alten über ihre Athritis. Man sollte wenig Kohl essen. Über Männer: »Men are really a pain in the neck«. 50.000 Pesos war das Leben des Enkels wert. Umge­rechnet 731 Euro. Ganz schön viel Geld für beide Alte, aber das Geld ist dann gleich auch schon wieder weg.

Ein groß­ar­tiger Film aus dem Dickicht von Manila. Lola zeigt das System, zeigt Gerech­tig­keit in den Phil­ip­pinen, zeigt die Menschen in diesem sozialen Räderwerk. Und darum herum zeigt er viele kleine feine genaue Beob­ach­tungen. Wie das ameri­ka­ni­sche Filmteam im Zug, das das Elend aufnimmt. Nimmt »Slo-Mo« sagt der Regisseur... Ein toller Film! Wenn es mit rechten Dingen zuge­gangen wäre, hätte Lola einen der Haupt­preise erhalten.

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Nachtrag zu den lieben Redak­teuren daheim, bzw ihren Verzicht, darauf, noch Redak­teure zu sein, bzw. ihre neue Rolle als Spar­kom­mis­sare, bzw. einfach die Moral der Film­kritik:
Der neue, für Kultur zustän­dige leitende Redakteur einer sich gern »Heimat­zei­tung« titu­lie­renden, im Prinzip durchaus anstän­digen Regio­nal­blattes, für das ich seit 2001 immer aus Venedig berichtet hatte, schrieb in diesem Jahr auf meine Fragemail, wie es denn aussähe, folgendes zurück:

»Lieber Herr Suchsland, Herz­li­chen Dank für Ihre Mail von gestern, die ich – wegen eines freien Tages – erst heute beant­worte. Wir werden heuer über Venedig – wenn überhaupt – in sehr geringem Umfang berichten – auch aus Kosten­gründen. Dazu sind die Angebote der Agenturen völlig ausrei­chend. Zu den von Ihnen genannten Filmen berichten wir erst zum Kinostart in Deutsch­land. Sollten Sie tolle Inter­view­partner haben, können Sie sich gerne nochmals melden. Mit besten Grüßen«

Soviel zur Aufgabe der Presse. Man versteht sich also zual­ler­erst als Sparfuchs, und der jour­na­lis­ti­sche Auftrag reduziert sich darauf, Agen­tur­mel­dungen aufs mittel­große Blatt­format zusam­men­zu­kürzen. Bei solchen Leuten ist es kein Wunder, dass die Regio­nal­zei­tungen immer weniger werden, und die Leser, die noch etwas jenseits der Agen­tur­mel­dungen lesen wollen, auf FAZ und SZ zurück­greifen. Und auch nicht schade drum.

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Was in Venedig immer wieder wundert, und die Wert­schät­zung für das Festival wieder einschränkt: Die Borniert­heit, mit der hier auf einem Inter­na­tio­nalen Festival dann doch nur die Welt­sprache Italie­nisch gespro­chen wird. Wir meinen nicht die Studenten, die an irgend­einer Tür stehen. Sondern die Pres­se­kon­fe­renzen.

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Erst schießen, dann fragen. Überhaupt sind die Pres­se­kon­fe­renzen in Thema für sich. Jacques Rivette ist einfach gleich wieder gegangen, als ihm die dritte Frage nicht passte. Michele Placido hat einen Kritiker wild beschimpft, weil der ihn fragte, wie es zusam­men­passt, dass man einen Film macht, der 1968 vertei­digen will, und ihn von Berlus­conis Firma produ­zieren lässt. Der Minis­ter­prä­si­dent erzählt nicht nur gern: »Kommu­nisten fressen Kinder«, sondern auch ‘68 sei für alles Unglück verant­wort­lich, das Italien heimsucht. Placido beschimpfte den Frage­steller als Ameri­kaner, und brauchte zehn Minuten, um zu erkennen, dass der aus Spanien kam. Erst schießen, dann fragen. Es wäre durchaus sinnvoll, einen Kriti­ker­pass einzu­führen, der einem entzogen wird, wenn man doofe Fragen auf Pres­se­kon­fe­renzen stellt. Aber es sollte auch einen Regiepass geben, der weg ist, wenn man sich so verhält, wie Michele Placido.

