12.09.2009
66. Filmfestspiele von Venedig 2009

Die letzten Tage der Mensch­heit

Lourdes
Sylvie Testud in Lourdes
(Foto: NFP/Filmwelt)

Wunder gibt es immer wieder, die Berliner Schule trifft den Papst und Israelis fahren Geisterbahn – Notizen aus Venedig, Folge 4

Von Rüdiger Suchsland

Das Italie­ni­sche sei eine Kinder­sprache, schrieb schon Thomas Mann, und manchmal in diesen Tagen hat man den Eindruck, die Italiener seien lebens­lang Kinder.

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Während der letzten Tage kam es zu einem Mail­wechsel mit einer Redak­teurin. Nichts bösartig gemeintes, die Kollegin ist im Gegenteil sehr nett. Aber auch nicht unge­wöhn­lich, sondern im Gegensatz sehr typisch für die derzei­tigen Entwick­lungen der Medi­en­land­schaft:

»Lieber Herr Suchsland, bitte verraten Sie mir noch bei Gele­gen­heit, wann der zweite Venedig-Bericht kommt. Und versuchen Sie bitte, auch ein wenig über den roten Teppich zu plaudern. Herzliche Grüße, X«
Ich schrieb folgende Mail zurück:
»Liebe Frau X, der nächste Text kommt eigent­lich, wann Sie wollen. ... Über den Roten Teppich plaudere ich zwar im Prinzip gern, nur weiß ich nicht recht, was man da außer der Namens­liste im Kultur­teil plaudern könnte, denn die Leute vom Filmteam gehen einfach über den Teppich rüber ins Kino – und ›die‹ sind dann die, die auf der Pres­se­kon­fe­renz reden, und zuvor auf der Leinwand zu sehen sind. Darüber schreibe ich. Dass ich statt Filme zu beschreiben, Kleider beschreibe, haben Sie ja sicher nicht gemeint. Und Partys gibt es hier wenig, man kommt als Jour­na­list schon dahin, aber eben weil die Stars da nicht sind, sondern bei Inter­views, Pres­se­kon­fe­renzen oder gepflegten Abend­essen. Wenn sie auf einer Party auftau­chen, dann nur für Fotof­grafen, und gehen wieder nach fünf Minuten. Und die meisten Film-Stars sind eben das – bekannt von der Leinwand.
Über die Menschen im Star schreibe ich auch gern – etwa als Portrait auf den Hinter­grund­seiten. Da biete ich hiermit mal an: Michael Moore, Oliver Stone, Ang Lee (Jury­prä­si­dent), Fatih Akin, Isabelle Huppert, Charlotte Gains­bourg... Weitere Namen folgen gern. Beste Grüße«
Die Antwort kam schnell:
»Lieber Herr Suchsland! Habe schon verstanden – Sie sind Kino­kri­tiker und kein Gesell­schafts­re­porter. Das klas­si­sche Feuil­leton gerät aller­dings immer mehr aus der Mode, und man muss sich täglich für Rezen­sionen recht­fer­tigen. Wenn Festivals auch als Ereignis beschrieben werden, haben wir weniger Probleme. Ich persön­lich bin immer schon gerne so vorge­gangen. Aber das spielt keine Rolle. Ich will Sie zu nichts drängen, zumal die Kollegin Y bekannt­lich das Bunte auch nicht mag. Aber ich würde heute gerne etwas Kleines über Michael Moore mitnehmen, wenn Sie es mir gleich schicken könnten. Bitte um Rück­sprache, herzliche Grüße, X«
Woraufhin mir schien, dass man viel­leicht den Punkt, um den es geht, nochmal etwas genauer begründen müsse:
»Liebe Frau X, ich kenne auch die Probleme, aber gerade darum bin ich da zickig. Man muss den Kollegen bitte klar machen: Ob Schweini Ärger mit seiner Freundin hat, oder Kahn eine neue steht auch nicht im Sportteil sondern Ergeb­nisse und Spiel­ana­lysen. Und Seehofers unehe­liche Kinder oder Gutten­bergs Krawatten stehen nur in der Politik, wenn sie politisch werden, und führen nicht zur Kürzung der Kommen­tar­teile – so müssen wir in eigener Sache argu­men­tieren. Und ich persön­lich kann den Boule­vard­quatsch auch nicht. Beste Grüße RS«

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Die belieb­teste Frage von Radio­mo­de­ra­toren: »Herr Suchsland, wie ist denn die Stimmung?«

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Berliner Schule trifft den Papst. Man sieht einen großen leeren Saal mit lauter Essti­schen. Dann eine Nonne, die am ersten Tisch die Suppen­schüssel füllt, und man weiß bereits in diesen ersten Sekunden: Es wird jetzt keinen Schnitt geben, bis auch am letzten Tisch die Schüssel gefüllt sein wird. Auch das ist ein Manie­rismus, wenn auch ein sehr guter. Bilder dieser Art kennt man, sie signa­li­sieren dem Zuschauer binnen wenigen Sekunden, dass jetzt bitte­schön Konzen­tra­tion und Geduld geboten sind, dass man hier still­zu­sitzen und sich einzu­lassen habe. Kompro­misse wird es nicht geben, und wenn es nicht schmeckt, ist das eher ein Indiz, das die Medizin wirkt. Man kann Lourdes, den neuen Film der Öster­rei­cherin Jessica Hausner als ziemlich zwang­hafte protes­tan­ti­sche oder jeden­falls janse­nis­ti­sche Rein­heits­ü­bung betrachten. Man kann aller­dings auch den ganzen Film über lächelnd, schmun­zelnd, kichernd verbringen. Man kann Lourdes als ganz und gar ironi­schen Film über Religion nehmen. Aber ist der Film so gemeint? Sollte das der Fall sein, waren die Ironie­si­gnale etwas zu subtil gesetzt.
Lourdes ist ein schöner Film. Seine Schönheit ist aller­dings von der Art, die man nicht ganz ohne Grund dann streng nennt. Eine der Schau­spie­le­rinnen spricht im (exzel­lenten) Pres­se­heft vom »rigiden« Stil der Regis­seurin.

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Der Zufall mögli­cher­weise. Der Film erzählt von einer Pilger­gruppe in Lourdes. Unter den Pilgern sind Kranke wie Gesunde. Die Kranken leiden an sehr verschie­denen Krank­heiten, und werden, soweit nötig, von katho­li­schen Schwer­stern des Malte­ser­or­dens betreut. Sie hoffen auf spiri­tu­elle Stärkung, aber auch auf körper­liche Heilung. Eine von ihnen ist Christine. Durch eine unheil­bare Krankheit ist sie seit Jahren vom Hals­wirbel abseits gelähmt, an den Rollstuhl gefesselt. Der Film entdeckt Lourdes und die Menschen dort mit ihren Augen, begleitet sie auch bei ihren zaghaften sozialen Kontakt­auf­nahmen. Sie gelten zum Beispiel Maria, der Schwester, die Christine betreut. Maria ist jung, hübsch, lebens­froh. Christine beneidet sie. Maria wiederum bevorzugt die Gesell­schaft von Gleich­alt­rigen und sie vermeidet die Gegenwart der Krankheit und des Leidens um sie herum.
Auf seltsame Weise verbes­sert sich Chris­tines Gesund­heits­zu­stand. Es ist wie ein Wunder: Nach einiger Zeit ist sie kuriert, und kann wieder gehen. Ihre Heilung führt zu Bewun­de­rung, zur Festigung des Glaubens. Aber auch zu Eifer­sucht und Zweifeln. Chris­tines Krankheit bleibt in Bewegung: Die Symptome kommen und gehen.

Wunder stehen für die Dispen­sion aller Logik, Bedeutung und Vernunft. Sie sind grund­sätz­lich ungerecht. Aber sie können zur Quelle von Glück werden. Wie der Lotto­ge­winn. Viel­leicht ist die Ursache des Wunders wirklich nur: Der Zufall mögli­cher­weise. Aber die Menschen können diesen, können die Willkür, die in ihm liegt, nicht ertragen. Menschen haben offenbar Probleme damit, den Zufall als solchen zu akzep­tieren. Sie suchen also nach Sinn im Zufall, nach Bedeutung. Gerade wer viel mit dem Zufall zu tun hat, fängt an, an ihm zu zweifeln, weiß, dass man ihn planen kann. Davon handelt noch deut­li­cher auch ein anderer Film in diesem Wett­be­werb: Accident aus Hongkong, in dem Auftrags­killer ihre Morde durch waghal­sigst geplante »Zufälle« ausführen – alles sieht dann wie ein Unfall aus. Ein Komple­mentär zu Lourdes.
Weil Wunder und Zufall ungerecht sind, will man sich des Zufalls wert erweisen, Gott (dem Zufalls­ge­nerator der Religion) die Gründe für seine doch grundlose Entschei­dung nach­lie­fern.