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Berlus­coni hatte ja auch schon den Eröff­nungs­film produ­ziert. Einmal haben wir dann noch gelauscht: Der fran­zö­si­sche Kriti­ker­papst Michel Simon redete aus Anlass des Eröff­nungs­films über den »Degree of decadence in Italy« und lästerte über einen, der offenbar Venedig berät: »He reco­mended a film, that he produced«. Schließ­lich fiel das Wort von der »inflation in the market« woraufhin Simon den schönen Satz sagte: »There is also a thing which is artistic inflation.«

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Grüne Tage. Auf einer von ihnen erlebten wir dann die iranische Filme­ma­cherin Hana Makhmalbaf. »Wir Iraner sind alle Geiseln des Regimes, Achma­di­ned­schad hat das iranische Volk in Geisel­haft genommen!« – mit deut­li­chen Worten wandte sie sich gegen das Regime in ihrer Heimat. Auf der offi­zi­ellen Pres­se­kon­fe­renz des Film­fes­ti­vals von Venedig zur Premiere ihres Films Green Days, einem Dokudrama über die Wochen vor und nach den irani­schen Präsi­dent­schafts­wahlen im Juni, sagte Makhmalbaf, erst 21 Jahre alt und jüngste Tochter des bekannten irani­schen Regis­seurs Mohsen Makhmalbaf: »Nach der Wahl hat sich unser Leben radikal verändert. Ich betrachte mich selbst als Geisel.« Ein Staats­streich habe sich im Juni ereignet. Makhmalbaf spricht von den Herr­schenden als von einem »faschis­ti­schen Regime«. Hitler sei besiegt worden, wie Dikta­toren in der Geschichte immer früher oder später besiegt werden. »Uns wird es nicht anders gehen. Wir sind durch Gewehre gestoppt worden. Aber auf die Dauer kann man 70 Millionen nicht mit Gewehren stoppen.« Ihre Botschaft für die Menschen im Westen: »Sie alle im Westen, sollten nicht dem Irrtum erliegen, Achma­di­ned­schad reprä­sen­tiere in irgend­einer Weise die Menschen im Iran.«

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Between Two Worlds heißt der einzige wirklich über­ra­schende Film in Venedig. Er kommt aus Sri Lanka und stammt von dem unbe­kannten Regisseur Vimukthi Jaya­sun­dara. Auch er zeichnet das Panorama eines Welt­un­ter­gangs: Im Hinter­grund der Reise eines jungen Mannes durch die Provinz scheinen am Horizont merk­wür­dige Ereig­nisse auf: In den Städten gibt es Unruhen und Plün­de­rungen, das Fernsehen bricht zusammen – was den Menschen bleibt, sind archai­sche Riten und die Natur selbst. Und die ersten 15 Minuten gehörten zum Besten, was es überhaupt zu sehen gab.

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Das Aller­beste aber war mal wieder Claire Denis' Film: White Material. Der Schau­platz ist ein namen­loser schwarz­afri­ka­ni­scher Staat. Isabelle Huppert spielt Maria, die Besit­zerin einer Kaffee­plan­tage. Es gibt einen Aufstand im Land, mörde­ri­sche Kinder­sol­daten-Banden der Rebellen ziehen durch den Busch, und drohen jeden Weißen zu massa­krieren. Die Farm soll evakuiert werden, aber Maria will mit ihrer Familie nicht gehen. »Unsere Schwarzen«, glaubt sie, werden uns doch nichts tun, die kenne ich doch seit Jahren.
Was folgt, ist die Chronik einer angekün­digten Kata­strophe: Denn mehr und mehr regiert das Chaos, fallen die fest­ge­fügten Struk­turen des Lebens ausein­ander, brechen die Dämme der Zivi­li­sa­tion, bis auf der Farm zuerst Wahnsinn, dann Mord und Totschlag das Kommando über­nehmen.

Irgendwie erinnert mich das im Kino alles an die Ostfront 1945. Viel­leicht weil man sich die Huppert gut als ostpreußi­sche Gutbe­sit­zerin vorstellen kann, die den Laden zusammen hält, wenn die Russen kommen. Weil sie und ihre Figur auch irgendwie »preußi­sche Tugenden« ausstrahlen.

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Denis Film ist nicht nur eine kluge Reflexion des Kolo­nia­lismus und der Verhält­nisse zwischen Schwarz und Weiß, der beide Seiten nicht schön färbt. White Material ist auch und vor allem eine facet­ten­reiche Bestands­auf­nahme des Westens und seiner Werte. Die Bilanz fällt nicht gut aus, und die Zukunft erscheint düster. Auf der Kino­lein­wand, auch das sollte man nicht vergessen, ist all das para­do­xer­weise wunder­voll anzusehen: Genau, klar, von finsterer funkelnder Schönheit. Dieser Film ist ein schwarzer Diamant. Pracht und Schrecken vereinend.