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Der Zufall wird als Belohnung gesehen, als etwas, das man sich verdient. Durch Gebete oder gutes Benehmen. Aber das Wunder ist der Riss in der Welt.

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Wunder gibt es immer wieder. Lourdes ist ein grausames Märchen. Das Märchen­hafte muss man betonen, denn natu­ra­lis­tisch gibt sich der Film von keiner Seite aus, von der man ihn betrachten kann. Aus der einen Perspek­tive zeigt Lourdes Vertrauen in den wohl­tä­tigen und ewigen Gott des katho­li­schen Chris­ten­tums. Auf der anderen Seite zeigt der Film eine Wirk­lich­keit, in der Willkür und Zufall herrschen. Lourdes ist ein Traum und ein Alptraum. Eine grausame Geschichte. Über Unge­rech­tig­keit (des Wunders), nicht gehaltene Verspre­chungen (auf Heilung, auf Erlösung). Das Verspre­chen auf Erlösung, von dem die Religion und ihre Kirche sich nährt, ist vertagt auf das Ende aller Tage.

Das Streben nach Erlösung ist aller­dings komple­mentär zu dem nach Heilung: Es ist die Hoffnung auf ein inner­welt­li­ches Ereignis, nicht auf etwas, das (erst) im Jenseits sich ereignet. Es ist letzten Endes die Hoffnung auf Glück; es ist die Hoffnung auf ein erfülltes, komplettes und fröh­li­ches Leben, das eine Bedeutung hat, einen Sinn. Christine hofft darauf, nach einer Heilung ihre Studien wieder aufnehmen zu können, eine Familie zu haben, Klavier zu spielen. Christine will das sein, was heute viele nicht gerne wollen: Wie die anderen. In diesem Zusam­men­hang ist der Kontrast zu den sie pfle­genden Malteser-Schwes­tern besonders aufschluss­reich, das unaus­ge­spro­chene, wohl auch mitunter unein­ge­stan­dene Paradox, dass die Schwes­tern auf alles das frei­willig verzichten, was die von ihnen betreuten Kranken so inständig ersehnen.

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Die Mechanik des Wunders. Manchmal sehen alle in diesem Film wie Puppen aus. Und bewegen sich auch so. Lourdes ist eine Parabel. Hausner erzählt nicht von Indi­vi­duen, sondern von Proto­typen des sozialen Systems Religion. Sie zeigt Lourdes als furcht­baren Super­markt der Religion, sie zeigt die Ausbeu­tung der Gläubigen. Sie, gerade die Kranken unter ihnen, sind wie Süchtige. Wenn das so ist, und die Kirche ein Drogen­dealer, dann ist Lourdes eine Opium­hölle. Das Schwer­ge­wicht dieses Films liegt auf dem Formalen, auf der Choreo­gra­phie des Gesell­schaft­li­chen. Alles ist so präzis, wie rigo­ris­tisch ausge­klü­gelt. Alles hat seine richtige Into­na­tion, seine ange­mes­sene Geste und am Schluss entsteht so der Eindruck einer riesigen Maschine. Wie ein Tanz. Aber von kleinen Automaten. Mini­ma­lismus trifft Musi­ka­lität. Und die Gesamt-Atmo­sphäre ist wohl gerade dadurch dann plötzlich märchen­haft.

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»Die Frage nach dem Sinn des Lebens steht im Zentrum meines Films.« sagt Jessica Hausner im Pres­se­heft. Das haben wir so nicht gesehen. Uns schien es in Lourdes eher um die Ambi­va­lenz und Absur­dität von Religion zu gehen. Lourdes ist ein schön photo­gra­phierter Film, aber geprägt von einer sonder­baren Ästhetik des Ungreif­baren, einen cleanen Gesamt­ein­druck. Lourdes ist ein guter Film, aber Hausners schwächster. Warum? Wegen der Sprache. Warum drehte Hausner in Lourdes, nicht in Öster­reich oder wenigs­tens Altötting? Sie begründet den Dreh in Lourdes mit dem Willen zu noch stärkerer Distanz und jung­fräu­li­chem Blick. Aber der Preis ist hoch. Er liegt in Steri­lität. Oder ist der Film dann doch ironi­scher, als man wahrhaben will, und der Eindruck des Sterilen nur ein subtiler Verweis auf die unbe­fleckte Empfängnis?