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Munition verschießen I. Auf dem Empfang der Film­stif­tung waren wir nicht gewesen, einfach weil wir keine Zeit hatten, und lieber den Film von Steven Soder­bergh sehen wollten. Viel­leicht hätten wir gehen sollen, denn alle, die da waren, lästerten anschließend über die Rede von Günter Rohrbach, dem Bald-Ex-Präsi­denten der soge­nannten »Deutschen Film­aka­demie«. Eine selbst schon in Rente gegangene Redak­teurin fand die schöne Formu­lie­rung: »Er müsste eigent­lich Rohrstock heißen … klein, verkniffen, so was Unsinn­li­ches, Film hat doch auch was mit Sinn­lich­keit zu tun.« Anlass dieses Wutaus­bruchs war die wohl tenden­ziell peinliche, weil völlig ohne Empathie gehaltene Rede Rohrbachs für den auch bald schei­denden Film­stif­tungs­chef Michael Schmidt-Ospach. Die hatte das unaus­ge­spro­chene Leitmotiv, »wenn wir nicht mehr da sind, werdet ihr noch sehen, was ihr an uns hattet.« Der schönste Satz lautete: »Das Blut fließt wieder.« und meinte die über­stan­dene Herz­ope­ra­tion des Gast­ge­bers. Was an Schmidt-Ospach selbst dieje­nigen schätzen, die nicht alles gut finden, was er tut, ist seine sympa­thi­sche persön­liche Art, seine Groß­zü­gig­keit und seine Offenheit. Genau die fehlt Rohrbach. Im Umgang mit Jour­na­listen ist Schmidt-Ospach direkt. Er schimpft, ruft an, auch bei den Redak­teuren, aber tut das nicht hinter­rücks, an betrof­fenen Autoren vorbei. Was man nicht von jedem sagen kann.
Natürlich werden manche einwenden, warum der Chef einer Film­för­de­rung sich überhaupt bei und über Jour­na­listen beschwert, die etwas geschrieben haben, was ihm nicht gefällt.

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Munition verschießen II. Zum Empfang gekommen waren – ohne Anlass eines Films in Venedig – Martina Gedeck, Johanna Wokalek, Senta Berger plus Mann, Sönke Wortmann. Sie reprä­sen­tierten das deutsche bzw. nordrhein-west­fä­li­sche Kino in Venedig.

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Goldene Aale. Der Gran Premio Bisato D’Oro (in etwa: »Der goldene Aal«) dürfte der einzige Preis auf einem Film­fes­tival sein, der von einer Kneipe vergeben wird. Aber das Ecklokal Bar Maleti an der Gran Viale Santa Elisa­betta auf dem Lido von Venedig, etwa zehn Fahr­rad­mi­nuten vom Festi­val­gelände entfernt, ist ein beson­derer Ort. Da es hier weder Partys, noch so etwas wie ein Festi­val­zen­trum gibt, hat sich das Maleti in den letzten Jahren vom Geheimtip des Lieb­lings­lo­kals unseres Freundes und Kollegen Josef Schnelle zum Nachkino-Treff­punkt eines Großteils derje­nigen, unter den »wich­ti­geren« Kollegen aus Europa gemausert, die nicht gern früh ins Bett gehen, und auch nach Ende des letzten Films so gegen 2 Uhr nachts nich ein Bier und ein Sandwich bekommen möchten. Vor allem Kritiker aus Spanien, Öster­reich, Osteuropa, Deutsch­land und natürlich Italien treffen sich hier, und reden, streiten, versöhnen sich Abend um Alabend über die Filme des Festivals.

Vor drei Jahren gründeten der Kritiker Ugo Brus­a­parco und Barbe­sitzer Claudio Maleti einen Preis, den Gran Premio Bisato D’Oro della critica inde­pen­dente, der seitdem so etwas wie der »Unab­hän­gige Kriti­ker­preis« von Venedig ist. Als Trophäe gibt es immerhin einen gold­gelben Aal aus Murano-Glas und gefeiert wird zur Preis­ver­gabe mit reichlich Prosecco, Käse, Schinken – und natürlich Aal.