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Nach der Vorstel­lung, später in der Bar Maleti, Räsel­raten über jenen anderen Film, in dem auch eine Szene in Lourdes spielt. Welcher war das nochmal? Wir alle erin­nerten uns: Da gibt es eine Szene ein Auto, ein Sport­wagen mit dem einer unter anderem nach Lourdes kommt. Irgend­wann gibt es Sex im Hotel­zimmer, während die von innen beleuch­tete Jungfrau zugeguckt hat. Man sieht den ganzen Tand dieses Reli­gi­ons­su­per­marktes. Welcher Film war das nur? Wer war nochmasl der Mann? Keine Ahnung. Und die Frau? Könnte Charlotte Gains­bourg gewesen sein. Aber in einem deutschen Film? War kein deutscher Film wird man sich einig. Oder doch? Viel­leicht ein älterer Film, viel­leicht Beruf: Reporter. Nein, Quatsch. Viel­leicht was von Desplechin? Nein, auch nicht. Aber jeder erinnert sich an die Bilder. Also: Wers weiß, der bekommt vom Verfasser einen ausge­geben. Auflösung demnächst hier.

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Zahme Erdbeeren. Pippi Langs­trumpf auf Acid, das kommt dem Eindruck dieses Films noch am nächsten. Die Künst­lerin Pippi­lotta Rist hat einen Film gemacht. Der sieht aus, wie ihr sonstiges Werk, also wie der Kinder­garten, in den wir damals gern gegangen wären. Pepper­minta ist quietsch­bunt, virtuos und sehr unge­wöhn­lich, schnell geschnitten, das Wort »Popäs­thetik« darf benutzt werden. Den tollen Bildern stehen leider schrot­tige Texte gegenüber – dominiert von Schü­ler­theater-Witz und Esoterik, mit der banalen Botschaft: Seid nett zuein­ander und passt euch nicht an.

Die Titel­heldin ist eine Nonkon­for­mistin, was sympa­thisch ist. Aber der Anar­chismus, der diesen Film durch­dringt, wirkt dann doch ein bisschen arg naiv: Ein Mädchen steigt auf Brief­kästen und lacht. Dann kommt ein Unifor­mierter, und sagt: »Wenn das jeder machen würde.« Dabei rollt er mit den Augen. Das Mädchen antwortet: »Dann müsste es viel mehr Brief­kästen geben.« Haha! Ansonsten essen hier alle zu viel Erdbeeren, bekommen Jungs hier Matro­sen­an­züge angezogen, und Mädchen sammeln Mens­trua­ti­ons­blut im Kelch und trinken es dann irgend­wann. »Rot ist gut« heißt es dazu. Schon, ja. Aber nicht immer.

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Israe­li­sche Geis­ter­bahn­fahrt. Ein wunder­schönes Sonnen­blu­men­feld, im Hoch­sommer. Ziemlich lang ist diese erste Einstel­lung, in der aber auch gar nichts passiert. Man wird sie am Ende des Films wieder­sehen. Dann aber sieht man erstmal gar nichts. Das gleißende Licht des Sonnen­scheins ist tiefer Dunkel­heit gewichen. Dafür rumpelt und knattert es. Es knarzt. Dann tauchen Gesichter auf, von jungen Männern in Groß­auf­nahmen. Schnell ist klar: Es handelt sich um eine israe­li­sche Panzer­be­sat­zung, und der Film­zu­schauer sitzt mit denen im Panzer. Alles spielt am 6. Juni 1982, dem Tag an dem der israe­li­sche Feldzug in den Libanon begann. Kurz darauf wird der Panzer die Nord-Grenze über­schreiten, man hört die Gespräche der Soldaten, auch den Funk­ver­kehr.

Samuel Maoz erzählt in Lebanon, seinem israe­li­schem Wett­be­werbs­bei­trag in Venedig, den Liba­non­krieg von 1982 ganz aus der Perspek­tive einer einzigen Panzer­be­sat­zung. Man steckt in dem Stahl-Kasten drin, ist ausge­lie­fert. Alles was man sieht ist das Panzer­in­nere und der Blick durchs Ziel­fern­rohr. Das ist eine Vier­tel­stunde lang aufregend, dann aber schnell ermüdend, und, wenn man zu denken anfängt, bald ärgerlich.
Das liegt zum einen daran, dass hier wie in einer Geis­ter­bahn­fahrt die Stationen des Schre­ckens abgehakt werden. Wie Pflich­tü­bungen, aber vor allem als Grusel­ka­bi­nett: Ein Pkw mit terro­ris­ti­schen Insassen wird nicht unter Beschuss genommen, dafür dann der mit dem lieben Hühner­händler. In einem Dorf sieht man tote, versehrte, trau­ma­ti­sierte, verkrüp­pelte Männer und die Folgen der israe­li­schen Bombar­de­ments. Dann eine Frau. Erst wird ihr Mann, dann ihre Tochter getötet, als die Israelis versuchen, jene Araber, die sie als Geisel genommen haben zu töten. Schreien und Verzweif­lung genügen nicht, sie verliert auch noch ihre Kleider. Das hat mehr als einen Hauch von Exploita­tion-Kino.