In diesem Jahr ging der Gran Premio Bisato D’Oro an die iranische Regis­seurin Hana Makhmalbaf für ihren wunder­baren Film Green Days, sowie an den italie­ni­schen Darsteller Sergio Castel­litto für seinen tatsäch­lich eindrucks­vollen Auftritt in Jacques Rivettes ansonsten eher blassem 36 vues du Pic Saint Loup. Und an den Regisseur Stefano Knuchel für den eindrucks­vollen Hugo en Afrique eine Medi­ta­tion über den »Corto Maltrese«-Erfinder Hugo Pratt.

Alle Preis­träger kamen zur Preis­ver­le­hung, drei Fern­seh­terams und zahl­reiche Kriti­ker­kol­legen waren auch da – man mag sich einen Moment verwun­dert die Augen reiben, aber wenn man es richtig anstellt, kann eben auch aus einer Schnaps­idee was Gutes werden. Und zumindest für Hana Makhmalbaf, die hier außer Konkur­renz auftritt, vom Festival in einem über­ra­schend schäbigen Hotel einquaer­tiert wurde – man wundert sich manchmal, und kann nur hoffen, es waren wirklich keine Zimmer mehr frei – und nach Green Days nicht mehr in ihre Heimat zurück­kehren kann, mag diese ehrliche, verdiente Aner­ken­nung Gold wert sein.

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Lourdes, immerhin, hat auch noch tolle Preise bekommen: Den Preis der Signis-Jury, der Kirchen. Letzterer war bei dem Thema wohl unver­meid­lich. Und den Premio Brian benannt nach der Monty-Python-Figur, den Preis der Union der Agnos­tiker, Atheisten und Ratio­na­listen. Hinzu kam noch der Preis der Inter­na­tio­nalen Film­kritik FIPRESCI.

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Apoca­lypse Now bei den Wikingern. Es kann hier jederzeit alles passieren. Und das über einen Film sagen zu können, ist doch schon mal eine ganze Menge. Am Anfang von Valhalla Rising, wenn man noch gar nicht weiß, worauf dieser Film hinaus­läuft, ist da die totale Unge­wißheit. Als erstes sieht man auf schwarzem Grund ein Insert: »In the beginning, there was only man and nature«. Im Laufe des Films dann fragt man sich irgend­wann, ob dieser Film womöglich auch die Sehnsucht danach arti­ku­liert? Die nach der Einfach­heit oder nach dem Anfang? »Then men came bearing crosses and drove the heathen to the ends of the earth.«

Der Film ist in Kapitel unter­teilt, es werden sechs werden, aber das weiß man zunächst noch nicht. Das erste heißt »Wrath«, »Zorn«. Die Welt ist Grau, Schwarz, ein wenig Grün, sie besteht vor allem aus Schlamm und Matsch. Eine Berg­land­schaft, in der es sich schwer leben läßt. Alles ist häßlich und dreckig. Hier begegnen wir einer schwei­genden Männer­ge­sell­schaft, die sich an brutalen Kämpfen von Gladia­toren-Sklaven amüsiert, Wetten auf den Ausgang abschließt. Ein Catchen auf Leben und Tod, fast wortlos, die Tonspur konzen­triert sich ganz auf das Pfeifen des Windes, und auf das Schlagen und Krachen der Knochen aufein­ander. Gele­gent­liche Splat­ter­ef­fekte. Auch an The Wrestler muss man kurz denken, der hier vor einem Jahr in Venedig gewann. Die Land­schaft sorgt für einen Hauch von High­lander. Und der Film ist spürbar mit dieser Männer­welt einver­standen. Er beob­achtet sie von Außen, aber mit Faszi­na­tion und Sympathie. Es sind Verhält­nisse, die wir, ereig­neten sie sich in unserer Zeit, als faschis­tisch veran­scheuen würden. Ange­sie­delt in histo­ri­schen Früh­zeiten blickt der Film aber, und wir mit ihm, freund­lich, neugierig und voll unde­fi­nierter Ehrfurcht auf diese Zeit, als Männer noch Männer waren. John Milius läßt grüßen.