Hinzu kommt: Die Panzer­be­sat­zung besteht aus lauter lieben Jungs, die viele Skrupel haben, nicht schießen können, wenn es gut wäre, nach ihrer Mami schreien und vor allem nicht schuldig werden wollen. Ist Krieg so? Viel­leicht. Gab es das? Bestimmt. Aber bestimmt nicht nur. Wären alle Soldaten so wie diese hier, wäre die israe­li­sche Armee seiner­zeit jeden­falls nie bis Beirut gekommen. Lebanon ist insofern auch eine Belei­di­gung der Fähig­keiten der Israelis, wie der Intel­li­genz seiner Zuschauer. Noch schwerer wiegt: Der Stil des Films. Auf der Sound­ebene ist die Tonspur völlig über­trieben laut. Andauern macht es Ploink und Bworrrk. Aber ein Panzer 1982 ist nicht Wolfgang Petersens Boot im Jahr 1941. Offen­kundig geht es hier nicht um Natu­ra­lismus – der aber dann wieder behauptet wird –, sondern darum, die Zuschauer zu nerven und unter Druck zu setzen, ein mani­pu­la­tives Verfahren, das vor allem belegt, dass der Regisseur seinem Stoff nicht wirklich vertraut. Die visuelle Perspek­tive ist verlogen. Denn der Zuschauer blickt immer nur durchs Ziel­fern­rohr, nie durch den Sehschlitz des Fahrers. Das sugge­riert erstens eine einheit­liche Perspek­tive, zweitens, dass alle sähen, was die Kamera zeigt.

Die moralisch-poli­ti­sche Perspek­tive des Films erscheint doppel­züngig: Einer­seits glaubt Maoz sicher aufrichtig, er sei isra­el­kri­tisch. Und will es auch sein. Ande­rer­seits sind es dann im Panzer doch alles liebe Jungs. Und die wahren Arschlöcher und Sadisten die liba­ne­si­sche Falange, Araber also, wenn auch christ­liche, die für Israel die Dreck­ar­beit machten. Das mag sogar – wie in Waltz With Bashir – den histo­ri­schen Tatsachen entspre­chen. Aber wenn man es sieht, wirkt es dann doch, wie die Soldaten unter unseren Groß­vä­tern einst von der deutschen Ostfront erzählten: »Die richtigen Schweine waren doch die Ukrainer! Das waren Sadisten.« Mag ja stimmen. Was noch nicht heißt, dass die, die ihnen den Rahmen steckten, sie bewaff­neten und einsetzten, keine Schweine waren, und sich nicht schuldig gemacht hätten. So hat Lebanon am Ende den merk­wür­digen Aspekt, dass hier die Schuld­frage ausge­blendet wird, alles in so allge­meine wie sülzige Trauma-Diskurse mündet. Insgesamt ist Lebanon also recht speku­lativ und sehr konstru­iert. Aber da Israel(selbst-)kritik auf Film­fes­ti­vals noch populärer ist als Kritik an Amerika, bekam Maoz' Film viel Applaus und dürfte am Samstag durchaus Chancen auf einen Löwen haben.

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Dass ein Politiker sogar George Clooney in den Schatten stellt, passiert selten, erst recht bei den Film­fest­spielen von Venedig. Nicht etwa von Italiens Recht­po­pu­listen Silvio Berlus­coni und jungen Mädchen ist die Rede, sondern von Vene­zuelas Staats­chef Hugo Chavez. Der ließ es sich nicht nehmen, persön­lich auf dem Roten Teppich am Lido zu erscheinen, und ihm gelang das Kunst­stück, tatsäch­lich sogar Holly­woods Charme­bolzen Nr. 1, George Clooney kurz­fristig die Schau zu stehlen. Viel­leicht liegt es daran, dass Clooney ein Stammgast in Venedig ist, und viele Vene­zianer Damen schon ein persön­lich geschos­senes Photo von ihm im Wohn­zimmer haben, viel­leicht liegt es daran, dass Macht noch sexier ist, als Schönheit – jeden­falls war Chavez, nicht Clooney am nächsten Morgen auf allen Titel­seiten.