Die Catch-Kämpfer verbringen ihren Tag ange­kettet in Holz­kä­figen. Der beste, erfolg­reichste, also gefähr­lichste von ihnen wird von Mads Mikkelsen gespielt. Sein eines Auge ist tot und zuge­wachsen, so ähnlich wie das Auge von Kirk Douglas in Richard Flei­schers The Viking. Ein kleiner Junge versorgt ihn.
Dann eines Tages, und man hat es geahnt, bricht er aus, nur drei Schläge mit der Axt sind nötig, und die Hilfe des Jungen. Zuvor hatte man noch die Prophe­zeiung seines Herren gehört, der ihn wie ein Tier gehalten hatte: »Those driven by hate, will survive«.

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Im zweiten Kapitel, »Silent Warrior«, treffen die zwei, die schwei­gend durchs Hochland wandern, auf eine andere Gruppe. Von den »weißen Christen des Nordens« war einmal die Rede gewesen, um sie handelt es sich wohl. Und sie sprechen Englisch, bald haben wir verstanden, dass der Film im Norden der briti­schen Insel spielt. Die Christen reden vom Leiden und vom »neuen Jerusalem«, das sie erobern wollen. Ihr König sagt: »We are more than flesh and blood. You should consider your soul.« Der Kämpfer schweigt noch immer. Nichts kommt aus seinem Mund, und bis zum Ende dieses Films wird Mads Mikkelsen nicht ein Wort gesagt haben. Der blonde Junge spricht für »One Eye«, wie sie ihn jetzt nennen. Er ist seine Stimme, aber auch seine ausge­la­gerte soziale Seite. Die Nabel­schnur, die diesen Einzel­gänger noch mit seinen Mitmen­schen verbindet.

Im dritten und vierten Teil – »Men of God« und »The Holy Land« segelt eine Gruppe von kaum einem Dutzend Krieger in Richtung auf das nicht näher defi­nierte Land. Der Film zeigt so gesehen die Wahrheit über die Kreuz­ritter, die hier nur als Wahnsinn erscheinen kann. Die Überfahrt ist lang und schwer. Am Ende ist das heilige Land erreicht, eine ireale, fantas­ti­sche Welt. Mehr und mehr verliert sich die Reise im Nichts. Es gibt Tote, zum Wahnsinn der Religion kommt noch anderes hinzu: Mord, Totschlag, Verge­wal­ti­gung unter­ein­ander, aber auch Morde von Außen, durch die Einhei­mi­schen, die sich als Indianer entpuppen. »Hell« und »The Sarifice« heißen die letzten zwei Kapitel, die die Auflösung der Verhält­nisse, das Weltende vollenden.

Kollege Josef Schnelle sieht den Film als kultur­his­to­ri­sches Dokument. Auf der Ebene inter­es­siert er mich eher gar nicht. Aber als was? Er fühlt sich gut an, soviel ist sicher. Trotzdem kann man sich hier wahn­sinnig lang­weilen. Man kann sagen, der Mann, One Eye, hat seinen Tod gesehen und gesucht. Man kann fest­stellen, dass hier der Regisseur jede Idee von Heroismus dekon­stru­iert, und dieses Unter­fangen so weit treibt, dass es in Schlachten und Amok endet, viel­leicht zu weit treibt. Man kann den Film psycho­de­lisch nehmen, als »Apoca­lypse Now« bei den Wikingern. In jedem Fall ist dem Dänen Nicolas Winding Refn (Pusher-Trilogie) mit Valhalla Rising ein beson­derer Film gelungen, den man nicht so schnell vergißt.

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Was auch Teil von Venedig ist: Der Secu­ri­ty­wahn. Polizei sieht man hier dauernd, in 13 verschie­denen Uniformen, die alle aussehen, wie aus dem 19. Jahr­hun­dert. Es gibt hier sogar eine Guardia di Finanzia. Man stelle sich vor: Unser Finanzamt hätte eine eigene Truppe mit Kano­nen­booten und Maschi­nen­pis­tolen.

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Genau: Schmet­ter­ling und Taucher­glocke! Das war der Lourdes-Film, nachdem wir im letzten Tagebuch gefragt hatten. Am gleichen Abend hatten wir das in Venedig dann auch noch heraus­ge­funden, per google nach den Begriffen »Lourdes + Cabrio«. Die Fülle der Antworten hat uns dann gezeigt, dass man solche Aufgaben öfter stellen sollte. Wir denken nach, verspro­chen. Jeden­falls aber haben mit Tobias Lehmann und Claus Schotten ausge­rechnet zwei Münchner und ein artechock-Mitar­beiter, bzw. ein Ex-Autor die richtige Antwort gehabt. Was ja nur beweist, wieviel Kompetenz an diesem Ort versam­melt ist.