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Chavez kam zur Premiere von Oliver Stones South of the Border, einer Doku­men­ta­tion, die provo­ka­tiver und auch poli­ti­scher ist, als Michael Moores Capi­ta­lism: A Love Story, aber nicht weniger unter­haltsam: Stone, der derzeit an einer Fort­set­zung seines bekannten 80er-Jahre Wirt­schafts­dramas Wall Street arbeitet, hat darin die Neue Linke Latein­ame­rikas porträ­tiert.

Zuvor erinnert er an über hundert Jahre poli­ti­scher Impe­ria­lismus der USA, an die »trium­pha­lis­ti­sche Arroganz der USA« nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, und an die unsäg­liche Rolle des IWF. Dem habe Latein­ame­rika in den letzten Jahr­zehnten als Labor­ratte für seine ökono­mi­schen Expe­ri­mente gedient, schließt Moore – ein tref­fendes Bild. Zugleich erklärt Stone damit den Aufstieg der Linken Latein­ame­rikas direkt als Reaktion auf US-Politik. Das stimmt, ist aber etwas zu einfach, weil es die Rolle der Macht-Eliten in den jewei­ligen Ländern ignoriert.
Im Zentrum des Films steht Chavez, auch weil er 2002 immerhin einen von der Bush-Regierung unter­s­tützten Putsch­ver­such überstand, den Stone ausführ­lich doku­men­tiert.

Der Film ist in erster Linie ein Stück poli­ti­sche Pädagogik: Ein poli­ti­sches Prose­minar, das sich in erster Linie ans US-ameri­ka­ni­sche Volk richtet, und das von Latein­ame­rika und von der Macht der Medien handelt. Zu Latein­ame­rika ist die Botschaft vor allem die, dass Hugo Chavez und andere Staats­ober­häupter latein­ame­ri­ka­ni­scher Länder keine Monster sind, sondern demo­kra­tisch gewählt und Reprä­sen­tanten ihrer Länder. Aller­dings macht es auch Stone sich oft leichter, als nötig wäre. Zu viele Fakten werden ignoriert, und so hat der Film zwar den Effekt, dass man sich als Zuschauer für Chavez inter­es­siert, und ihn sympa­thisch findet, aber nicht den, dass hier irgend­welche Einwände widerlegt würden.

Rele­vanter sind womöglich Stones Kommen­tare zu den Medien, seine Zusam­men­stel­lung ebenso einsei­tiger wie dummer wie bösar­tiger und ideo­lo­gi­scher Kommen­tare von FOX und CNN: »Nach unseren Erfah­rungen im Irakkrieg müssen wir die Rolle unserer Medien infrage stellen. Sie dämo­ni­sieren fremde Politiker als unsere Feinde. Das hat brutale Konse­quenzen. Die Geschichte setzt sich fort.«

Wie Michael Moore ist auch Oliver Stone eitel, aber er ist es nicht versteckt, sondern offen. Poli­ti­scher an seinem Film, ist, dass Stone poli­ti­sche Fragen stellt, und sich mit Poli­ti­kern befasst, während Moore vor allem Durch­schnitts­bürger umarmt oder zum Weinen bringt, und sich darin dann auch nicht weiter von CSU-Politiker unter­scheidet. Stones Fazit: Die Verän­de­rungen in Latein­ame­rika werden auch die USA verändern.

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Steven Soder­berghs The Informant war sozusagen das Spiel­film­pen­dant zu Moores Film: Innen­an­sichten aus der US-Business-Welt. Der Film ist eine witzige Komödie über Menschen mit feinen Anzügen, großen Wagen und kleinen Gedanken. Auf wahre Ereig­nisse zurück­ge­hend spielt Matt Damon einen Mann, der in den 90er Jahren einer­seits das FBI über unsaubere Machen­schaften seiner Firma infor­mierte – dabei aber selbst nicht sauber blieb und so irgend­wann zwischen allen Stühlen saß. Finanz­welt als absurde mensch­liche Komödie und eine sehr unter­halt­same Hoch­stap­ler­ge­schichte.

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Unglaub­lich, wie viele Idioten es gibt unter den Kritikern. Die rausgehen bei Todd Solondz, die gar nicht erst reingehen beim Ägypter. In Venedig fällt das mehr auf, als sonst. Denn in Cannes kommen diese Leute gar nicht rein ins Festival, in Berlin gehen sie in der Masse unter.